Wie jedes Jahr wage ich auch 2017 wenige Tage vor der
OSCAR-Verleihung, die in der Nacht von Sonntag auf Montag in Los Angeles
stattfinden wird (und in Deutschland wieder live von Pro 7 übertragen wird),
eine ausführliche OSCAR-Vorschau samt Analyse und Prognose sämtlicher
Kategorien. Als Basis für meine Einschätzung der Favoritenlage dienen dabei vor
allem die bisherigen Preisverleihungen seit Ende November 2016 und
amerikanische OSCAR-Blogs wie Gurus o´ Gold, Goldderby.com
und Indiewire. 2016 habe ich (wegen der Kurzfilm-Kategorien, in denen ich kollektiv
falsch lag) ordentliche 16 von 24 Kategorien korrekt getippt, in den Jahren
davor 15 und 18; ich tippe also nicht einfach nur so ins Blaue ...
Bester
Film:
- Arrival
- Fences
- Hacksaw
Ridge
- Lion
- Moonlight
Davon habe ich gesehen und kann daher selbst beurteilen:
Alle außer "Lion" (startet erst am Donnerstag), "Hacksaw Ridge" (verpaßt, da hierzulande gefloppt und
schnell wieder aus den Kinos)
und "Moonlight" (startet Anfang März). Die Kritik zu
"Fences" werde ich wahrscheinlich erst nächste Woche posten können.
Favoriten: "La La Land" klar vor
"Moonlight". Damien Chazelles Musical hat eine Rekordzahl an
Nominierungen erreicht (14) und die meisten der wichtigen Preisverleihungen in
der Awards Season für sich entschieden. Es gibt aber zwei kleine
Fragezeichen: Erstens trat "Moonlight" bei den Golden Globes in der
Drama-Sparte an, die es ebenso gewann wie "La La Land" die
Musical/Komödie-Sparte; es gab also kein wegweisendes direktes
Aufeinandertreffen. Zweitens gab es von der
Schauspielergilde (von deren Mitgliedern viele ebenfalls in der Academy sitzen)
nicht einmal eine Nominierung als "Bestes Ensemble", deren
"Bester Film"-Äquivalent; da sich in "La La Land" fast alles auf die beiden Protagonisten konzentriert, ist das aber wohl nicht allzu
aussagekräftig. Was allerdings dem Coming of Age-Drama und Kritikerliebling
"Moonlight" zu Gute kommen könnte, ist die momentane politische
Atmosphäre in der Ära Trump - es wäre etlichen Academy-Mitgliedern durchaus
zuzutrauen, daß sie schon alleine deshalb einen Film über einen homosexuellen
Afroamerikaner zum Gewinner küren, um Donald Trump (der in der Vergangenheit sehr
ausgiebig über OSCAR-Verleihungen getwittert hat) zu ärgern ... Geringe
Außenseiterchancen haben zudem das Mathematikerinnen-Biopic "Hidden
Figures" - befördert speziell durch den unerwarteten Ensemble-Sieg gegen "Moonlight" bei der
Schauspielergilde - und das Drama "Manchester by the Sea", das lange
sogar als ein ernsthafter Anwärter galt, im Laufe der Awards Season aber deutlich
schwächer abschnitt als vermutet. Letztlich sollte es sich aber zwischen "La La Land" und "Moonlight" entscheiden.
Gewinnen sollte: "Manchester by the Sea"
oder "La La Land".
Gewinnen wird: "La La Land".
Regie:
- Damien Chazelle, "La La Land"
- Mel
Gibson, "Hacksaw Ridge"
- Barry
Jenkins, "Moonlight"
- Kenneth
Lonergan, "Manchester by the Sea"
- Denis Villeneuve, "Arrival"
Gesehen: Alle außer "Hacksaw Ridge" und
"Moonlight".
Favoriten: Damien Chazelle vor Barry Jenkins und
Kenneth Lonergan. Chazelle hat mit seinem meisterhaft in Szene gesetzten
Musical sehr gute Chancen, als jüngster "Bester Regisseur" in die
OSCAR-Geschichte einzugehen: Mit 32 würde er den bisherigen Rekordhalter
Norman Taurog ("Skippy", 1931) um etwa ein halbes Jahr unterbieten.
