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In eigener Sache: Mein neues Filmbuch

Einigen Lesern ist bestimmt aufgefallen, daß ich in der rechten Spalte meines Blogs seit längerer Zeit das Cover meines neuen Buchs präsen...

Dienstag, 28. Januar 2014

Klassiker-Rezension: FANTÔMAS-Filmreihe (1913/1914)

Einzeltitel: Im Schatten der Guillotine; Juve gegen Fantômas; Ein mörderischer Leichnam; Fantômas gegen Fantômas; Der falsche Ermittler
Originaltitel: À l'ombre de la guillotine; Juve contre Fantômas; Le mort qui tue; Fantômas contre Fantômas; Le faux magistrat
Regie und Drehbuch: Louis Feuillade, Musik: Yann Tiersen, James Blackshaw, Amiina, Tim Hecker und Loney Dear
Darsteller: René Navarre, Edmond Bréon, Georges Melchior, Renée Carl, Naudier, Jane Faber, André Volbert, Yvette Andréyor, Luitz-Morat, Fabienne Fabréges, Germaine Pelisse, Mesnery, André Luguet, Laurent Morléas, Jean-François Martial, Suzanne Le Bret
 Fantômas - À l'ombre de la guillotine
(1913) on IMDb Rotten Tomatoes: 100% (8,5); FSK: nicht bewertet; Dauer: ca. 340 Minuten.
Paris im 19. Jahrhundert: Die Öffentlichkeit erzittert vor den Untaten eines ebenso mysteriösen wie skrupellosen Kriminellen (René Navarre), der sich selbst "Fantômas" nennt und ein wahrer Verwandlungskünstler ist. Nach einem Hotelraub bei einer Prinzessin (Jane Faber) setzt sich der erfahrene Inspektor Juve (Edmond Bréon) auf seine Spur, der dabei auf die Unterstützung seines guten Freundes Jérôme Fandor (Georges Melchior) zählen kann. Der junge Mann ist ein engagierter und gewitzter Journalist und kommt an Quellen, die der Polizei nicht zur Verfügung stehen. Gemeinsam kommen sie Fantômas recht bald auf die Schliche und können ihn sogar verhaften – doch der Verbrecher ist nicht nur ein kriminelles Genie, sondern zusätzlich auch ein wahrer Ausbrecherkönig ...

Kritik:
Wer heutzutage den Namen "Fantômas" hört und überhaupt etwas damit anfangen kann, der denkt vermutlich zunächst an André Hunebelles drei eher komödiantische Filme mit Jean Marais und Louis de Funés aus den 1960er Jahren oder an die zugrundeliegende Romanreihe von Pierre Souvestre und Marcel Allain (die in Frankreich allerdings wesentlich bekannter ist als in Deutschland). Die erste Adaption gab es jedoch bereits zwei Jahre nach Erscheinen des ersten Buches, und die fünfteilige Stummfilm-Reihe, die in den Jahren 1913 und 1914 in die Lichtspielhäuser kam, war so populär, daß man vom ersten französischen Kino-Blockbuster überhaupt sprechen kann (auch wenn das Wort "Blockbuster" natürlich erst Jahrzehnte später geprägt wurde). Selbst 100 Jahre später kann man das durchaus nachvollziehen, denn Louis Feuillades im Gegensatz zu Hunebelles Trilogie ziemlich werktreue Verfilmung ist ihrer Zeit deutlich voraus.

Das beginnt schon damit, daß Feuillade viel Wert darauf legt, eine echte Story zu erzählen. Im Vergleich zu den meisten anderen Stummfilmen, die man heute noch ab und zu zu Gesicht bekommt – in der Regel vor allem Komödien von Charlie Chaplin, Buster Keaton oder Harold Lloyd, die auch wort- und weitgehend textlos wunderbar funktionieren –, gibt es entsprechend viel zu lesen, teils in Form von Zwischentexten, teils via in die Kamera gehaltener Briefe oder sonstiger Dokumente. Da die fünf Filme, deren Laufzeiten zwischen 55 und 100 Minuten variieren, zudem inhaltlich miteinander zusammenhängen (und stets mit einem Cliffhanger enden), bekommt man im Grunde genommen eine einzige sechsstündige Kriminalgeschichte zu Gesicht. Diese umfaßt einige Überraschungen, beispielsweise verkommt die vermeintliche Hauptfigur Inspektor Juve nach den ersten beiden Episoden zu nicht viel mehr als einer Randerscheinung und der junge Journalist Fandor rückt eindeutig ins Zentrum – was vielleicht auch dessen gutem Aussehen geschuldet ist, wirkt doch Juve von Anfang an ziemlich unscheinbar. Man kann sich jedenfalls gut vorstellen, daß Fandor-Darsteller Georges Melchior seinerzeit die Herzen des weiblichen Kinopublikums reihenweise zugeflogen sind. Heutigen Sehgewohnheiten zuträglich ist außerdem, daß die Schauspieler gerade aufgrund der vielen erklärenden Texteinblendungen vergleichsweise natürlich agieren können und weitgehend auf das für Stummfilme so typische – und auf viele heutige Zuschauer sehr albern wirkende – theatralische Overacting verzichten.

