Regie und Drehbuch: Adam McKay, Musik: Nicholas Britell
Darsteller:
Christian Bale, Amy Adams, Steve Carell, Sam Rockwell, Jesse Plemons, Tyler
Perry, LisaGay Hamilton, Alison Pill, Lily Rabe, Eddie Marsan, Justin Kirk,
Shea Whigham, Don McManus, Bill Camp, Stephen Adly Guirgis, Matthew Jacobs,
William Goldman, Adam Bartley, John Hillner, Alex MacNicoll, Cailee Spaeny,
Alfred Molina, Naomi Watts
FSK: 12, Dauer: 134 Minuten.
1963 sieht es nicht rosig aus für den 22 Jahre alten
Dick Cheney (Christian Bale, "The Dark Knight"): Er fliegt achtkantig
aus Yale raus, nachdem er dort nur bei Partys und Saufgelagen auffiel, kehrt
daraufhin in seine Heimat ins ländliche Wyoming zurück, wo er an Stromleitungen
arbeitet und weiterhin säuft und sich prügelt. Als er zum
wiederholten Mal wegen Trunkenheit am Steuer festgenommen wird und lediglich durch
die Beziehungen seiner Familie glimpflich davonkommt, setzt ihm seine
ehrgeizige Frau Lynne (Amy Adams, "Arrival") die metaphorische
Pistole auf die Brust und droht ihm mit Scheidung, wenn er sich nicht endlich
zusammenreißt und etwas aus seinem Leben macht. Das funktioniert. Dick schwört
dem Alkohol ab, schafft den Studienabschluß in Politikwissenschaft und
ergattert 1968 ein Praktikum im Weißen Haus als Assistent des republikanischen
Politikers Donald Rumsfeld (Steve Carell, "Café Society"),
Wirtschaftsberater des amtierenden Präsidenten Nixon. Obwohl das nicht von
Dauer ist, weil Rumsfeld später einen internen Machtkampf verliert, kann sich
Dick ausreichend Beziehungen erarbeiten, um zunächst einen hochdotierten Job in
der Wirtschaft zu bekommen und nach Nixons Sturz durch die Watergate-Affäre
gestärkt in die Politik zurückzufinden. Letztlich wird ihn sein Weg bis zum
Vizepräsidenten während der achtjährigen Amtszeit von George W. Bush (Sam Rockwell,
"Ganz weit hinten") von 2001 bis 2009 führen, wo er als eigentlicher Präsident gilt …
Kritik:
Wenn es um Historienfilme (oder -serien) geht, gibt es – die
dazwischenliegenden Positionen vernachlässige ich der Anschaulichkeit wegen –
zwei ziemlich gegensätzliche Meinungen, die aufeinanderprallen:
"Unterhaltungswert schlägt historische Genauigkeit" versus "wenn
es nicht zu 100 % historisch korrekt ist, ist es Mist". Ich zähle
mich eigentlich zu der ersten Fraktion, denn es gibt ja nicht grundlos die Unterscheidung zwischen Spielfilmen und Dokumentationen. Letztlich ist es aber
doch eher eine "Ja, aber"-Einstellung, denn wenngleich mir die
historische Korrektheit nicht sonderlich wichtig ist, sollte die Geschichte
natürlich auch nicht komplett auf den Kopf gestellt werden. Dies gilt umso mehr,
je näher das Gezeigte in der Vergangenheit liegt. Und damit wären wir auch
schon bei dem großen Problem von "Vice – Der zweite Mann", dem satirischen
Politiker-Biopic von Adam McKay, der zuvor in dem OSCAR-prämierten
"The Big Short" die Ursachen der weltweiten Wirtschafts- und
Finanzkrise ab 2007 aufs Korn nahm. Dafür hatte er aber mit einem
Sachbuch-Bestseller von Michael Lewis eine Vorlage von einem renommierten
Experten, der sich in der Thematik bestens auskennt, weshalb der Film eine
zugespitzte, aber alles in allem doch akkurate Zusammenfassung der realen
Geschehnisse und Zusammenhänge bot. Für "Vice" konnte sich Adam McKay
nicht auf eine solche Basis verlassen, er verfaßte das Drehbuch auf eigene
Faust. Das ist mutmaßlich der Grund dafür, daß der Film zwar unterhaltsam und
auf den ersten Blick ungemein erkenntnisreich geraten ist, einer genaueren
Betrachtung der Realität jedoch in zu vielen Punkten nicht standhält. So kurios
es klingt: Die Schilderung des Machtmenschen Cheney in "Vice"
ergibt genau deshalb auch hinsichtlich der Zusammenhänge mit dem heutigen
Politklima in den USA so viel Sinn, weil sie in etlichen Aspekten frei erfunden
oder zumindest extrem wagemutig spekuliert ist. Und obwohl "Vice" das
relativ offen gleich zu Beginn einräumt (mit Verweis auf die fast
schon legendäre Verschlossenheit des wahren Dick Cheney, die freie
Interpretationen der Filmemacher geradezu erzwingt), macht es eine qualitative Einordnung
des Films ungewöhnlich schwierig.