Andererseits würde Barry Jenkins erster afroamerikanischer Gewinner dieser
Kategorie, was für die Academy gerade angesichts der letztjährigen "OSCARs So White"-Debatte durchaus ein Anreiz sein könnte. Und sollte
"Manchester by the Sea" bei den Academy Awards besser abschneiden als
erwartet, könnte gar der weithin respektierte Independent-Veteran Lonergan
überraschen. Gibson und Villeneuve sollten dagegen chancenlos sein.
Gewinnen sollte: Damien Chazelle.
Gewinnen wird: Damien Chazelle für "La La
Land".
Hauptdarsteller:
- Casey
Affleck, "Manchester by the Sea"
- Andrew
Garfield, "Hacksaw Ridge"
- Ryan
Gosling, "La La Land"
- Viggo
Mortensen, "Captain Fantastic"
- Denzel
Washington, "Fences"
Gesehen: Alle außer Garfield und Mortensen.
Favoriten: Casey Affleck und Denzel
Washington. Eigentlich galt es seit Monaten als sicher, daß Affleck
gewinnen würde - er konnte so ziemlich jeden relevanten Darstellerpreis für sich
entscheiden, außerdem ist er sowieso überfällig. Dann gewann Washington beinahe
wie aus dem Nichts die Auszeichnung der Schauspielergewerkschaft (den SAG
Award) - und da seit 2004 jeder SAG-Gewinner in dieser Kategorie dann auch den
entsprechenden OSCAR gewann, ist das Rennen nun nicht nur vollkommen offen,
Washington ist plötzlich sogar leichter Favorit! Minimale Außenseiterchancen
haben Mortensen und Gosling (falls "La La Land" im großen Stil abräumt),
nur Garfield braucht sicher keine Siegerrede vorzubereiten.
Gewinnen sollte: Casey Affleck (seine subtile
Darstellung ist schauspielerisch anspruchsvoller als Washingtons eher polternde
Rolle).
Gewinnen
wird: Casey Affleck
für "Manchester by the Sea".
Hauptdarstellerin:
- Isabelle Huppert, "Elle"
- Ruth Negga, "Loving"
- Natalie Portman, "Jackie"
- Emma Stone, "La La Land"
- Meryl
Streep, "Florence
Foster Jenkins"
Gesehen: Alle außer Huppert und Negga.
Favoriten: Emma Stone vor Isabelle Huppert und
Natalie Portman. Eine sehr stark besetzte Kategorie, in der mit Amy Adams
("Arrival" und "Nocturnal Animals") sogar noch mindestens
eine weitere absolut preiswürdige Darstellerin fehlt. Portman galt zu Beginn
der Awards Season für ihre einfühlsame Interpretation der Jackie Kennedy als
Favoritin, schnitt in der Folge aber schlechter ab als erwartet. Dafür konnte Huppert
für ihre Rolle als starke und selbstbestimmte Frau, die trotz einer Vergewaltigung
definitiv kein Opfer sein will, etliche Preise abstauben und sich so
überraschend zur größten Konkurrenz der neuen Favoritin Emma Stone
aufschwingen. Die bleibt aber nach Siegen bei Golden Globes und SAG Awards die
Frau, die es zu schlagen gilt.
Gewinnen sollte: Natalie Portman.
Gewinnen wird: Emma Stone für "La La Land".
Nebendarsteller:
-
Mahershala Ali, "Moonlight"
- Jeff
Bridges, "Hell or High Water"
- Dev
Patel, "Lion"
- Lucas
Hedges, "Manchester by the Sea"
- Michael Shannon, "Nocturnal Animals"
Gesehen: Alle außer Ali und Patel.
Favoriten: Mahershala Ali klar vor Jeff Bridges und Dev Patel.
Ali ist hoch favorisiert und hat die meisten Preisverleihungen der Saison für
sich entschieden. Nur Bridges (der sich bei einigen Kritikerpreisen durchsetzen
konnte), und Patel, der zuletzt bei den britischen BAFTAs gewann (aber selbst
Brite ist und deshalb wohl einen gewissen Vorteil hatte), könnten ihm
vielleicht gefährlich werden. Das ist aber unwahrscheinlich.