Ob nun zusammen oder getrennt: Juve und Fandor erweisen sich als ebenbürtige Gegenspieler des grausamen Meisterverbrechers Fantômas. Dieser Verwandlungskünstler wäre in den USA wahrscheinlich vom "Mann mit den 1000 Gesichtern" Lon Chaney Sr. verkörpert worden, in Frankreich übernahm diese anspruchsvolle Aufgabe René Navarre – und er meistert sie sehr überzeugend. Natürlich ist eine solche Rolle auch recht dankbar, dennoch: Die Intensität und Wandelbarkeit, mit der Navarre den Kriminellen in seinen zahlreichen (auch handwerklich sehr gelungenen) Verkleidungen verkörpert, ist bis heute beeindruckend und läßt seine Co-Akteure mitunter ziemlich alt aussehen. Und das, obwohl das Drehbuch es mit Fantômas nicht immer gut meint. Vor allem im ersten Film bleibt dieser nämlich erstaunlich passiv und wirkt eher wie ein drittklassiger Amateur-Gauner als wie das kriminelle Genie, das er sein soll. Entsprechend schnell wird er überführt, weshalb sich fortan bis zum Ende des ersten Teils alles nur noch um seine Flucht dreht – die ist zwar raffiniert (und extrem unglaubwürdig), wird aber komplett von seiner wohlhabenden Geliebten Lady Beltham (Renée Carl) ersonnen. In den übrigen vier Filmen kommt Fantômas dann zum Glück deutlich bedrohlicher rüber, dennoch muß man sich fragen, wie genial ein Krimineller eigentlich sein kann, wenn er nach fast jedem Coup über kurz oder lang doch gefaßt wird. Zugegeben, ihm gelingt jedes Mal die Flucht; das läßt aber eher die Polizei dilettantisch aussehen als Fantômas genial ...

Selbstverständlich darf man an einen Stummfilm auch bezüglich der Story nicht die gleichen Ansprüche anlegen wie an einen Tonfilm, in dem viel mehr erzählt und erklärt werden kann – doch gerade im Krimigenre sollte eine gewisse Plausibilität auch bei Stummfilmen doch das absolute Minimum sein. Und dieses Minimum erfüllt die "Fantômas"-Reihe leider nur teilweise, da immer wieder auf extrem unlogische Wendungen gesetzt wird, die teilweise sogar dem zuvor Gezeigten auf eklatante Art und Weise widersprechen. Nur ein Beispiel: Im vierten Film "Fantômas gegen Fantômas" wird Inspektor Juve zu Beginn inhaftiert, weil in der Presse über Gerüchte berichtet wird, er selbst sei Fantômas. Einmal davon abgesehen, daß es auch im Frankreich des frühen 20. Jahrhunderts eher selten vorgekommen sein dürfte, daß ein allseits respektierter, hochrangiger Polizist aufgrund haltloser Gerüchte, für die es nicht den geringsten Beweis gibt, festgenommen wird, gab es in den drei vorangegangenen Teilen nun weißgott genügend Szenen, in denen Juve und Fantômas von mehreren Zeugen zusammen gesehen wurden – wie könnte Juve also Fantômas sein? Mit solchen, mit Verlaub, schwachsinnigen Einfällen, die das Publikum letztlich für dumm verkaufen wollen, mag man damals, als das Medium Film noch neu und aufregend war, durchgekommen sein – 100 Jahre später kann man sie auch bei wohlwollender Betrachtung nicht einfach ignorieren.

