Originaltitel:
The Nutcracker and the Four Realms
Regie:
Lasse Hallström und Joe Johnston, Drehbuch: Ashleigh Powell, Musik: James
Newton Howard
Darsteller:
Mackenzie Foy, Keira Knightley, Helen Mirren, Matthew Macfadyen, Jayden Fowora-Knight, Morgan
Freeman, Ellie Bamber, Tom Sweet, Anna Madeley, Richard E.
Grant, Eugenio Derbez, Omid Djalili, Meera Syal, Jack Whitehall, Misty
Copeland, Sergei Polunin, Gustavo Dudamel
FSK: 0, Dauer: 100 Minuten.
Es ist ein trauriges Weihnachtsfest für die Familie
Stahlbaum im viktorianischen London, denn es ist das erste, seit
Marie (Anna Madeley, "Brügge sehen … und sterben?") gestorben ist. Während ihr
Ehemann Benjamin (Matthew Macfadyen, "Stolz und Vorurteil") versucht,
für seine drei Kinder stark zu sein und alles mehr oder weniger seinen
gewohnten Gang nehmen zu lassen, hat vor allem die mittlere Tochter Clara
(Mackenzie Foy, "Black Beauty") ihre Probleme damit. Sie sieht nicht
ein, warum sie den Anschein wahren soll, wo sie doch viel lieber mit ihrer Trauer
alleine sein will. Entsprechend widerwillig geht sie mit zu der großen Party
ihres als Erfinder reich gewordenen Patenonkels Drosselmeyer (Morgan Freeman,
"Oblivion"), zu der die feine Gesellschaft der Stadt geladen
ist. Doch im beeindruckenden Anwesen ihres Patenonkels gelangt sie durch einen
Tunnel in ein magisches Reich, und es stellt sich heraus, daß hier ihre Mutter
eine Maschine baute, mit der sie Spielzeug zum Leben erweckte! Doch weil
"Königin Marie" ihre Märchenwelt irgendwann nicht mehr besuchte, kam
es zu Schwierigkeiten: Wie die Zuckerfee (Keira Knightley, "Niemandsland") Clara erläutert, wollte Mutter Ingwer (Helen Mirren, "Trumbo")
die Macht über die vier Reiche an sich reißen. Das scheiterte, doch Mutter
Ingwer bleibt eine Gefahr für die Märchenwelt, und nur Clara kann alle
retten, wenn sie den Schlüssel zu der Maschine ihrer Mutter findet …
Kritik:
Disney hat es sich bekanntlich seit Beginn der 2010er Jahre
zum Ziel gesetzt, nach und nach die alten Zeichentrickklassiker als Realfilme neu zu
verfilmen. Davon betroffen sind zahlreiche Märchenadaptionen wie
"Cinderella", "Maleficent" (basierend auf Dornröschen), "Die Schöne und das Biest",
"Aladdin" und im weiteren Sinne auch "Alice im Wunderland" oder "Duell der Magier"
(basierend auf einer Episode aus "Fantasia", die auf Goethes
"Zauberlehrling" beruht). Hin und wieder wagt sich das Studio
auch an neue Märchenverfilmungen wie den Animations-Megahit
"Die Eiskönigin" mitsamt Fortsetzung. An die zahllosen Erfolge dieser
Märchenfilme hoffte Disney 2018 anzuknüpfen mit "Der Nußknacker und die
vier Reiche", wobei als Vorlage sowohl E.T.A. Hoffmanns weihnachtliches
Kunstmärchen "Nußknacker und Mausekönig" als auch das davon inspirierte
Ballett "Der Nußknacker" von Pjotr Iljitsch Tschaikowski und Marius
Petipa dienen. Dieses Mal stellte sich aber weder an den Kinokassen noch
bei den Kritikern der erhoffte Erfolg ein. Speziell in Nordamerika floppte die über $100 Mio. schwere Produktion von den Regisseuren Lasse Hallström
("Lachsfischen im Jemen") und Joe Johnston ("Captain America") – der mit dessen Zustimmung die umfangreichen Nachdrehs für den
verhinderten Hallström übernahm – schmerzlich, im Rest der Welt lief es
zumindest kommerziell deutlich besser, jedoch nicht gut genug, um den Film in die
schwarzen Zahlen zu hieven. Der Mißerfolg ist nicht ganz unverdient, denn
wenngleich "Der Nußknacker und die vier Reiche" wunderschön
anzusehen ist und ziemlich sympathisch rüberkommt, ist der Mangel an
Inspiration, Originalität und Handlung unübersehbar. "Stil
vor Substanz" ist ein inflationär verwendeter Ausdruck, der hier
allerdings wie die Faust aufs Auge paßt.
