Regie: Tom Hooper, Drehbuch: William Nicholson, Alain
Boublil, Claude-Michel Schönberg und Herbert Kretzmer, Songs: Claude-Michel
Schönberg und Herbert Kretzmer
Darsteller: Hugh Jackman, Russell Crowe, Anne Hathaway,
Amanda Seyfried, Helena Bonham Carter, Samantha Barks, Sacha Baron Cohen, Eddie
Redmayne, Aaron Tveit, Isabelle Allen, Daniel Huttlestone, Colm Wilkinson,
Stephen Tate
Weil er einen halben Laib Brot für das kranke Kind seiner
Schwester gestohlen hat, muß Jean Valjean (Hugh Jackman) im Frankreich des
frühen 19. Jahrhunderts ins Gefängnis. Nach 19 langen Jahren im Arbeitslager
wird er entlassen, doch wird er bis zu seinem Lebensende auf Bewährung sein,
womit er de facto ein Ausgestoßener ist, der keine ehrliche Arbeit bekommt. Nur
durch die Güte eines mildtätigen Bischofs kann Valjean einem erneuten Abrutschen
in die Kriminalität entkommen und so baut er sich unter neuem Namen eine
gutbürgerliche Existenz auf, in der er es Jahre später sogar bis zum
Fabrikbesitzer und Bürgermeister eines Pariser Vororts bringt. Doch der
unerbittliche Inspektor Javert (Russell Crowe, "Robin Hood"), der nicht glaubt, daß sich Menschen ändern
können, kommt dem Flüchtigen durch einen Zufall wieder auf die Spur. Gemeinsam
mit der kleinen Cosette, der Tochter der nach ihrer von Valjean nicht
verhinderten Entlassung aus seiner Fabrik bettelarm verstorbenen
Fantine (Anne Hathaway, "The Dark Knight Rises"), muß Valjean erneut fliehen und von vorne anfangen ...
Kritik:
Als Tom Hoopers ("The King's Speech") Kinoadaption
des weltberühmten, auf dem Roman "Die Elenden" von Victor Hugo basierenden Musicals "Les Misérables", das in London seit 1985
mit großem Erfolg aufgeführt wird, Anfang Dezember 2012 seine Premiere feierte,
sah es so aus, als stünde der nächste OSCAR-Gewinner bereits fest. Das
Premierenpublikum reagierte enthusiastisch, sogar Tränen flossen angesichts
dieser bildgewaltigen und glänzend gespielten Umsetzung der hochemotionalen Geschichte nicht zu knapp. Ein paar
Tage später sah die Angelegenheit ganz anders aus, denn viele Kritiker zeigten
sich nicht sonderlich angetan. Teilweise lag das an grundsätzlichen Problemen
der Rezensenten mit Musicals, teilweise an der Qualität des Gesangs,
teilweise an der Inszenierung, teilweise auch an der Präsentation der anspruchsvollen Handlung. Alle Kritikpunkte
sind einigermaßen nachvollziehbar, ändern für mich als großen Fan der
Bühnenversion von "Les Misérables" (die ich in London viermal gesehen habe
und auf Video noch öfter) nichts daran, daß Hooper ein guter Film gelungen ist.
Nicht so grandios wie die Vorlage und auch etwas schwächer als erhofft, aber definitiv gut.
