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In eigener Sache: Mein neues Filmbuch

Einigen Lesern ist bestimmt aufgefallen, daß ich in der rechten Spalte meines Blogs seit längerer Zeit das Cover meines neuen Buchs präsen...

Dienstag, 2. April 2019

VICE – DER ZWEITE MANN (2018)

Regie und Drehbuch: Adam McKay, Musik: Nicholas Britell
Darsteller: Christian Bale, Amy Adams, Steve Carell, Sam Rockwell, Jesse Plemons, Tyler Perry, LisaGay Hamilton, Alison Pill, Lily Rabe, Eddie Marsan, Justin Kirk, Shea Whigham, Don McManus, Bill Camp, Stephen Adly Guirgis, Matthew Jacobs, William Goldman, Adam Bartley, John Hillner, Alex MacNicoll, Cailee Spaeny, Alfred Molina, Naomi Watts
Vice: Der zweite Mann
(2018) on IMDb Rotten Tomatoes: 66% (6,7); weltweites Einspielergebnis: $76,0 Mio.
FSK: 12, Dauer: 134 Minuten.

1963 sieht es nicht rosig aus für den 22 Jahre alten Dick Cheney (Christian Bale, "The Dark Knight"): Er fliegt achtkantig aus Yale raus, nachdem er dort nur bei Partys und Saufgelagen auffiel, kehrt daraufhin in seine Heimat ins ländliche Wyoming zurück, wo er an Stromleitungen arbeitet und weiterhin säuft und sich prügelt. Als er zum wiederholten Mal wegen Trunkenheit am Steuer festgenommen wird und lediglich durch die Beziehungen seiner Familie glimpflich davonkommt, setzt ihm seine ehrgeizige Frau Lynne (Amy Adams, "Arrival") die metaphorische Pistole auf die Brust und droht ihm mit Scheidung, wenn er sich nicht endlich zusammenreißt und etwas aus seinem Leben macht. Das funktioniert. Dick schwört dem Alkohol ab, schafft den Studienabschluß in Politikwissenschaft und ergattert 1968 ein Praktikum im Weißen Haus als Assistent des republikanischen Politikers Donald Rumsfeld (Steve Carell, "Café Society"), Wirtschaftsberater des amtierenden Präsidenten Nixon. Obwohl das nicht von Dauer ist, weil Rumsfeld später einen internen Machtkampf verliert, kann sich Dick ausreichend Beziehungen erarbeiten, um zunächst einen hochdotierten Job in der Wirtschaft zu bekommen und nach Nixons Sturz durch die Watergate-Affäre gestärkt in die Politik zurückzufinden. Letztlich wird ihn sein Weg bis zum Vizepräsidenten während der achtjährigen Amtszeit von George W. Bush (Sam Rockwell, "Ganz weit hinten") von 2001 bis 2009 führen, wo er als eigentlicher Präsident gilt …

Kritik:
Wenn es um Historienfilme (oder -serien) geht, gibt es – die dazwischenliegenden Positionen vernachlässige ich der Anschaulichkeit wegen – zwei ziemlich gegensätzliche Meinungen, die aufeinanderprallen: "Unterhaltungswert schlägt historische Genauigkeit" versus "wenn es nicht zu 100 % historisch korrekt ist, ist es Mist". Ich zähle mich eigentlich zu der ersten Fraktion, denn es gibt ja nicht grundlos die Unterscheidung zwischen Spielfilmen und Dokumentationen. Letztlich ist es aber doch eher eine "Ja, aber"-Einstellung, denn wenngleich mir die historische Korrektheit nicht sonderlich wichtig ist, sollte die Geschichte natürlich auch nicht komplett auf den Kopf gestellt werden. Dies gilt umso mehr, je näher das Gezeigte in der Vergangenheit liegt. Und damit wären wir auch schon bei dem großen Problem von "Vice – Der zweite Mann", dem satirischen Politiker-Biopic von Adam McKay, der zuvor in dem OSCAR-prämierten "The Big Short" die Ursachen der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise ab 2007 aufs Korn nahm. Dafür hatte er aber mit einem Sachbuch-Bestseller von Michael Lewis eine Vorlage von einem renommierten Experten, der sich in der Thematik bestens auskennt, weshalb der Film eine zugespitzte, aber alles in allem doch akkurate Zusammenfassung der realen Geschehnisse und Zusammenhänge bot. Für "Vice" konnte sich Adam McKay nicht auf eine solche Basis verlassen, er verfaßte das Drehbuch auf eigene Faust. Das ist mutmaßlich der Grund dafür, daß der Film zwar unterhaltsam und auf den ersten Blick ungemein erkenntnisreich geraten ist, einer genaueren Betrachtung der Realität jedoch in zu vielen Punkten nicht standhält. So kurios es klingt: Die Schilderung des Machtmenschen Cheney in "Vice" ergibt genau deshalb auch hinsichtlich der Zusammenhänge mit dem heutigen Politklima in den USA so viel Sinn, weil sie in etlichen Aspekten frei erfunden oder zumindest extrem wagemutig spekuliert ist. Und obwohl "Vice" das relativ offen gleich zu Beginn einräumt (mit Verweis auf die fast schon legendäre Verschlossenheit des wahren Dick Cheney, die freie Interpretationen der Filmemacher geradezu erzwingt), macht es eine qualitative Einordnung des Films ungewöhnlich schwierig.