Gewinnen sollte: Die drei, die ich gesehen habe, befinden sich
auf einem Niveau, Ali und Patel sind vermutlich nicht schlechter. Daher erlaube ich
mir ausnahmsweise kein Urteil.
Gewinnen wird: Mahershala Ali für
"Moonlight".
Nebendarstellerin:
- Viola
Davis, "Fences"
- Naomie
Harris, "Moonlight"
- Nicole
Kidman, "Lion"
- Octavia
Spencer, "Hidden Figures"
- Michelle
Williams, "Manchester by the Sea"
Gesehen: Alle außer Harris und Kidman.
Favoriten: Viola Davis klar vor Naomie Harris und
Michelle Williams. Ähnliche Situation wie bei den Nebendarstellern: Davis, die
in "Fences" für mich sogar Denzel Washington übertrifft, hat
die meisten Auszeichnungen in der bisherigen Awards Season gewonnen, ihre
Konkurrentinnen konnten nie durch eine längere Erfolgssträhne bei den großen
Preisen auf sich aufmerksam machen. Williams' Rolle ist zudem wohl zu
klein, sie hat eigentlich nur eine bedeutende Szene in "Manchester by the
Sea" (die ist dafür aber grandios gespielt!).
Gewinnen sollte: Viola Davis.
Gewinnen wird: Viola Davis für "Fences".
Nicht-englischsprachiger Film:
- "Unter dem Sand", Dänemark
(deutsche Koproduktion)
- "Ein Mann namens Ove", Schweden
- "The Salesman (Forushande)", Iran
- "Tanna - Eine verbotene Liebe", Australien
- "Toni Erdmann",
Deutschland
Gesehen: "Unter dem Sand" und "Toni
Erdmann".
Favoriten: "Toni Erdmann" und "The
Salesman". Der deutsche Beitrag "Toni Erdmann" ist ein riesiger Kritikerliebling, mußte sich in der Awards Season allerdings doch überraschend
häufig geschlagen geben. Zwar sind einige der Mitfavoriten hier gar nicht dabei
("Elle" scheiterte in der Vorauswahl, "Die Taschendiebin"
wurde von Südkorea nicht eingereicht), mit "The Salesman" ist ein
ganz großer Konkurrent aber übriggeblieben. Durch Trumps "travel ban", der
auch den Iran und damit Regisseur Asghar Farhadi betroffen hätte (der deshalb
demonstrativ auf seinen Besuch verzichtet), dürften sich die Chancen von "The Salesman" weiter verbessert haben, einzelne Academy-Mitglieder haben sogar (unfairerweise) ausdrücklich zu Anti-Trump-Stimmen für "The
Salesman" aufgerufen. Unabhängig davon glaube ich, daß es "Toni
Erdmann" sowieso ähnlich ergangen wäre wie in Cannes, wo auf einen neuen
Rekord in der Kritikerbewertung die totale Ignoranz durch die Wettbewerbs-Jury
folgte ... Erster Anwärter auf eine Überraschung wäre derweil "Ein
Mann namens Ove", der mit seinem schrulligen Charme auch in den USA viele
Anhänger gefunden hat.
Gewinnen sollte: Von den beiden Filmen, die ich gesehen
habe: Ganz klar "Toni Erdmann".
Gewinnen wird: "The Salesman (Forushande)"
aus dem Iran.
Animationsfilm:
- Vaiana
- Mein Leben als Zucchini
- Die rote Schildkröte
- Zoomania
Gesehen: "Kubo" und "Zoomania".
Favoriten: "Zoomania" vor "Kubo".
Disneys wunderbarer "Zoomania" ist hoher Favorit und hat die meisten
bisherigen Preise gewonnen. Allerdings hat das Stop Motion-Wunderwerk
"Kubo" für viel Aufsehen gesorgt, konnte ebenfalls einige
Auszeichnungen für sich entscheiden und hat anders als "Zoomania"
sogar noch eine zweite OSCAR-Nominierung (für die visuellen Effekte)
vorzuweisen. Eine Überraschung ist deshalb nicht ausgeschlossen, aber letztlich
sollte sich "Zoomania" auch dank seines engagierten Einsatzes für
Toleranz und friedliches Miteinander durchsetzen. Und zwar verdient (er ist
immerhin mein Lieblingsfilm des Jahres 2016).