Da "richtige" Musicals, in denen also nur oder
(wie hier) fast nur gesungen wird, im 21. Jahrhundert nur noch selten die Kinos
erobern, ist diese Form des Geschichtenerzählens für genrefremde Zuschauer
logischerweise zunächst einmal recht gewöhnungsbedürftig. Wenn die Figuren nicht über
ihre Gefühle reden, sondern singen, wenn die – in diesem Fall sogar noch
ungewöhnlich komplexe – Handlung komplett durch Lieder vorangetrieben wird,
dann entspricht das eben überhaupt nicht dem, was der durchschnittliche
Kinozuschauer dieser Zeit gewöhnt ist. Zudem ist es naturgemäß schwieriger,
eine solch abwechslungsreiche und vielschichtige Handlung dem Zuschauer in
Liedform näherzubringen als mit geschliffenen Dialogen. Denn, keine Frage,
"Les Misérables" fordert sein Publikum. Und das nicht nur mit der
obligatorischen Liebesgeschichte (sowohl in der erfüllten als auch der unerfüllten Variante), sondern auch mit Themen wie Prostitution,
sozialer Ungerechtigkeit und, im letzten Filmdrittel, sogar Revolution. Das
kann mitunter durchaus verwirrend wirken, im Film jedoch etwas weniger als
auf der Bühne, da man im Kino einfach näher dran ist und der Regisseur mehr
Möglichkeiten hat, das Geschehen auch abseits der reinen Liedtexte zu
verdeutlichen. Richtig ist allerdings, daß Hoopers Werk durch die selbst bei
einer Länge von knapp 160 Minuten noch unvermeidlichen Kürzungen weniger rund
wirkt als die Vorlage. Vielmehr wird ungewollt die durch die
diversen Zeitsprünge sowieso schon gegebene Episodenhaftigkeit des Stoffes noch betont.
Doch das wichtigste an einem Musical ist natürlich die
Musik, und die ist und bleibt grandios mit ihren manchmal mitreißenden, oft
schwermütigen und immer eingängigen Melodien (und Texten). Die Erschaffer der
Bühnenversion, die erfreulicherweise stark in diese Kinoadaption involviert
waren, haben mit "Suddenly" sogar einen neuen Song geschrieben, der
aber leider recht beliebig wirkt und damit nicht an die Qualität des bewährten
Songmaterials anknüpfen kann. Zumindest nicht beim ersten Hören. Der Rest ist
und bleibt aber phantastisch, womit wir auch schon bei der Qualität der
Gesangseinlagen wären. Diese stand von Anfang an im Mittelpunkt des Interesses,
da Regisseur Hooper das Wagnis einging, die Gesangseinlagen nicht, wie sonst
üblich, im Tonstudio zu synchronisieren, sondern sie allesamt
"live" bei den Dreharbeiten aufzunehmen. Die Darsteller konnten also
nicht im warmen Studio sitzen und entspannt ihre jeweiligen Parts einsingen, bis sie genau passen, sondern sie mußten zugleich schauspielern und singen – da sitzt
dann eben zwangsläufig nicht jeder Ton, dafür hört man je nach Situation auch
mal ein angestrengtes Keuchen. Dieses Vorgehen erhöht zweifelsohne die
Authentizität von "Les Misérables" – und glücklicherweise sind die
meisten Mitwirkenden so gut, daß der gesangliche Qualitätsverlust in einem sehr
überschaubaren Rahmen bleibt. Ich war speziell nach den Trailern skeptisch,
doch nun sage ich: Das Experiment ist geglückt.
Dabei mußte sich vor allem Russell Crowe ob seiner
Sangeskünste viel Kritik und sogar Spott anhören, weshalb ich umso positiver
überrascht war, als ich den Film dann endlich selbst sehen konnte (in
Deutschland startete er später als in den meisten anderen Ländern weltweit).
Natürlich reichen Crowes stimmliche Fähigkeiten trotz jahrelanger
Erfahrung als Leadsänger seiner eigenen Rockband nicht an jene von
ausgebildeten Musical-Darstellern heran, von denen es in diesem Film einige
gibt – vor allem in "The Confrontation", einem "Gesangsduell" mit Hugh Jackman, werden die
Unterschiede ziemlich deutlich. Dennoch bringt er seine Songs gut über die Bühne
und, was noch wichtiger ist, er spielt den Inspektor Javert ausgezeichnet. Denn
das ist ja das Entscheidende: Auf der Bühne sind die Gesangsqualitäten viel
wichtiger als die schauspielerischen, doch im Kino muß beides stimmen. Da muß
man einfach Kompromisse eingehen. Selbstverständlich wäre es möglich gewesen, einen
besseren Sänger als Crowe für die Rolle zu finden – nur wäre der mit großer
Wahrscheinlichkeit ein schlechterer Schauspieler gewesen. Und gerade für diesen
großen Antagonisten der Geschichte, dessen Motivation nicht ganz so leicht greifbar ist, ist es entscheidend, daß man dem Schauspieler die Rolle
auch wirklich abnimmt. Russell Crowe gelingt das und da bin ich dann gerne
bereit, auf absolute Gesangsperfektion zu verzichten.