Das mit der "wunderschönen" Optik liegt naturgemäß
ein Stück weit im Auge des Betrachters. Es gibt auch Stimmen, die "Der
Nußknacker und die vier Reiche" als überladen bezeichnen, als kitschig
oder auch als künstlich – und ich kann die Kritik absolut nachvollziehen. Ja,
der Film setzt auf eine recht klischeehafte, sehr an US-amerikanische Heile
Welt-Weihnachtsfilme erinnernde Postkarten-Ästhetik des viktorianischen London
mit Unmengen an in der Tat nicht unkitschiger Weihnachtsdekoration – aber ich
gebe offen zu: Wenn es um den Themenbereich "Winter &
Weihnachten" geht, dann kann ich persönlich sehr gut damit leben. Die
Filmemacher versuchen gar nicht erst, ein realistisches Bild des 19.
Jahrhunderts zu zeichnen, stattdessen betonen sie von Anfang an den
märchenhaften Charakter ihres Werks – und dann sieht eben bereits das
viktorianische London wie eine Märchenwelt aus (nicht zuletzt dank
Drosselmeyers mechanischer Erfindungen) und nicht alleine die von Claras Mutter
erschaffene Phantasiewelt. Deutlich problematischer als diese überbordende
Ästhetik ist in meinen Augen die Handlung. Selbstredend ist die
Geschichte der Jugendlichen, die auf magische Weise lernt, sich mit dem Tod
eines Elternteils zu arrangieren, ebensowenig originell oder neu wie die
Prämisse junger Leute, die durch ein Portal in eine andere Welt voller
Zauberwesen gelangen – die "Narnia"-Geschichten oder "Der Zauberer
von Oz" sind nur zwei Beispiele, wobei vor allem Sam Raimis Prequel
"Die fantastische Welt von Oz" eine deutliche Inspirationsquelle für
"Der Nußknacker und die vier Reiche" ist. Aber deshalb ist der Film
ja noch lange nicht schlecht. Wenn jedoch die eigentliche Handlung so dünn ist,
daß man ihren Verlauf inklusive der fast obligatorischen "überraschenden" Wendung sehr
früh erahnen kann, dann ist das definitiv nicht gut. Das gilt auch für
Charaktere, die so flach und persönlichkeitsarm bleiben, daß es
ironischerweise sogar ganz gut dazu paßt, daß sie eben nur zum Leben erweckte
Spielzeuge sind.
Zumindest Protagonistin Clara und ansatzweise auch ihre –
nur im ersten Akt eine wirkliche Rolle spielende – Familie sind ziemlich glaubwürdig gezeichnet. Die von der trotz ihres jungen Alters erstaunlich erfahrenen Mackenzie Foy ("Conjuring",
"Interstellar") verkörperte Clara ist eine sympathische
Protagonistin, deren Schmerz ob des Verlustes ihrer Mutter man natürlich gut nachvollziehen
kann und der man auch kleinere Fehler im Umgang mit ihrem trauernden Vater oder
den Zauberwesen im Phantasiereich nachsieht. Fast alle anderen Figuren kommen
dagegen viel zu kurz, um überhaupt die Chance zu erhalten, eine Persönlichkeit
zu entwickeln. Lediglich Newcomer Jayden Fowora-Knight (der zuvor nur einen Miniauftritt in "Ready Player One" absolvierte) als stets loyal an
Claires Seite streitender Nußknacker-Soldat Philip Hoffman hat eine größere
Rolle, doch mehr als seine Loyalität bleibt von ihm letztlich auch nicht im
Gedächtnis. Noch schlechter sieht es für die großen Namen des Films
aus, denn weder Helen Mirren noch Morgan Freeman oder Keira Knightley bekommen
viel zu tun. Dank ihres Könnens und ihres Charismas bereichern sie "Der
Nußknacker und die vier Reiche" trotzdem, das ändert aber nichts daran,
wie verschenkt ihre Mitwirkung ist. Wobei zumindest Knightley im letzten
Filmdrittel kurz ihr Können aufblitzen lassen darf, wenn die von ihr
verkörperte Zuckerfee im Kampf gegen Mutter Ingwer eine andere Seite zeigt. Bis
dahin habe ich mich schon gefragt, warum sich eine Schauspielerin ihren
Kalibers für eine derart läppische Rolle mit Piepsstimme hergibt; doch dann
hat sie tatsächlich einige richtig gute Szenen, die Knightley spielerisch an
sich reißt und die mich haben wünschen lassen, diese Ausprägung der Zuckerfee
würde ein eigenes Spin-Off bekommen – dann idealerweise mit höherer
Altersfreigabe, bei der Knightley hier lediglich angedeutete Facetten der Zuckerfee
voll ausspielen könnte. Nunja, dazu wird es angesichts des kommerziellen
Mißerfolges von "Der Nußknacker und die vier Reiche" natürlich nie
kommen, aber man wird ja noch träumen dürfen …
Bedauerlicherweise hält das Knightley-Hoch nur einige Minuten an, ehe sich ein mittelmäßiges und sehr überschaubar
spektakuläres Finale anschließt. Das ist immerhin deutlich besser als der
Mittelteil des Films, in dem die Story besonders schwächelt und in erster Linie
Langeweile vorherrscht. Das liegt auch am in der Theorie spannenden Versuch,
die Ballett-Vorlage mit dem Film und Hoffmanns Märchen zu verquicken, indem die
Regenten der nicht abtrünnigen Reiche (das Land der Süßigkeiten, das Land
der Schneeflocken und das Land der Blumen) Clara die Story ihrer Mutter
und ihrer Schöpfung durch eine Ballettaufführung vermitteln. Dummerweise hat
die Aufführung inhaltlich nichts Neues zu erzählen, da Clara und das Publikum
alles schon vorher erfahren haben oder es sich selbst zusammenreimen können.
Insofern wird überdeutlich, daß der mehrminütige Einschub sich eben nicht
harmonisch in die Geschichte einfügt, sondern nur dem Zweck dient, die
Verbindung zu Tschaikowskis Ballett zu verdeutlichen. Dabei ist die Aufführung
selbst tänzerisch sicherlich erstklassig, immerhin hat man mit der
US-Amerikanerin Misty Copeland (die erste afroamerikanische Primaballerina) und
dem Russen Sergei Polunin zwei Ballett-Weltstars verpflichtet – und Lang Lang
ist als Klavier-Solist bei der "Nußknacker-Suite" zu hören.
Wohlgemerkt spielt Tschaikowskis weltberühmte Musik nicht allein in dieser
dramaturgisch überflüssigen Sequenz eine bedeutende Rolle, sondern im gesamten
Film, denn Komponist James Newton Howard ("Phantastische Tierwesen") hat seinen Score konsequent an
Tschaikowskis Melodien angepaßt und beide miteinander verwoben. Das
funktioniert gut und trägt dazu bei, daß der Film nie seinen märchenhaften
Charakter verliert. Das Figurendesign ist derweil ebenfalls gelungen, wenn
auch nicht unbedingt aufsehenerregend. Viele Kreaturen sind nunmal einfach zum
Leben erweckte Spielzeuge, doch gibt es auch spannendere Wesen wie den
ziemlich gruselig aussehenden Mäusekönig – bemerkenswert für eine
Altersfreigabe ab 0 Jahren. Letztlich ist "Der Nußknacker und die vier
Reiche" kein guter Film, denn dafür ist die Handlung einfach zu dünn und
ist die Figurenzeichnung zu schwach ausgeprägt – aber als weihnachtlicher
Wohlfühlfilm mit toller Optik und einer sympathischen Protagonistin ist dieses
Disney-Märchen durchaus sehenswert.
Fazit: "Der Nußknacker und die vier Reiche"
krankt an einem starken Mangel an Originalität und an einer wenig erinnerungswürdigen
Story, sieht jedoch richtig gut aus und bleibt bei allen Schwächen jederzeit
sympathisch.
Wertung: Gut 6 Punkte.
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