Wenn man sich "Vice" nämlich in dem Glauben anschaut,
das Gezeigte würde wenigstens im Wesentlichen der Realität entsprichen, dann
wirkt alles so wunderbar logisch, wie es das in der Realität wohl leider
nur selten der Fall ist. McKay schlägt ausgesprochen kunstvoll den Bogen von
Cheneys Wirken in der Vergangenheit zum aktuellen Trumpismus und der unversöhnlichen Zerrissenheit einer ganzen Nation: So macht er Cheney zum
indirekten Wegbereiter von Fox News, offenbart die Heuchelei der
republikanischen "Aber ihre E-Mails!"-Empörung bezüglich Hillary
Clinton und zeigt auf, wie aus einer recht vorwärtsgewandten
republikanischen Partei, die noch in den 1980er Jahren (unter George Bush Sr.)
den Klimawandel zum Wahlkampfthema erhob (!), eine Partei der Fakten- und
Wissenschaftsleugner wurde – er impliziert gar Cheneys Einfluß auf das
folgenreiche Wirken der Supreme Court-Ikone der Konservativen, Antonin Scalia
(z.B. bei der Florida-Entscheidung bei der Wahl zwischen Al Gore und George W.
Bush). Es wird also eine ziemlich gerade Linie zwischen Dick Cheney und der
Trump-Ära gezogen, die wunderbar Sinn ergibt. Das Problem: Nach meiner (zugegeben nicht erschöpfenden) Recherche stimmt wohl nur etwa die Hälfte davon. Ja, bei Cheney und Bush Jr.
sind schon lange vor Hillary Clinton auf wundersame Weise Millionen von E-Mails
verschwunden. Aber nein, Cheney hatte höchstwahrscheinlich nichts damit zu tun,
daß Propaganda-Sender wie Fox News ermöglicht wurden (dafür war er in
den 1980ern in der Parteihierarchie noch nicht hoch genug geklettert). Ja,
Cheney war daran beteiligt, die Stimmung in Politik und Gesellschaft durch
verschärfende ("Todessteuer" statt "Erbschaftssteuer") oder
polemische Begriffe (Klimawissenschaft als "bad science") zu
vergiften. Aber nein, er hat Antonin Scalia so gut wie sicher nicht schon so früh
kennengelernt wie im Film und so weit es sich beurteilen läßt, hat der Oberste
Richter sich nicht von Cheney beeinflussen lassen. Es ist also McKays leicht
trotzige, in der Tonalität ein wenig an Michael Moores polemische, betont
einseitige (faktisch aber vermutlich korrektere) Mehr-oder-weniger-Dokus
erinnernde "Es KÖNNTE aber so gewesen sein!"-Attitüde mehr als deutlich
erkennbar, was der Glaubwürdigkeit seines Films naturgemäß nicht nutzt.
Abseits der Glaubwürdigkeitsproblematik – die, wie erwähnt, jeder Zuschauer unterschiedlich schwer gewichten dürfte – ist
"Vice" aber natürlich sehr kompetent gemacht. McKay hat sich bei
seinem Drehbuch offensichtlich an seinem "The Big Short" orientiert und
versucht, dessen Erfolgsrezept von der Wirtschaft auf die Politik zu
übertragen. Größtes Erkennungszeichen von "The Big Short" waren ja die
innovativen Spielereien, mit denen er die trockene Thematik auch damit weniger
vertrauten Zuschauern schmackhaft machte (wer erinnert sich nicht an Margot
Robbie, die im Schaumbad liegend und mit einem Champagnerglas in der Hand
Fachbegriffe erklärt?); davon gibt es auch in "Vice" einige und sie
funktionieren ähnlich gut. Ob es mitten im Film ein Fake-Happy End gibt
oder sich das Ehepaar Dick und Lynne in Versen wie aus einer
Shakespeare-Tragödie unterhält (was erstaunlich gut funktioniert!) ... das sind
witzige und gut umgesetzte Ideen, die etwas Lockerheit in die
Geschichte einbringen. Die ist allerdings auch dringend vonnöten, denn im
Vergleich zu "The Big Short" kommt der satirische Witz letztlich
deutlich kürzer – aus dem Leben eines ebenso brillanten wie skrupellosen
Machtmenschen wie Dick Cheney kann man nun einmal nur in begrenztem Ausmaß
Komödiantisches herausholen. Problematisch ist zudem, daß es McKay trotz einer
herausragenden, u.a. mit einem Golden Globe und einer OSCAR-Nominierung
belohnten Leistung von Hauptdarsteller Christian Bale – der wie sein OSCAR-Konkurrent
Viggo Mortensen in "Green Book" über 20 Kilo für die Rolle zunahm und dank der grandiosen Arbeit der Makeup-Abteilung kaum noch zu erkennen ist (am
Ende unterlagen beide dem Freddie Mercury-Imitator Rami Malek aus
"Bohemian Rhapsody") – nicht wirklich gelingt, dem Publikum den
Menschen Cheney nahezubringen. Im Gegensatz zur aufrecht konservativen