Hugh Jackman allerdings bietet tatsächlich beides: Er
verkörpert Jean Valjean ungemein intensiv und charismatisch UND er singt mit
seiner wohltönenden Stimme nahezu fehlerfrei – seine OSCAR-Nominierung hat er
sich somit redlich verdient, ohne Daniel Day-Lewis als "Lincoln"
hätte er die Trophäe wahrscheinlich sogar gewonnen, so wie es Anne Hathaway für
ihre beeindruckende Nebenrolle als Fantine gelang. Auch die Nebendarsteller und
Statisten, von denen etliche in der Vergangenheit bereits bei der Bühnenversion mitgewirkt haben,
überzeugen fast ausnahmslos, teilweise begeistern sie sogar. Helena Bonham
Carter ("Big Fish") und Sacha Baron Cohen ("Hugo Cabret") füllen ihre (dankbaren) Rollen als diebisches
Wirtsehepaar Thénardier mit Bravour aus, Eddie Redmayne ("My Week with Marilyn") überzeugt als
verliebter Student Marius und Colm Wilkinson, der Valjean-Darsteller der
"Les Misérables"-Premiere im Jahr 1985, sorgt in seiner kleinen
Rolle als Bischof für Gänsehaut. Lediglich Amanda Seyfried ("Mamma Mia!") bleibt als
erwachsene Cosette ein wenig blaß – was aber auch daran liegt, daß ihre brave Rolle
schlicht und ergreifend langweiliger ist als die von Eponine, ihrer
unglücklichen Konkurrentin im Werben um Marius. Die 22-jährige Samantha Barks
hat diese Rolle bereits auf der Londoner Bühne verkörpert und es ist nicht schwer
zu erraten, warum auch Hooper sie besetzt hat: Sie ist einfach umwerfend, und
wenn man bei ihrem herzzerreißenden Vortrag der zentralen Ballade "On my
own" nicht zu Tränen gerührt ist, dann weiß ich auch nicht weiter. Eine
ähnlich perfekte Besetzung ist die kleine Isabelle Allen, die Cosette als Kind
spielt und optisch wie klanglich nicht besser hätte ausgewählt
werden können (wie man anhand des US-Filmplakats, dessen Motiv auch den Soundtrack und die neue deutsche Taschenbuchausgabe schmückt, gut nachvollziehen kann). Sowohl von Barks als auch von Allen würde man als Zuschauer
gerne viel mehr sehen, auch in Zukunft in anderen Rollen.
Damit wären wir bei Tom Hoopers Inszenierung angelangt:
Kritikern sind vor allem die extensiv eingesetzten Großaufnahmen der Sänger
übel aufgestoßen und in der Tat hat es Hooper da ein wenig übertrieben –
allerdings gewöhnt man sich recht schnell an dieses Stilmittel. Ansonsten hält
sich der Regisseur weitgehend eng an die Vorlage, was einerseits lobenswert ist
– schließlich ist diese Vorlage nahezu perfekt –, andererseits aber manchmal auch
schade, da es ein paar Szenen gibt (zum Beispiel die Auftaktsequenz), in denen
man sieht, was man mit den viel größeren und vielfältigeren Mitteln einer
Filmproduktion hätte erreichen können. Wo Hooper sich doch einmal zu
deutlicheren Änderungen durchringt, geht das manchmal gut, oft aber eher schief.
