Regie: Ziska Riemann, Drehbuch: Angela Christlieb, Dagmar
Gabler, Ziska Riemann und Luci van Org, Musik: Ingo Frenzel
Darsteller: Victoria Schulz, Hans-Jochen Wagner, Björn von
der Wellen, Svenja Jung, Irene Kugler, Oona von Maydell, Anna Amalie Blomeyer
Die Mittzwanzigerin Mia (Victoria Schulz, "Die
Unsichtbaren") ist eine lebenslustige junge
Frau in der Großstadt, die sich im Poetry-Slam versucht und als
Synchronsprecherin arbeitet. Als Mia die Hauptrolle in einer zehn
Staffeln umfassenden japanischen Anime-Serie bekommt, ist sie überglücklich,
zumal es zwischen ihr und dem Synchronregisseur Jacob (Björn von der Wellen,
"Miss Sixty") funkt. daß ihr Vater in der Heimat todkrank ist und
ihre Familie sie immer wieder bittet, ihn zu besuchen, verdrängt sie routiniert
mit "Papa schafft das schon"-Plattitüden. Als Mia einen kleinen Stromschlag
erhält, scheint sie zunächst unverändert, jedoch identifiziert sie sich immer
mehr mit der Rolle, die sie spricht und scheint sogar mit dieser blauhaarigen Kimiko,
die Elektrizität sehen kann und gegen böse, ihre Opfer durch Magnetfelder
willenlos machende Dämonen kämpft, zu verschmelzen. Mia ist überzeugt davon,
daß die Wesen auch in ihrer Welt die Menschheit bedrohen und nur sie mit
ihren außerordentlichen Fähigkeiten sie aufhalten kann – gemeinsam mit ihrem
griesgrämigen Nachbarn Kristof (Hans-Jochen Wagner, "Alle anderen")
als Sidekick …
Kritik:
Ein deutscher Independent-Superheldenfilm? Das klingt
interessant. Natürlich ist klar, daß das nichts ansatzweise "Avengers"-artiges
sein kann, aber es gab schon früher gute Independent-Superheldenfilme wie
"Super", "Defendor", "Chronicle" oder auch den
deutschen "Lux – Krieger des Lichts", die einen Mangel an Budget mit
Ideen und der Ergründung ganz anderer, meist realitätsnäherer Facetten
wettmachen. Daß die "Electric Girl"-Regisseurin und -Koautorin Ziska
Riemann ("Lollipop Monster") selbst Comicautorin ist und ihre
Superheldengeschichte mit einer japanischen Anime-Serie über ein Mädchen mit
besonderen Kräften verbindet, ist ebenfalls ein spannender Ansatz. Zu meinem
Bedauern kann ich jedoch mit ihrer Art der Umsetzung dieses Ansatzes nicht
allzu viel anfangen, was in erster Linie mit einer Eigenart meinerseits zu tun
hat: Ich bin quasi allergisch gegen Fremdschämen! Womöglich ist das so, weil
ich mich seit jeher gut in andere Personen hineinversetzen kann und deshalb etwa im allseits gelobten und zweifellos handwerklich sehr gut
gemachten "Stromberg" (respektive den englischsprachigen "The
Office"-Serien, die als Vorlage dienten) die gesammelten Peinlichkeiten
der handelnden Personen dermaßen hautnah nachempfinden kann, daß es mir beinahe
körperliche Schmerzen bereitet. Anders als die meisten Fremdschäm-Werke nutzt "Electric Girl" diese Momente zwar in der Regel nicht
für Humoreinlagen; ehrlich gesagt verstärkt die Ernsthaftigkeit, mit der die
Figuren im Film Mias öffentlichen Superheldinnen-Anwandlungen begegnen, deren Peinlichkeit aber sogar noch. Kurz gesagt: "Electric
Girl" ist einfach kein Film für mich.
Dabei gibt es einige Elemente, die ich sehr wohl lobenswert finde. Hauptdarstellerin Victoria Schulz
beispielsweise spielt ihre Rolle energetisch und leidenschaftlich bis hin
zum Manischen und reizt auch die angesprochenen Fremdschäm-Szenen mutig aus.
Dabei gelingt es ihr, die bereits vor ihrer "Wandlung" extrovertierte
Mia durchaus sympathisch zu zeichnen, was man am besten an ihrem Umgang mit
ihrem Nachbarn Kristof erkennt, zu dem sie durch lebhafte Freundlichkeit
vordringt, obwohl er eigentlich seine Ruhe haben will. Etwas mehr
Hintergründe über Mia wären allerdings nett gewesen. Der routinierte
Hans-Jochen Wagner agiert ebenso überzeugend als eine Art Ruhepol der
Geschichte, als Kontrapunkt zu Mias Aufgekratztheit, der aber durch ihre
Verwandlung zur Superheldin (ob nun echt oder eingebildet) zunehmend
überfordert wird. Gelungen sind außerdem die Anime-Sequenzen, deren Stil sich
zwar schon von den echten japanischen Animes unterscheidet, die ich kenne
(wobei ich kein Experte bin), aber für sich genommen absolut sehenswert ist.
Genau genommen hätte ich sogar lieber mehr davon gesehen und weniger von Mias
Superhelden-Ambitionen im richtigen Leben.
Das Drehbuch – an dem neben Regisseurin Ziska Riemann übrigens die frühere Lucilectric-Sängerin Luci van Org beteiligt war – sieht das
aber anders und so müssen wir miterleben, wie sich Mia von einer peinlichen
Situation zur nächsten manövriert und dabei von ihr unbemerkt ihr eigenes
Lebensfundament Stück für Stück einreißt. Allerdings beginnt das erst so richtig
in der zweiten Filmhälfte, speziell in der ersten halben Stunde geschieht
eigentlich nicht viel mehr, als daß wir Mia (und ihr nächstes Umfeld)
kennenlernen und ihr ausführlich bei der Arbeit und beim Feiern im Nachtclub –
selbstredend zu elektronischer Musik – zusehen. Bemerkenswert ist, daß Mias
zunehmend irrationales, selbstgefährdendes Verhalten von den damit
Konfrontierten zwar mit Befremden zur Kenntnis genommen wird, aber sehr lange niemand
wirklich eingreift oder sie zur Rede stellt. Offensichtlich sind Mias
Beziehungen zu anderen Personen, selbst zu ihrer eigenen Familie, dafür zu
oberflächlich, woran sie mit allzu egozentrischem Verhalten mindestens
eine Mitschuld trägt. Gleichzeitig kann man das auch als Kritik
an der Gesellschaft interpretieren, in der die Individualisierung so
ausgeprägt ist, daß sich häufig selbst Nachbarn nicht mehr kennen und somit
logischerweise auch das Aufeinanderachtgeben bei weitem nicht so
ausgeprägt ist wie in früheren Zeiten, selbst mögliche schwere psychische
Erkrankungen (falls Mia sich alles nur einbildet) übersehen werden. So oder so:
"Electric Girl" bietet durchaus Diskussionsstoff – zumal es bis zum
Schluß nach knapp eineinhalb Stunden wenige Antworten zur Bedeutung
dessen gibt, was gezeigt wird – und kann sich als origineller deutscher Beitrag
zum Genrekino sehen lassen ... sofern man kein Problem mit etlichen
Fremdschäm-Momenten hat.
Fazit: "Electric Girl" ist ambitioniertes,
handwerklich wie auch schauspielerisch gut gemachtes Genrekino aus deutschen Landen,
das aber mehr auf Sinneseindrücke als auf eine stringente Handlung setzt und
eher ungeeignet ist für Zuschauer mit Fremdschäm-Phobie.
Wertung: Von mir als Fremdschäm-Phobiker gibt es 6
Punkte; wer damit keine Probleme hat, darf vermutlich einen Punkt aufschlagen.
"Electric Girl" ist vom farbfilm verleih am 11. Juli 2019 in den deutschen Kinos gestartet worden. Eine Rezensionsmöglichkeit wurde mir netterweise vom Entertainment Kombinat zur Verfügung gestellt.
Screenshots: © farbfilm verleih
"Electric Girl" ist vom farbfilm verleih am 11. Juli 2019 in den deutschen Kinos gestartet worden. Eine Rezensionsmöglichkeit wurde mir netterweise vom Entertainment Kombinat zur Verfügung gestellt.
Screenshots: © farbfilm verleih
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