Lynne ist Dick ein ultimativer Opportunist ohne echte Überzeugungen, der in
jeder noch so dramatischen Situation in erster Linie eine Chance für seinen
persönlichen Aufstieg sieht. Im Grunde genommen ist McKays und Bales Cheney in seiner Skrupellosigkeit und Egozentrik ein Donald Trump mit Manieren,
Selbstbeherrschung und Intelligenz, jedoch ohne dessen schleimiges
Gebrauchtwagenverkäufer-Charisma. Eine ideale Kombination, um Erfolg in der
Politik zu haben – keine so gute für den Staat, den er (mit)lenkt …
Wie so viele Biopics leidet auch der mehr als ein halbes
Jahrhundert abdeckende "Vice" unter einer gewissen, recht
sprunghaften Anekdotenhaftigkeit, außerdem dringt er kaum einmal tief unter die
Oberfläche seines Protagonisten ein – kein Wunder angesichts des Wenigen, was
man über den echten Dick Cheney weiß, der sich von einem als
verantwortungsbewußt und hochprofessionell geachteten Politiker unter George Bush
Sr. in den frühen 1990er Jahren (eine Phase, die im Film kaum vorkommt) zehn
Jahre später als Vizepräsident scheinbar ansatzlos und selbst für intensive
Beobachter kaum zu erklärend zu einem Fanatiker entwickelte, der Foltermethoden
wie Waterboarding legitimierte und die Polarisierung und Extremisierung der
US-amerikanischen Gesellschaft mitleidlos vorantrieb. Trotzdem ist das ein
Problem, zumal die Nebenfiguren (bis auf Lynne) fast komplett als
überspitzte Karikaturen ihrer selbst gezeichnet werden, als Witzfiguren
beinahe, womit gerade ein George W. Bush oder ein Donald Rumsfeld gefährlich
verharmlost werden. Wobei ich gerne zugebe, daß beide innerhalb der Geschichte,
die "Vice" erzählt, gut funktionieren und ihren Darstellern Sam
Rockwell und Steve Carrell viel Raum zum Glänzen geben (etwa wenn der junge
Cheney Rumsfeld fragt, woran sie eigentlich glauben, worauf dieser nur
schallend lacht …). Während sie vergleichsweise gut wegkommen, gibt es bei
Dick Cheney eigentlich nur eine Entscheidung, die ihn sympathisch erscheinen
läßt – die ist privater Natur und wird am Ende von ihm doch noch verraten, womit er endgültig wie ein Teufel in Menschengestalt wirkt. Daß man
ihm trotzdem, begleitet von der schwungvollen Musik von Nicholas Britell ("Moonlight"), gern zwei Stunden lang beim Planen und Manipulieren zusieht,
liegt vor allem an Christian Bale, der sich einmal mehr höchst wandlungsfähig
zeigt, auch aufgrund der OSCAR-prämierten Maske (der einzige Sieg bei acht Nominierungen) den Alterungsprozeß
bemerkenswert glaubwürdig rüberbringt (bei Lynne gelingt das trotz einer
starken Leistung von Amy Adams nicht ganz so gut, sie wirkt mit 70
nicht viel älter als mit 20) und bei aller Überhöhung als politischer Bösewicht immer noch den Menschen Dick Cheney durchscheinen läßt. "Vice"
endet übrigens mit Cheneys Bemühungen, seiner Tochter Liz (Lily Rabe, TV-Serie
"American Horror Story") zur Wahl zur Kongreßabgeordneten zu
verhelfen – wie akkurat das auch immer dargestellt sein mag, Fakt ist: Liz
Cheney sitzt im Jahr 2019 für die Republikaner im Kongreß und verbreitet bei
Twitter mit Genuß abseitige Verschwörungstheorien aus der Rightwing-Filterblase,
sie scheint also nach ihrem Vater zu kommen – eine filmische Dämonisierung ist
da kaum nötig. Angesichts dessen klingt die berühmte "West Side
Story"-Hymne "America" als Abspann-Song von "Vice" so
zynisch wie vermutlich nie zuvor ... Nach dem ersten Teil des Abspanns gibt es übrigens eine amüsante, wenn auch ob der historischen Ungenauigkeiten etwas
heuchlerische zusätzliche Szene.
Fazit: "Vice – Der zweite Mann" ist ein
kunstvolles, zwischen Satire und (gesellschaftlicher) Tragödie schwankendes
Biopic eines der global prägendsten konservativen Politiker der letzten
Jahrzehnte, das ausgezeichnet gespielt ist, sich aber mit übermäßiger
künstlerischer Freiheit selbst schadet.
Wertung: Wäre alles oder das meiste wahr oder wäre
mir historische Korrektheit vollkommen gleichgültig, würde ich 8,5 Punkte geben. Wäre mir historische Genauigkeit am wichtigsten, dann wohl
maximal 5 Punkte. Da es nunmal ein Spielfilm ist und keine Doku, entscheide ich
mich für knapp 7,5 Punkte.
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