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In eigener Sache: Mein neues Filmbuch

Einigen Lesern ist bestimmt aufgefallen, daß ich in der rechten Spalte meines Blogs seit längerer Zeit das Cover meines neuen Buchs präsen...

Mittwoch, 9. März 2016

Klassiker-Rezension: SIE KÜSSTEN UND SIE SCHLUGEN IHN (1959)

Originaltitel: Les quatre cents coups
Regie: François Truffaut, Drehbuch: Marcel Moussy, François Truffaut, Musik: Jean Constantin
Darsteller: Jean-Pierre Léaud, Claire Maurier, Albert Rémy, Patrick Auffay, Georges Flamant, Yvonne Claudie, Guy Decomble, Claude Mansard, Philippe de Broca, Jacques Demy, Jeanne Moreau, François Truffaut
Sie küßten und sie schlugen ihn
(1959) on IMDb Rotten Tomatoes: 99% (9,4); FSK: 12, Dauer: 99 Minuten.

Paris in den 1950er Jahren: Der 14-jährige Antoine (Jean-Pierre Léaud, "Vertrag mit meinem Killer") ist im Grunde genommen ein typischer Teenager, der allerdings bei seiner Mutter (Claire Maurier, "Die fabelhafte Welt der Amélie") und seinem Stiefvater (Albert Rémy, "Schießen Sie auf den Pianisten") kein übermäßig liebevolles Zuhause hat. In der Schule heckt er mit seinem besten Freund René (Patrick Auffay in seiner einzigen Rolle vor der Kamera) gerne Streiche aus, die ihn bei seinem strengen Klassenlehrer (Guy Decomble, "Tatis Schützenfest") wenig überraschend nicht übermäßig beliebt machen – was wiederum auch ein Grund dafür ist, daß Antoine die Schule immer häufiger schwänzt. Als er eines Tages auffliegt, scheint ihn das seiner Mutter zunächst sogar etwas näherzubringen – bis er wiederum Mist baut, wegläuft und sich bei René versteckt …

Kritik:
Wenn Akira Kurosawa – einer der großartigsten Filmemacher aller Zeiten und Schöpfer von Meisterwerken im Dutzend ("Die sieben Samurai", "Rashomon", "Kagemusha", "Nachtasyl", "Ran") –, einen Film lobt, dann muß der schon etwas Besonderes sein. Wenn Akira Kurosawa über François Truffauts Langfilm-Regiedebüt sagt, es sei einer der schönsten Filme, die er je gesehen habe … dann muß er wohl ein echtes Kunstwerk sein. Auf "Sie küßten und sie schlugen ihn" trifft das zweifellos zu, denn in seinem ersten Kinofilm erzählt der eigentliche Filmkritiker Truffaut eine etwas andere Coming of Age-Geschichte, die sich in vielerlei Hinsicht als prägend herausstellen sollte: für das französische Kino als Ausgangspunkt der legendären "Nouvelle Vague", damit aber auch für das europäische Kino insgesamt, das Truffaut, Godard, Chabrol oder Rohmer nacheiferte (Stichwort Fassbinder in Deutschland) – und in geringerem Ausmaß und mit Verspätung für die weltweite Kinolandschaft (Stichwort "New Hollywood").

Der oft wehmütigen, die Vergangenheit verklärenden Filmlandschaft seines Landes, ja sogar des gesamten Kontinents – das deutsche Kino etwa wurde zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von "Sie küßten und sie schlugen ihn" noch von anspruchslosen Heimatfilmen dominiert – setzte Truffaut einen formal anspruchsvollen, dabei inhaltlich schonungslos direkten, aber von tiefem Mitgefühl durchzogenen Blick auf das trostlose Heranwachsen eines vernachlässigten, mißverstandenen Teenagers in einer streng reglementierten, kaum verzeihenden Gesellschaft entgegen. Trotz der eigentlich ziemlich deprimierenden, klar gesellschaftskritischen Handlung gelingt Truffaut in seinem (übrigens autobiographisch geprägten) Schwarz-Weiß-Film aber das Kunststück, eine geradezu umwerfende Poesie in die Erzählung und die zentralen Charaktere einzuflechten. Die Kombination aus im Kern simplem, aber schonungslos genau beobachteten Realismus und betörender Poesie ist es, die "Sie küßten und sie schlugen ihn" nicht nur zu einem der prägenden Filme des europäischen Kinos macht, sondern zu einem bis heute tief berührenden Meisterwerk.

Ein Teil des Vermächtnisses von "Sie küßten und sie schlugen ihn" ist, daß er den Auftakt zu einem in dieser Form wohl einmaligen Filmzyklus darstellt, der über 20 Jahre hinweg und in fünf Filmen (darunter als direkte Fortsetzung der wunderbare 30-Minüter "Antoine und Colette", in dem der 17-jährige Antoine seine erste Liebe erfährt) die verschiedenen Lebensstationen seines Protagonisten Antoine Doinel schildert. Dabei wechselt Truffaut munter die Genres, speziell beim dritten Teil "Geraubte Küsse" dominieren beispielsweise die komödiantischen Elemente. Gespielt wird Doinel stets von Jean-Pierre Léaud, der beim Erscheinen von "Sie küßten und sie schlugen ihn" gerade 15 Jahre alt war und sich als echter Glücksgriff erwies, der regelrecht mit seiner Rolle verschmolz (deren langlebigen Erfolg er anderweitig trotz Mitwirkung in einigen bekannten Filmen nie reproduzieren konnte). Ohne ihn als glaubwürdigen Protagonisten, mit dem sich vermutlich jeder, der seine Jugendzeit noch nicht vollkommen vergessen hat, bis zu einem gewissen Grad identifizieren kann – selbst wenn er oder sie ein braver Musterschüler war – könnte "Sie küßten und sie schlugen ihn" nicht so wunderbar funktionieren wie er es eben tut. Die Verlorenheit und Ziellosigkeit, die jeder Teenager irgendwann einmal durchlebt, bringt Léaud authentisch und ohne dramatische Übertreibungen zum Ausdruck, ebenso aber auch in den gelegentlichen glücklichen Momenten kindliche Spielfreude. Und weil man dank Truffauts und Moussys genau beobachtendem Drehbuch sowie Léauds starkem Schauspiel die wenig kinderfreundliche Pariser Nachkriegswelt mit Antoines Augen, entfalten seine vorwiegend negativen Erlebnisse – an denen er natürlich oft auch nicht gerade schuldlos ist – trotz ihrer Einfachheit und einem für heutige Sehgewohnheiten recht gemächlichen Erzähltempo eine so stark emotionalisierende Wirkung auf das Publikum.

Fazit: "Sie küßten und sie schlugen ihn" ist das erste Ausrufezeichen der "Nouvelle Vague", ein Coming of Age-Film, der einen authentischen, aber von Poesie durchzogenen Blick auf das Heranwachsen in der wenig kinderfreundlichen Gesellschaft der 1950er Jahre wirft.

Wertung: 9 Punkte.


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