Regie: Ang Lee, Drehbuch: David Magee, Musik: Mychael Danna
Darsteller: Suraj Sharma, Irrfan Khan, Rafe Spall, Adil
Hussain, Tabu, Shravanthi Sainath, Elie Alouf, Gérard Depardieu
Ein kanadischer Schriftsteller (Rafe Spall,
"Anonymus", "Prometheus") arbeitet in Indien an einem neuen Roman, doch kommt er
nicht recht voran und gibt nach zwei Jahren schließlich auf. Als er
frustriert in einer Bar sitzt, verwickelt ihn ein älterer Inder ins Gespräch,
der dem Autor ob seiner Schreibblockade rät, den inzwischen in Kanada wohnenden
Sohn seines besten Freundes aufzusuchen. Dieser könne ihm eine unglaubliche
Geschichte erzählen, die ihn bestimmt zu einem Buch inspirieren würde.
Der Autor folgt dem Rat und trifft sich mit Pi Patel (Irrfan Khan,
"Slumdog Millionär", "The Amazing Spider-Man"), der ihm
bereitwillig aus seinem Leben erzählt. Die prägendste Eigenschaft Pis ist seine
ungezähmte Neugier, die unter anderem dazu führt, daß er bereits als Kind
Hindu, Christ UND Moslem wird. Seinem Vater, einem Zoodirektor, der streng auf
Vernunft und Wissenschaft vertraut, gefällt das zwar nicht sonderlich, doch Pi
läßt sich nicht davon abbringen. Als der inzwischen 16-jährige Pi (Suraj
Sharma) gerade die erste Liebe erlebt, beschließt sein Vater, nach Kanada zu
emigrieren, wo er sich ein besseres Leben für seine Familie erhofft. Doch der
Frachter, auf dem die Überfahrt samt aller Zootiere (die sich in der neuen
Heimat viel teurer verkaufen lassen als in Indien) vonstattengeht, kentert
eines Nachts in einem gewaltigen Sturm und Pi findet sich in einem Rettungsboot
wieder. Seine einzigen Gefährten: Ein verletztes Zebra, ein Orang-Utan, eine
Hyäne – und ein hungriger bengalischer Tiger namens Richard Parker ...
Kritik:
Zu der beeindruckenden Zahl von Büchern, die
mit dem Prädikat "unverfilmbar" versehen wurden, zählte auch der im Jahr 2001
erschienene Roman "Schiffbruch mit Tiger" des kanadischen Schriftstellers
Yann Martel. Häufig bezieht sich die Skepsis gegenüber einer Filmadaption auf die
technischen Möglichkeiten, mindestens genauso oft aber auch auf den Inhalt oder
die Form. Während sich erstgenanntes Problem über kurz oder lang selbst
erledigt (bestes Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit: "Der Herr der
Ringe"), sind inhaltliche Beschränkungen nur schwer zu überwinden.
Versucht man es dennoch, kann das gut funktionieren ("Cloud Atlas")
oder auch nicht so gut (z.B. "Ulysses"). Bei "Life of Pi"
kamen technische und inhaltliche Probleme zusammen, die eine Kinoadaption erschweren sollten. Einen Film zu drehen, der sich lange Zeit darum dreht, wie
ein Mensch und ein Tiger in einem Rettungsboot ums Überleben kämpfen, ist mit
einem echten Tier schließlich kaum möglich. Man müßte so extensiv zu technischen Tricks und
Montagen greifen, daß es unweigerlich der Glaubwürdigkeit des Films schaden
würde. Mittlerweile ist die Technik aber soweit, daß man für den Großteil der
Szenen einen computergenerierten Tiger einsetzen konnte, ohne daß dies dem
Publikum auffällt. Schwieriger umsetzen ließ sich dagegen die inhaltliche Dimension der
vielschichtigen und zahlreiche Interpretationen ermöglichenden Vorlage, die
sich unter anderem mit Religion und Philosphie beschäftigt. Der
taiwanesische Regisseur Ang Lee ("Tiger & Dragon", "Der Eissturm"), der für "Life of Pi" nach "Brokeback Mountain" bereits seinen zweiten Regie-OSCAR gewann (kurioserweise jeweils ohne korrespondieren "Best Picture"-Sieg),
und Drehbuch-Autor David Magee ("Wenn Träume fliegen lernen") haben dennoch versucht, die Geschichte mehr oder weniger auf
ihren Kern zu reduzieren und sie dafür bildgewaltig in Szene zu setzen – mit
beachtlichem Erfolg.
Streng genommen geschieht gar nicht so viel in "Life of
Pi". Die Vorgeschichte um Pis Kindheit und den Aufbruch aus Indien bringt
den sympathischen Protagonisten dem Zuschauer näher und führt vor allem dessen
Religiosität ein, die eine recht gewichtige Rolle in der Handlung einnimmt.
