Originaltitel:
Les quatre cents coups
Regie:
François Truffaut, Drehbuch: Marcel Moussy, François Truffaut, Musik: Jean
Constantin
Darsteller:
Jean-Pierre Léaud, Claire Maurier, Albert Rémy, Patrick Auffay, Georges
Flamant, Yvonne Claudie, Guy Decomble, Claude Mansard, Philippe de Broca,
Jacques Demy, Jeanne Moreau, François Truffaut
Paris in den 1950er Jahren: Der 14-jährige Antoine
(Jean-Pierre Léaud, "Vertrag mit meinem Killer") ist im Grunde genommen ein typischer Teenager, der
allerdings bei seiner Mutter (Claire Maurier, "Die fabelhafte Welt der Amélie") und seinem Stiefvater (Albert
Rémy, "Schießen Sie auf den Pianisten") kein übermäßig liebevolles Zuhause hat. In der Schule heckt er mit seinem
besten Freund René (Patrick Auffay in seiner einzigen Rolle vor der Kamera) gerne Streiche aus, die ihn bei seinem
strengen Klassenlehrer (Guy Decomble, "Tatis Schützenfest") wenig überraschend nicht übermäßig beliebt
machen – was wiederum auch ein Grund dafür ist, daß Antoine die Schule immer
häufiger schwänzt. Als er eines Tages auffliegt, scheint ihn das seiner
Mutter zunächst sogar etwas näherzubringen – bis er wiederum Mist baut,
wegläuft und sich bei René versteckt …
Kritik:
Wenn Akira Kurosawa – einer der großartigsten Filmemacher
aller Zeiten und Schöpfer von Meisterwerken im Dutzend ("Die sieben
Samurai", "Rashomon", "Kagemusha",
"Nachtasyl", "Ran") –, einen Film lobt, dann muß der schon etwas Besonderes
sein. Wenn Akira Kurosawa über François Truffauts Langfilm-Regiedebüt sagt, es
sei einer der schönsten Filme, die er je gesehen habe … dann muß er wohl ein echtes Kunstwerk sein. Auf "Sie küßten und sie schlugen ihn"
trifft das zweifellos zu, denn in seinem ersten Kinofilm erzählt der
eigentliche Filmkritiker Truffaut eine etwas andere Coming of Age-Geschichte,
die sich in vielerlei Hinsicht als prägend herausstellen sollte: für das französische Kino als
Ausgangspunkt der legendären "Nouvelle Vague", damit aber auch für
das europäische Kino insgesamt, das Truffaut, Godard, Chabrol oder Rohmer
nacheiferte (Stichwort Fassbinder in Deutschland) – und in geringerem Ausmaß
und mit Verspätung für die weltweite Kinolandschaft (Stichwort "New
Hollywood").
Der oft wehmütigen, die Vergangenheit verklärenden
Filmlandschaft seines Landes, ja sogar des gesamten Kontinents – das deutsche Kino
etwa wurde zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von "Sie küßten und sie
schlugen ihn" noch von anspruchslosen Heimatfilmen dominiert –
setzte Truffaut einen formal anspruchsvollen, dabei inhaltlich schonungslos
direkten, aber von tiefem Mitgefühl durchzogenen Blick auf das trostlose
Heranwachsen eines vernachlässigten, mißverstandenen Teenagers in einer
streng reglementierten, kaum verzeihenden Gesellschaft entgegen. Trotz der eigentlich ziemlich deprimierenden, klar gesellschaftskritischen Handlung gelingt Truffaut in seinem (übrigens
autobiographisch geprägten) Schwarz-Weiß-Film aber das Kunststück, eine
geradezu umwerfende Poesie in die Erzählung und die zentralen
Charaktere einzuflechten. Die Kombination aus im Kern simplem, aber
schonungslos genau beobachteten Realismus und betörender Poesie ist es, die
"Sie küßten und sie schlugen ihn" nicht nur zu einem der prägenden
Filme des europäischen Kinos macht, sondern zu einem bis heute tief berührenden
Meisterwerk.
Ein Teil des Vermächtnisses von "Sie küßten und sie
schlugen ihn" ist, daß er den Auftakt zu einem in dieser Form wohl
einmaligen Filmzyklus darstellt, der über 20 Jahre hinweg und in fünf Filmen (darunter
als direkte Fortsetzung der wunderbare 30-Minüter "Antoine und Colette",
in dem der 17-jährige Antoine seine erste Liebe erfährt) die verschiedenen
Lebensstationen seines Protagonisten Antoine Doinel schildert. Dabei wechselt
Truffaut munter die Genres, speziell beim dritten Teil "Geraubte
Küsse" dominieren beispielsweise die komödiantischen Elemente. Gespielt
wird Doinel stets von Jean-Pierre Léaud, der beim Erscheinen von "Sie
küßten und sie schlugen ihn" gerade 15 Jahre alt war und sich als echter
Glücksgriff erwies, der regelrecht mit seiner Rolle verschmolz (deren langlebigen
Erfolg er anderweitig trotz Mitwirkung in einigen bekannten Filmen nie
reproduzieren konnte). Ohne ihn als glaubwürdigen Protagonisten, mit dem sich
vermutlich jeder, der seine Jugendzeit noch nicht vollkommen vergessen hat, bis
zu einem gewissen Grad identifizieren kann – selbst wenn er oder sie ein
braver Musterschüler war – könnte "Sie küßten und sie schlugen ihn"
nicht so wunderbar funktionieren wie er es eben tut. Die Verlorenheit und
Ziellosigkeit, die jeder Teenager irgendwann einmal durchlebt, bringt
Léaud authentisch und ohne dramatische Übertreibungen zum Ausdruck, ebenso aber
auch in den gelegentlichen glücklichen Momenten kindliche Spielfreude. Und weil man
dank Truffauts und Moussys genau beobachtendem Drehbuch sowie Léauds starkem Schauspiel die wenig
kinderfreundliche Pariser Nachkriegswelt mit Antoines Augen,
entfalten seine vorwiegend negativen Erlebnisse – an denen er natürlich oft auch
nicht gerade schuldlos ist – trotz ihrer Einfachheit und einem für heutige
Sehgewohnheiten recht gemächlichen Erzähltempo eine so stark emotionalisierende
Wirkung auf das Publikum.
Fazit: "Sie küßten und sie schlugen ihn"
ist das erste Ausrufezeichen der "Nouvelle Vague", ein Coming of
Age-Film, der einen authentischen, aber von Poesie durchzogenen Blick auf das
Heranwachsen in der wenig kinderfreundlichen Gesellschaft der 1950er Jahre
wirft.
Wertung: 9 Punkte.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen