Regie und Drehbuch: Nicolas Pesce
Darsteller: Christopher Abbott, Mia Wasikowska, Laia Costa, Marin Ireland, Maria Dizzia
Rotten Tomatoes: 72% (6,3); weltweites Einspielergebnis: $0,1 Mio.
FSK: nicht geprüft, Dauer: 81 Minuten.
FSK: nicht geprüft, Dauer: 81 Minuten.
Reed (Christopher Abbott, "Aufbruch zum Mond") und seine Frau Mona (Laia Costa, "Victoria") sind gerade zum ersten Mal Eltern geworden. Theoretisch könnten sie ein sehr glückliches Familienleben führen – wäre da nicht Reeds unbezähmbarer Drang, Menschen wehzutun. Um nicht seine Frau und das Baby zu gefährden, beschließt Reed (mit Monas Einwilligung), sein Verlangen anderweitig auszuleben. So verabschiedet er sich von seiner Familie, nimmt sich ein Zimmer in einem billigen Hotel und bestellt sich, nachdem er sein geplantes Vorgehen genau durchgegangen ist, eine Prostituierte. Diese taucht nach einer Stunde auf, heißt Jackie (Mia Wasikowska, "Stoker") und ist nicht wirklich jenes einfache Opfer, das Reed erwartet hatte. Vielmehr hat Jackie ihre eigenen dunklen Phantasien, die unter anderem mit Körperschmuck zu tun haben …
Kritik:
Bei Horrorfilmen scheint es ein größeres Ungleichgewicht zwischen den Erwartungen der Profi-Kritiker und denen der "normalen" Kinogänger zu geben als in den meisten anderen Genres. Während Kritikerlieblinge von vielen Fans oft verschmäht werden, werden von den Rezensenten verrissene Werke gerne zu großen kommerziellen Erfolgen. Hauptgrund dafür dürfte sein, daß die Kritiker besonders das Unerwartete, Originelle und Raffinierte schätzen, wohingegen viele Horrorfans einfach nur eine gute Zeit haben und sich schön gruseln wollen, auch wenn es sich um den 1000. Film nach dem bewährten, aber überstrapazierten "Zehn kleine Jägermeister"-Prinzip handelt. Das mag ich übrigens auch und halte es für ziemlich unverwüstlich, trotzdem bin ich bei den originelleren "Arthouse-Horrorfilmen" wie "The Witch" und "It Follows" oder auch der Meta-Horrorparodie "The Cabin in the Woods" oft auf der Seite der professionellen Kritiker, da mir als Vielseher innovative, unerwartete Geschichten besonders große Freude bereiten. Bei "Piercing" ist das aber leider nicht der Fall. In der Theorie spricht viel für die zweite Arbeit des italienischstämmigen US-Filmemachers Nicolas Pesce ("The Eyes of My Mother"): Es handelt sich um eine Hommage an die ebenso atmosphärischen wie blutigen italienischen Gialli der 1970er Jahre – ein Genre, in dem ich zwar kein Experte bin, das ich aber durchaus schätze –, die gar mit der kultverdächtigen, zwischen Easy Listening-Klängen und kraftvollen Synthesizer-Melodien changierenden Originalmusik von Giallo-Experten wie Bruno Nicolai ("Das Geheimnis der blutigen Lilie") und der Band Goblin ("Tenebre") unterlegt ist. Zudem spielt mit der ungemein vielseitigen Australierin Mia Wasikowska eine meiner Lieblingsschauspielerinnen die weibliche Hauptrolle. Und trotzdem habe ich mich vor allem: gelangweilt.
