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In eigener Sache: Mein neues Filmbuch

Einigen Lesern ist bestimmt aufgefallen, daß ich in der rechten Spalte meines Blogs seit längerer Zeit das Cover meines neuen Buchs präsen...

Dienstag, 3. Juli 2012

POLL (2010)

Regie und Drehbuch: Chris Kraus, Musik: Annette Focks
Darsteller: Paula Beer, Tambet Tuisk, Edgar Selge, Jeanette Hain, Richy Müller, Enno Trebs, Jevgenij Sitochin, Michael Kreihsl, Erwin Steinhauer, Susi Stach
 Poll
(2010) on IMDb Rotten Tomatoes: -; weltweites Einspielergebnis: $1,1 Mio.
FSK: 12, Dauer: 139 Minuten.
Estland, 1914: Die vierzehnjährige Oda von Siering (Paula Beer), die nach der Scheidung ihrer Eltern viele Jahre lang mit ihrer Mutter in Berlin lebte, überführt nach deren Tod den Leichnam per Zug nach Estland. Dort lebt ihr Vater mit seiner neuen Familie. Ebbo von Siering (Edgar Selge) ist ein Professor der Medizin, der jedoch seinen Lehrstuhl verloren hat, da er mit ethisch fragwürdigen Experimenten an den Leichen von Kriminellen nachweisen will, daß sich das Böse im Menschen ganz konkret in einer bestimmten Drüse im Gehirn lokalisieren läßt. Oda soll fortan ebenfalls bei ihrem Vater leben, offenbart aber verständlicherweise gewisse Eingewöhnungsprobleme, zumal sie selbst sich sehr verschlossen gibt und umgekehrt auch nicht gerade begeistert empfangen wird. Nur ein Halbbruder zeigt (zu viel) Interesse an ihr, ihrem Vater kommt sie immerhin durch das Interesse an seinen Experimenten etwas näher. Doch dann findet Oda in einer verfallenen Kirche einen verwundeten estnischen Anarchisten. Obwohl ihr Vater an ebenjenen Anarchisten bevorzugt seine Experimente vornimmt und dafür mit den diese bekämpfenden russischen Truppen kooperiert, versteckt Oda den Verwundeten. Dieser weigert sich zwar, ihr seinen Namen zu offenbaren und läßt sich nur "Schnaps" nennen, dennoch pflegt Oda ihn gesund und verliebt sich in ihn ...

Kritik:
"Poll" ist ein ebenso ungewöhnlicher wie schöner deutscher Kinofilm zumindest, was Optik und Akustik betrifft. Die von Kamerafrau Daniela Knapp ("Die fetten Jahre sind vorbei", "Emmas Glück") stilvoll und atmosphärisch eingefangenen Bilder der estnischen Landschaft wirken fast wie Gemälde, die Musik von Annette Focks ("Krabat", "John Rabe") untermalt die traumhaft schönen Szenen ausgesprochen stimmungsvoll. Auch die Schauspieler um die Routiniers Edgar Selge ("Das Experiment", "Polizeiruf 110"), Richy Müller ("xXx Triple X", "Tatort") und Jeanette Hain ("Der Vorleser", "Sass") wissen in leider nicht allzu komplexen Rollen zu überzeugen, Nachwuchsschauspielerin Paula Beer erweist sich in ihrem Debüt als äußerst vielversprechende Entdeckung. Unglücklicherweise krankt der Film von Chris Kraus ("Vier Minuten") jedoch inhaltlich an einem typisch deutschen Problem: Er erzählt in satten 140 Minuten seine ziemlich simple Geschichte sehr, sehr langatmig.

Die (durchaus lobenswerte) Ambition, mit "Poll" ein poetisches historisches Epos in der Tradition eines Terrence Malick (speziell zu dessen Frühwerken "Badlands" und "In der Glut des Südens" gibt es stilistische Ähnlichkeiten) oder auch eines István Szabó ("Sunshine", "Hanussen") zu schaffen, ist Kraus dabei deutlich anzumerken. Leider fehlt es für das Gelingen seines mutigen Vorhabens vor allem an der Poesie. Denn trotz der künstlerischen, technischen und schauspielerischen Stärken des Films gelingt es Kraus so gut wie nie, seinem Publikum denkwürdige Szenen oder Dialoge zu bieten, alles wirkt irgendwie unterkühlt. Und wenn es doch einmal vielversprechende Ansätze gibt, so werden diese sofort wieder abgewürgt. Die Handlung plätschert über weite Strecken ziemlich müde vor sich hin, überraschend oder gar aufregend wird sie kaum einmal. Lediglich ein paar recht drastische Sezier-Szenen in Professor von Sierings Labor üben offenbar zumindest auf Teile des durchschnittlichen deutschen Arthouse-Publikums eine unerwartet finale Wirkung aus – jedenfalls haben in der von mir besuchten Kinovorführung vier von sechs Zuschauern den Saal nach diesen Szenen beinahe fluchtartig verlassen ...

Von dieser von den Filmemachern wohl eher nicht beabsichtigten Auswirkung abgesehen ist es einfach schade um das unverbrauchte, mutige Szenario, denn mit einer inhaltsvolleren und stringenter erzählten Handlung hätte "Poll" ein richtig guter Film werden können. Zwar basiert die Story lose auf den Erinnerungen der entfernt mit dem Regisseur verwandten Schriftstellerin Oda Schaefer, doch da sich Kraus sowieso etliche erzählerische Freiheiten leistet, dürfte das kaum als Begründung für die relative Ereignisarmut ausreichen. So ist "Poll" eben nur (dank der genannten Stärken leicht gehobenes) Mittelmaß mit einem gewissen Zielgruppenproblem.

Fazit: "Poll" ist ein ambitioniertes historisches Drama, das wunderschön aussieht und klingt und überzeugende darstellerische Leistungen zu bieten hat, aber unter einem sehr langsamen Erzähltempo und einer wenig aufregenden Handlung leidet.

Wertung: 6 Punkte.

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