Doch sobald sich Pi und seine tierischen Gefährten wider Willen auf dem immerhin mit Proviant ausgerüsteten Rettungsboot
wiederfinden, dreht sich fast alles um das fragile Machtgefüge vor allem
zwischen dem jungen Mann und dem bengalischen Tiger, der ihn seit seiner
Kindheit fasziniert hat. Der verzweifelte Überlebenskampf erinnert an Robert
Zemeckis' "Cast Away – Verschollen" mit Tom Hanks, nur daß Pi auf See naturgemäß
noch weit weniger Handlungsoptionen hat als es auf einer menschenleeren Insel der Fall wäre.
Zumal seine Bewegungsfreiheit durch den Tiger noch weiter eingeschränkt wird.
Pi muß schließlich nicht nur für sich Nahrung und Trinkwasser besorgen, sondern
auch für "Richard Parker", damit dieser nicht einfach ihn frißt. Gerade im Vergleich zu "Cast Away" gelingt es Lee allerdings trotz aller Bildgewalt nicht so richtig, die Länge von Pis mehrmonatiger Odyssee spürbar werden zu lassen.
Die Widrigkeiten, denen sich die ungewöhnliche Schicksalsgemeinschaft ausgesetzt sieht, bebildert Ang Lee ausführlich, er
läßt den Zuschauer regelrecht mit Pi – aber auch mit den Tieren – mitleiden. Dabei begeistert
er jedoch ebenfalls immer wieder mit wunderschönen, teilweise an Ölgemälde erinnernden
3D-Bildkompositionen, mit denen sich der chilenische Kameramann Claudio
Miranda seinen OSCAR (einen von vier des Films) verdient hat.
Dennoch bleibt es dabei, daß im großen Mittelteil von "Life of Pi"
wenig geschieht. Pis Versuche, sich irgendwie mit dem gefährlichen Tiger zu
arrangieren, halten zwar die Spannung hoch, doch seine Gespräche mit und Reflexionen über Gott sind eindeutig Geschmackssache. Wenn man
wie ich wenig mit Religion anfangen kann, dann wirken die entsprechenden Szenen
auf Dauer doch etwas ermüdend, langweilig gar – obwohl es zugebebenermaßen
absolut nachvollziehbar ist, daß ein gläubiger Mensch in Pis ausweglos
erscheinender Lage sich seinem Glauben zuwendet. Doch Realitätsnähe ist nun
einmal nicht immer gleichbedeutend mit einer guten Geschichte, und in meinen
Augen sind Pis religiöse Überlegungen und Erleuchtungen vor allem etwas zu
banal geraten. Die bemerkenswert ausdrucksstarke Darstellung Pis durch den
indischen Newcomer Suraj Sharma in seinem Schauspieldebüt, in dem er bis hin zum überraschenden, sehr emotionalen Finale die meiste
Zeit über komplett auf sich allein gestellt ist (durch den CGI-Einsatz konnte er bei
den Dreharbeiten ja noch nicht einmal direkt mit dem Tiger interagieren),
kompensiert das jedoch gut. Die übrigen Schauspieler bleiben dagegen
Randfiguren, wiewohl Irrfan Khan, Rafe Spall, Gérard Depardieu (als
rassistischer Schiffskoch) und die anderen ihre Nebenrollen souverän
verkörpern.
Auf technischer Seite läßt sich dafür konstatieren, daß der
3D-Einsatz mit zum Besten gehört, was man in den letzten Jahren zu Gesicht
bekam. Die angesprochenen phantasievollen Bildkompositionen sind dafür
natürlich ebenso hilfreich wie das Hochsee-Setting, doch ist es generell
beeindruckend, wie stilsicher und effektiv Regisseur Ang Lee und sein Team die
Dreidimensionalität einsetzen und dem Gezeigten Tiefe verleihen – das erreicht
durchaus "Avatar"-Niveau. Die Musik von Mychael Danna ist gelungen,
aber recht unauffällig und bleibt meist dezent im Hintergrund. Dafür ist die
Klangkulisse umso imposanter, zumal "Life of Pi" einer der
ersten Filme ist, der – wie auch "Der Hobbit" – das neue Surround
Sound-System Dolby Atmos nutzt. Damit können die Geräusche in einem Film noch
viel genauer im Kinosaal "plaziert" werden als beim bisherigen
Standard Dolby Surround, wodurch das Geschehen auf der Leinwand gerade im
Zusammenspiel mit der 3D-Technik ungemein authentisch wirkt. In Deutschland
läßt sich Dolby Atmos bisher nur in einem Kinosaal des Nürnberger CineCitta'
erleben (gegen einen Aufpreis von einem Euro), aber angesichts der nachhaltigen Wirkung
dürfte es schon bald größere Verbreitung finden – zumindest wenn es so
raffiniert eingesetzt wird wie in "Life of Pi".
Fazit: "Life of Pi – Schiffbruch mit Tiger"
ist ein bildgewaltiger, vor allem in technischer Hinsicht beeindruckender Abenteuerfilm, der
sein Publikum auch emotional berührt und lange nachwirkt, sich phasenweise aber vielleicht etwas zu
sehr in wenig originellen religiös-philosophischen Überlegungen verliert.
Wertung: 8 Punkte.
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