Ein positives Beispiel ist die Einführungsszene der Thénardiers zum Song
"Master of the House" – hier nutzt Hooper zur Abwechslung die
Möglichkeit, sich durch eine gelungene Kamerafahrt und die Einbindung vieler schöner Details über die Begrenzungen des Theaters hinwegzusetzen. Warum
nicht öfter so? Andererseits vermasselt er dafür im letzten Drittel während des
gewalttätigen Studenten-Aufstandes ausgerechnet die schockierendste Szene der gesamten
Geschichte – die auf der Bühne regelmäßig zu leisen Schreckensrufen der
neuen Zuschauer führt – und beraubt sie mit ärgerlichen, in diesem Fall
vollkommen überflüssigen und sogar unsinnigen Änderungen fast komplett ihrer Wirkung.
Bei der denkwürdigen Abschiedsszene einer wichtigen Figur wiederum macht Hooper
eigentlich nichts falsch, es zeigt sich aber eindrücklich, daß die
Bühnen-Version trotz oder sogar gerade wegen der inszenatorischen
Beschränkungen des Theaters irgendwie poetischer ausfällt.
Was die angesprochenen Kürzungen betrifft, so hat Hooper
nachvollziehbarerweise versucht, fast alle Songs irgendwie zu integrieren. Die
einzigen Lieder, die komplett fehlen, sind "I saw him once" und
"Dog eat dog" (und letzteres auch nur deshalb, weil Sacha Baron Cohen
krank wurde und der eng gesteckte Zeitplan es nicht zuließ, auf seine Genesung
zu warten). Andere werden dafür in teils deutlich gekürzten Versionen präsentiert,
aber insgesamt kann man in musikalischer Hinsicht mit Hoopers Entscheidungen
zufrieden sein. Inhaltlich ist es allerdings schade, daß die Kürzungen (zumindest
gefühlt) vor allem den dramatischen letzten Teil der Geschichte mit den
gewaltsamen Studentenprotesten betreffen, der deshalb ziemlich gehetzt wirkt
und dessen Protagonisten weniger Zeit und Sorgfalt gewidmet wird, als es wünschenswert
wäre. So bleibt gerade dieser lange letzte Akt, der eigentlich in
jeder Hinsicht den Höhepunkt des Musicals darstellt, etwas unter seinen Möglichkeiten.
In Deutschland wird "Les Misérables" regulär in
einer Mischung aus Originalsprache mit Untertiteln (bei den Songs) und
deutscher Synchronisation gezeigt. Man kann sich durchaus fragen, wie sinnvoll
es ist, in einem Musical, in dem zu geschätzt 95% gesungen wird, die restlichen
5% überhaupt noch ins Deutsche zu übertragen, aber andererseits muß man wohl
schon froh sein, daß nicht – wie früher lange Zeit üblich – auch die Lieder
synchronisiert wurden. Wer übrigens durch dieses Musical Interesse an der
zugrundeliegenden Geschichte von Victor Hugo finden sollte (aber keine Lust
hat, das Buch zu lesen), dem kann ich unter den Dutzenden von gesangsfreien Verfilmungen vor
allem zwei aus Frankreich empfehlen: Robert Hosseins 200-minütige Version aus
dem Jahr 1982 mit dem deutschen Titel "Die Legion der Verdammten", die
sich eng an die Vorlage hält und Lino Ventura in der Hauptrolle zu bieten hat;
und Claude Lelouchs Film von 1995 mit Jean-Paul Belmondo als Valjean, wobei die
Handlung in die Zeit rund um den Zweiten Weltkrieg verlegt wurde – was
überraschenderweise wunderbar funktioniert.
Fazit: "Les Misérables" ist eine etwas zu
konventionell geratene Adaption eines der besten Musicals aller Zeiten. An die
Bühnenvorlage kommt diese Filmversion nicht heran, doch die grandiose Musik, die spannende Story und
die erstklassige Besetzung machen sie dennoch zu einem opulenten Kinogenuß.
Wertung: 8 Punkte.
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