Allerdings sollte man sie auch nicht übergewichten, denn trotz dieses erheblichen Mankos bleibt die vergleichsweise temporeiche Thriller-Handlung mit den teilweise recht grausamen Verbrechen Fantômas' fast durchgehend spannend und die stilvolle, phasenweise geradezu künstlerische Inszenierung mit sogar einigen für die Zeit spektakulären Spezialeffekten (etwa ein Zugunfall) gefällt. Ein echtes Highlight ist zudem die für das hundertjährige Jubiläum neu aufgenommene Musik. Da die musikalische Begleitung bei Stummfilmen in der Regel aus live vorgetragener Klaviermusik bestand, die nicht selten sogar komplett improvisiert war, bestehen heute bestenfalls noch Notenblätter zu einigen Werken. Entsprechend haben Stummfilme stets die Kreativität bekannter Musiker angespornt, auch Pop- oder Rockmusiker versuchen sich immer wieder einmal an meist ziemlich experimentell ausfallenden Neukompositionen – zu den bekanntesten dürfte Giorgio Moroders Pop-Soundtrack zu Fritz Langs "Metropolis" gehören (an dem u.a. Freddie Mercury und Bonnie Tyler beteiligt waren), die Pet Shop Boys haben im Jahr 2004 einen Elektro-Score zu Sergej Eisensteins Sowjet-Klassiker "Panzerkreuzer Potemkin" geschaffen. Für die fünf Fantômas-Filme wurden dagegen fünf unterschiedliche Komponisten angeheuert: Yann Tiersen, James Blackshaw, Amiina, Tim Hecker und Loney Dear. Der mit Abstand bekannteste in diesem Quintett ist Yann Tiersen, der mit seiner bezaubernden Musik zu Jean-Pierre Jeunets "Die fabelhafte Welt der Amélie" zu internationalem Ruhm gelangte. Er hat hier auch die musikalische Gesamtleitung übernommen und dafür gesorgt, daß die im Einzelnen durchaus sehr unterschiedlichen Musikstile zu einem harmonischen Gesamtwerk verschmelzen, zudem stammen die die gesamte Reihe durchlaufenden Leitmotive von ihm.

Das Resultat der Mühen ist phantastisch: So werden Fantômas' Untaten im ersten Teil von einem düster wabernden Klangteppich untermalt, der gekonnt eine unheilvolle Atmosphäre heraufbeschwört – zu Tanz- oder Gesellschaftsszenen dagegen wird im zweiten und dritten Film mit fröhlich-verspielten Melodien aufgewartet und bei ganz besonders dramatischen oder actionreichen Geschehnissen (wie einem Überfall in einem Zug) läuft auch die musikalische Begleitung zu großer, spektakulärer Form auf. Kurzum: Ohne den von Yann Tiersen gelenkten grandiosen Soundtrack wäre die Fantômas-Filmreihe gewiß nur halb so unterhaltsam. Die besten der fünf Filme sind meiner Ansicht nach eindeutig der zweite ("Juve gegen Fantômas") und der dritte ("Ein mörderischer Leichnam"). Der zweite hat die interessanteste Story zu bieten, der dritte profitiert von der mit Abstand längsten Laufzeit (100 Minuten), die es ihm erlaubt, eine recht komplexe und sogar halbwegs glaubwürdige Handlung zu entfalten.

Fazit: Die fünf "Fantômas"-Filme sind ohne Frage ein Meilenstein der europäischen Kinokunst, der dank der kunstvollen Bildsprache, des düster-mysteriösen Bösewichts und der rasanten Inszenierung noch immer zu gefallen weiß – ganz besonders mit dem neuen Soundtrack; die erheblichen dramaturgischen und logischen Schwächen werfen allerdings einen deutlichen Schatten auf das Gesamtkunstwerk "Fantômas", den man nicht einfach ignorieren kann.

Wertung: Ich tue mich immer besonders schwer damit, Stummfilme zu bewerten, weil man einfach ganz andere Maßstäbe als an heutige Werke anlegen muß. Deshalb bleibt mir vor allem eine Wertung nach Gefühl, und die Durchschnittswertung für die fünf "Fantômas"-Filme beläuft sich auf knapp 7,5 Punkte.
(Einzelwertungen: Teil 1: 7 Punkte; Teil 2: 9 Punkte; Teil 3: 8 Punkte; Teil 4: 6 Punkte; Teil 5: 7 Punkte.)

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