Gewinnen sollte: "Zoomania".
Gewinnen wird: "Zoomania".
Dokumentarfilm:
- I Am Not
Your Negro
- Life,
Animated
- O.J.:
Made in America
- Seefeuer
- 13th
Gesehen: Keinen.
Favoriten: "O.J." vor "13th" und
"I Am Not Your Negro". Gesellschaftskritik dominiert und
natürlich kann auch und vielleicht sogar gerade hier die Anti-Trump-Stimmung in
Hollywood eine große Rolle spielen. Das würde beispielsweise für den italienischen
"Seefeuer" sprechen (Berlinale-Gewinner 2016), der sich mit der
Flüchtlingsthematik befaßt. Noch besser sind aber die Rassismus-Dokus "13th" (von
"Selma"-Regisseurin Ava DuVernay) und "I Am Not Your Negro" im Rennen. Letztlich dürften aber alle keine Chance haben gegen
die Doku über O.J. Simpson, die von den Kritikern fast ausnahmslos als bahnbrechend
eingestuft wird und mit ihrer Laufzeit von siebeneinhalb Stunden (!) einen
vermutlich lange haltenden neuen Rekord für den längsten OSCAR-Gewinner
aller Zeiten aufstellen dürfte (und die immerhin siebenstündige russische "Krieg
und Frieden"-Adaption ablösen würde, die 1969 den Academy Award für den
besten nicht-englischsprachigen Film gewann).
Gewinnen wird: "O.J.: Made in America".
Originaldrehbuch:
- Taylor
Sheridan, "Hell or High Water"
- Damien Chazelle, "La La Land"
- Kenneth
Lonergan, "Manchester by the Sea"
- Yorgos
Lanthimos und Efthymis Filippou, "The Lobster"
- Mike
Mills, "20th Century Women"
Gesehen: Alle außer "The Lobster" und "20th
Century Women".
Favoriten: "Manchester by the Sea" und
"La La Land". Diese Kategorie kann man gut als Wegweister
während der OSCAR-Verleihung betrachten, in der beide Drehbuch-Preise meist
relativ früh verliehen werden. Sollte "La La Land" gewinnen, dann
dürfte ihm auch der "Bester Film"-OSCAR nicht zu nehmen sein. Gewinnt
dagegen "Manchester by the Sea", woran die Mehrzahl der Experten
glaubt, dann kann "Moonlight" (bei einem gleichzeitigen Gewinn bei
den adaptierten Drehbüchern) sich größere Hoffnungen machen. Eine kleine
Außenseiterchance in dieser Kategorie (die für Überraschungen historisch
gesehen durchaus anfällig ist) hat "The Lobster" als mit Abstand
originellstes Drehbuch des Quintetts.
Gewinnen sollte: "Manchester by the Sea".
Gewinnen wird: Damien Chazelle für "La La
Land" (der Tip unter den Hauptkategorien, bei dem ich mir am unsichersten bin).
Adaptiertes Drehbuch:
- Eric Heisserer und Ted Chiang, "Arrival"
- August
Wilson, "Fences"
- Allison
Schroeder, Theodore Melfi und Margot Lee Shetterly, "Hidden Figures"
- Luke
Davies, "Lion"
- Barry
Jenkins, "Moonlight"
Gesehen: Alle außer "Lion".
Favorit: "Moonlight". Eigentlich dürfte
kein Weg an dem Coming of Age-Drama vorbeiführen, auch wenn es in
den Drehbuch-Kategorien gerne unerwartete Sieger gibt. Die besten Chancen
darauf dürfte "Arrival" haben, das erst vor wenigen Tagen den Preis
der Autorengilde gewann - dort wurde "Moonlight" aber als
Originaldrehbuch geführt ...
Gewinnen sollte: "Arrival".
Gewinnen wird: Barry Jenkins für
"Moonlight".
Damit sind wir mit den Hauptkategorien durch, Teil 2 meiner
großen OSCAR-Vorschau mit den (überwiegend technischen) Nebenkategorien folgt
spätestens morgen.
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