Wenn man sich "Vice" nämlich in dem Glauben anschaut, das Gezeigte würde wenigstens im Wesentlichen der Realität entsprichen, dann wirkt alles so wunderbar logisch, wie es das in der Realität wohl leider nur selten der Fall ist. McKay schlägt ausgesprochen kunstvoll den Bogen von Cheneys Wirken in der Vergangenheit zum aktuellen Trumpismus und der unversöhnlichen Zerrissenheit einer ganzen Nation: So macht er Cheney zum indirekten Wegbereiter von Fox News, offenbart die Heuchelei der republikanischen "Aber ihre E-Mails!"-Empörung bezüglich Hillary Clinton und zeigt auf, wie aus einer recht vorwärtsgewandten republikanischen Partei, die noch in den 1980er Jahren (unter George Bush Sr.) den Klimawandel zum Wahlkampfthema erhob (!), eine Partei der Fakten- und Wissenschaftsleugner wurde – er impliziert gar Cheneys Einfluß auf das folgenreiche Wirken der Supreme Court-Ikone der Konservativen, Antonin Scalia (z.B. bei der Florida-Entscheidung bei der Wahl zwischen Al Gore und George W. Bush). Es wird also eine ziemlich gerade Linie zwischen Dick Cheney und der Trump-Ära gezogen, die wunderbar Sinn ergibt. Das Problem: Nach meiner (zugegeben nicht erschöpfenden) Recherche stimmt wohl nur etwa die Hälfte davon. Ja, bei Cheney und Bush Jr. sind schon lange vor Hillary Clinton auf wundersame Weise Millionen von E-Mails verschwunden. Aber nein, Cheney hatte höchstwahrscheinlich nichts damit zu tun, daß Propaganda-Sender wie Fox News ermöglicht wurden (dafür war er in den 1980ern in der Parteihierarchie noch nicht hoch genug geklettert). Ja, Cheney war daran beteiligt, die Stimmung in Politik und Gesellschaft durch verschärfende ("Todessteuer" statt "Erbschaftssteuer") oder polemische Begriffe (Klimawissenschaft als "bad science") zu vergiften. Aber nein, er hat Antonin Scalia so gut wie sicher nicht schon so früh kennengelernt wie im Film und so weit es sich beurteilen läßt, hat der Oberste Richter sich nicht von Cheney beeinflussen lassen. Es ist also McKays leicht trotzige, in der Tonalität ein wenig an Michael Moores polemische, betont einseitige (faktisch aber vermutlich korrektere) Mehr-oder-weniger-Dokus erinnernde "Es KÖNNTE aber so gewesen sein!"-Attitüde mehr als deutlich erkennbar, was der Glaubwürdigkeit seines Films naturgemäß nicht nutzt.

Abseits der Glaubwürdigkeitsproblematik – die, wie erwähnt, jeder Zuschauer unterschiedlich schwer gewichten dürfte – ist "Vice" aber natürlich sehr kompetent gemacht. McKay hat sich bei seinem Drehbuch offensichtlich an seinem "The Big Short" orientiert und versucht, dessen Erfolgsrezept von der Wirtschaft auf die Politik zu übertragen. Größtes Erkennungszeichen von "The Big Short" waren ja die innovativen Spielereien, mit denen er die trockene Thematik auch damit weniger vertrauten Zuschauern schmackhaft machte (wer erinnert sich nicht an Margot Robbie, die im Schaumbad liegend und mit einem Champagnerglas in der Hand Fachbegriffe erklärt?); davon gibt es auch in "Vice" einige und sie funktionieren ähnlich gut. Ob es mitten im Film ein Fake-Happy End gibt oder sich das Ehepaar Dick und Lynne in Versen wie aus einer Shakespeare-Tragödie unterhält (was erstaunlich gut funktioniert!) ... das sind witzige und gut umgesetzte Ideen, die etwas Lockerheit in die Geschichte einbringen. Die ist allerdings auch dringend vonnöten, denn im Vergleich zu "The Big Short" kommt der satirische Witz letztlich deutlich kürzer – aus dem Leben eines ebenso brillanten wie skrupellosen Machtmenschen wie Dick Cheney kann man nun einmal nur in begrenztem Ausmaß Komödiantisches herausholen. Problematisch ist zudem, daß es McKay trotz einer herausragenden, u.a. mit einem Golden Globe und einer OSCAR-Nominierung belohnten Leistung von Hauptdarsteller Christian Bale – der wie sein OSCAR-Konkurrent Viggo Mortensen in "Green Book" über 20 Kilo für die Rolle zunahm und dank der grandiosen Arbeit der Makeup-Abteilung kaum noch zu erkennen ist (am Ende unterlagen beide dem Freddie Mercury-Imitator Rami Malek aus "Bohemian Rhapsody") – nicht wirklich gelingt, dem Publikum den Menschen Cheney nahezubringen. Im Gegensatz zur aufrecht konservativen Lynne ist Dick ein ultimativer Opportunist ohne echte Überzeugungen, der in jeder noch so dramatischen Situation in erster Linie eine Chance für seinen persönlichen Aufstieg sieht. Im Grunde genommen ist McKays und Bales Cheney in seiner Skrupellosigkeit und Egozentrik ein Donald Trump mit Manieren, Selbstbeherrschung und Intelligenz, jedoch ohne dessen schleimiges Gebrauchtwagenverkäufer-Charisma. Eine ideale Kombination, um Erfolg in der Politik zu haben – keine so gute für den Staat, den er (mit)lenkt …