Als ich auf dem Fantasy Filmfest 2014 Jonathan Glazers Arthouse-SciFi-Horrorfilm "Under the Skin" mit Scarlett Johansson sah, war ich etwa eine Stunde lang wirklich fasziniert von diesem ungewöhnlichen, rätselhaften, wortkarg und reduziert erzählten, aber bildschönen Kunstwerk. Irgendwann schlug meine Faszination aber zunehmend in Ermüdung um, weil die Abwechslung fehlte und die Handlung allzu rudimentär entwickelt war. Ähnlich erging es mir beim Fantasy Filmfest 2013 bei Ben Wheatleys psychedelischem Mitterlalter-Trip "A Field in England", wobei die Ermüdung hier deutlich früher einsetzte. In diese Reihe fügt sich auch "Piercing" ein – nur daß meine Faszination für Pesces Film sich schon nach maximal 10 Minuten verflüchtigte. Ich würde sogar so weit gehen zu behaupten, daß "Piercing" der längste 80 Minuten-Film ist, den ich je gesehen habe; jedenfalls fühlt er sich eindeutig so an. Streng genommen ist es sogar gelogen, daß ich von "Piercing" fasziniert gewesen wäre – interessiert ist das treffendere Wort, denn zu Beginn war ich offen für das, was kommen würde und gespannt darauf. Der Anfang mit der Skizzierung von Reeds dunklen Sehnsüchten ist durchaus gelungen, zwar sorgt er nicht für Begeisterung, aber ebenso wenig für Ernüchterung. Die setzte bei mir ein, als Reed in seinem Hotelzimmer in aufreizender Ausführlichkeit Schritt für Schritt durchgeht, wie er die in Kürze kommende Prostituierte ermorden will. Grundsätzlich ist dieses Training ja nachvollziehbar und darf auch gerne gezeigt werden, aber doch nicht so extrem in die Länge gezogen, ohne daß es einen inhaltlichen Nutzen hätte! Leider ist das Vorgehen symptomatisch für die folgenden 70 Minuten, in denen Stoff, der relativ problemlos in einen knackigen 15- bis 20-minütigen Kurzfilm gepaßt hätte, extrem gestreckt wird.
Zugegeben, atmosphärisch ist das von Nicolas Pesce und seinem Team geschickt gemacht. Die Kameraführung, die klar an die alten Gialli angelehnte Farbgebung und selbstverständlich die passend recycelte Musik machen "Piercing" fraglos zu einem eindrucksvollen Kunstwerk – nur eben meiner Meinung nach zu einem hohlen, stinklangweiligen Kunstwerk. Wie im Genre üblich, steht auch bei "Piercing" eine psychosexuelle Thematik im Mittelpunkt, speziell sehr ausführlich präsentierte Sadomaso-Praktiken, wobei hier ein gleichnamiger Roman aus dem Jahr 1994 des japanischen Autors Ryû Murakami als Vorlage dient, der bereits den einstigen Skandalfilm "Audition" von Takashi Miike inspirierte. Psychologisch in die Tiefe geht "Piercing" dabei jedoch (wenig überraschend) nicht einmal ansatzweise, was angesichts sehr spärlicher Dialoge und so gut wie gar keiner Informationen über die beiden Protagonisten auch schwierig wäre. So hängt also alles an den Hauptdarstellern Christopher Abbott und Mia Wasikowska, die – vor allem die stets von einer leicht mysteriösen Aura umgebene und deshalb genau richtig besetzte Wasikowska – mit Erfolg ihre ganze Ausdruckskraft in ihre Performance legen, um die höchst bizarre, leicht schwarzhumorig dargestellte Beziehung zwischen den buchstäblich gestörten Seelen überzeugend darzubieten. Doch da die Figuren dem Publikum fremd bleiben, ist es zumindest mir ungewöhnlich schwer gefallen, Interesse oder Mitgefühl für ihre Begierden und Leiden aufzubringen. Die intensiven schauspielerischen Leistungen müssen also ebenso gelobt werden wie die gesamte Optik und Akustik des Films – inhaltlich ist "Piercing" dagegen eine komplett oberfächliche, lahme Luftnummer.
Fazit: "Piercing" ist eine kammerspielhafte, handwerklich und schauspielerisch stark gemachte Giallo-Hommage, die trotzdem sehr schnell langweilt, da Figurenzeichnung und Handlung quasi nonexistent sind.
Wertung: 3 Punkte.
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