Wie so viele Biopics leidet auch der mehr als ein halbes Jahrhundert abdeckende "Vice" unter einer gewissen, recht sprunghaften Anekdotenhaftigkeit, außerdem dringt er kaum einmal tief unter die Oberfläche seines Protagonisten ein – kein Wunder angesichts des Wenigen, was man über den echten Dick Cheney weiß, der sich von einem als verantwortungsbewußt und hochprofessionell geachteten Politiker unter George Bush Sr. in den frühen 1990er Jahren (eine Phase, die im Film kaum vorkommt) zehn Jahre später als Vizepräsident scheinbar ansatzlos und selbst für intensive Beobachter kaum zu erklärend zu einem Fanatiker entwickelte, der Foltermethoden wie Waterboarding legitimierte und die Polarisierung und Extremisierung der US-amerikanischen Gesellschaft mitleidlos vorantrieb. Trotzdem ist das ein Problem, zumal die Nebenfiguren (bis auf Lynne) fast komplett als überspitzte Karikaturen ihrer selbst gezeichnet werden, als Witzfiguren beinahe, womit gerade ein George W. Bush oder ein Donald Rumsfeld gefährlich verharmlost werden. Wobei ich gerne zugebe, daß beide innerhalb der Geschichte, die "Vice" erzählt, gut funktionieren und ihren Darstellern Sam Rockwell und Steve Carrell viel Raum zum Glänzen geben (etwa wenn der junge Cheney Rumsfeld fragt, woran sie eigentlich glauben, worauf dieser nur schallend lacht …). Während sie vergleichsweise gut wegkommen, gibt es bei Dick Cheney eigentlich nur eine Entscheidung, die ihn sympathisch erscheinen läßt – die ist privater Natur und wird am Ende von ihm doch noch verraten, womit er endgültig wie ein Teufel in Menschengestalt wirkt. Daß man ihm trotzdem, begleitet von der schwungvollen Musik von Nicholas Britell ("Moonlight"), gern zwei Stunden lang beim Planen und Manipulieren zusieht, liegt vor allem an Christian Bale, der sich einmal mehr höchst wandlungsfähig zeigt, auch aufgrund der OSCAR-prämierten Maske (der einzige Sieg bei acht Nominierungen) den Alterungsprozeß bemerkenswert glaubwürdig rüberbringt (bei Lynne gelingt das trotz einer starken Leistung von Amy Adams nicht ganz so gut, sie wirkt mit 70 nicht viel älter als mit 20) und bei aller Überhöhung als politischer Bösewicht immer noch den Menschen Dick Cheney durchscheinen läßt. "Vice" endet übrigens mit Cheneys Bemühungen, seiner Tochter Liz (Lily Rabe, TV-Serie "American Horror Story") zur Wahl zur Kongreßabgeordneten zu verhelfen – wie akkurat das auch immer dargestellt sein mag, Fakt ist: Liz Cheney sitzt im Jahr 2019 für die Republikaner im Kongreß und verbreitet bei Twitter mit Genuß abseitige Verschwörungstheorien aus der Rightwing-Filterblase, sie scheint also nach ihrem Vater zu kommen – eine filmische Dämonisierung ist da kaum nötig. Angesichts dessen klingt die berühmte "West Side Story"-Hymne "America" als Abspann-Song von "Vice" so zynisch wie vermutlich nie zuvor ... Nach dem ersten Teil des Abspanns gibt es übrigens eine amüsante, wenn auch ob der historischen Ungenauigkeiten etwas heuchlerische zusätzliche Szene.

Fazit: "Vice – Der zweite Mann" ist ein kunstvolles, zwischen Satire und (gesellschaftlicher) Tragödie schwankendes Biopic eines der global prägendsten konservativen Politiker der letzten Jahrzehnte, das ausgezeichnet gespielt ist, sich aber mit übermäßiger künstlerischer Freiheit selbst schadet.

Wertung: Wäre alles oder das meiste wahr oder wäre mir historische Korrektheit vollkommen gleichgültig, würde ich 8,5 Punkte geben. Wäre mir historische Genauigkeit am wichtigsten, dann wohl maximal 5 Punkte. Da es nunmal ein Spielfilm ist und keine Doku, entscheide ich mich für knapp 7,5 Punkte.


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