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In eigener Sache: Mein neues Filmbuch

Einigen Lesern ist bestimmt aufgefallen, daß ich in der rechten Spalte meines Blogs seit längerer Zeit das Cover meines neuen Buchs präsen...

Mittwoch, 11. Januar 2023

IM WESTEN NICHTS NEUES (2022)

Internationaler Titel: All Quiet on the Western Front
Regie: Edward Berger, Drehbuch: Edward Berger, Lesley Paterson, Ian Stokell, Musik: Volker Bertelmann
Darsteller: Felix Kammerer, Albrecht Schuch, Edin Hasanović, Aaron Hilmer, Adrian Grünewald, Moritz Klaus, Daniel Brühl, Devid Striesow, Thibault de Montalembert, Sebastian Hülk, Andreas Döhler, Michael Wittenborn
All Quiet on the Western Front (2022) on IMDb Rotten Tomatoes: 91% (8,3); FSK: 16, Dauer: 148 Minuten.
Im Frühjahr 1917 und damit drei Jahre nach Beginn des Ersten Weltkrieges melden sich der Kleinstadt-Gymnasiast Paul Bäumer (Felix Kammerer) und einige Klassenkameraden freiwillig zum Kriegsdienst, aufgestachelt durch die aufpeitschenden Reden des Schuldirektors (Michael Wittenborn, "Wir sind die Neuen"). Angekommen an der Westfront, wo der brutale Grabenkrieg seit Jahren praktisch eingefroren ist, sieht es allerdings ganz anders aus als gedacht und die Kriegslust der jungen Männer verwandelt sich zwischen Scharfschützen und Gasangriffen rasch in endloses Grauen. Etwas Halt finden die Jungs beim erfahrenen Stanislaus "Kat" Katczinsky (Albrecht Schuch, "Schachnovelle"), der ihnen die Grundlagen des Überlebens an der Front beibringt, und beim etwas naiven, jedoch freundlichen Norddeutschen Tjaden Stackfleet (Edin Hasanovic, "Mein Ende. Dein Anfang."). Eineinhalb Jahre später hat sich an der Front wenig geändert, jedoch ist die deutsche Niederlage angesichts inzwischen zehntausender Toter pro Woche eigentlich nicht mehr zu verhindern. So führt der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger (Daniel Brühl, "Rush") nach der Abdankung von Kaiser Wilhelm eine Delegation an, die mit den Franzosen um Marschall Ferdinand Foch (Thibault de Montalembert, TV-Serie "Call My Agent") einen Waffenstillstand verhandeln soll – allerdings gegen den Willen des deutschen Militärs ...

Kritik:
Und wieder einmal stellt sich die altbekannte Frage: Muß oder sollte man einen anerkannten Filmklassiker unbedingt neuverfilmen? Häufig – und vor allem rückblickend betrachtet – lautet die (oft nicht beachtete) Antwort "Nein!", doch im Fall von "Im Westen nichts Neues" gibt es tatsächlich gute Gründe für eine Neuverfilmung. Erstens wird Lewis Milestones im Jahr 1929 veröffentlichte Adaption des Anti-Kriegsromans von Erich Maria Remarque zwar zu den besten Filmen aller Zeiten gezählt, ist aber inzwischen bald 100 Jahre alt und erreicht heutzutage nur noch echte Cineasten. Zweitens ist Delbert Manns Adaption fürs US-Fernsehen von 1979 zwar ebenfalls erstaunlich gut gelungen und noch nicht gar so alt – aber als TV-Film außerhalb der USA trotz namhafter Besetzung wenig bekannt. Und drittens ergibt es natürlich Sinn, daß ein deutscher Anti-Kriegsroman, der ausdrücklich die deutsche Perspektive im Ersten Weltkrieg einnimmt, irgendwann auch in Deutschland verfilmt wird. Kurz nach der Veröffentlichung war das wegen der Machtübernahme der Nazis nicht möglich, nach dem Zweiten Weltkrieg wollte man sich wohl nicht so schnell mit Milestones Meisterwerk messen und konzentrierte sich auf die Adaption anderer Anti-Kriegsromane wie Gregor Dorfmeisters "Die Brücke" (1959 verfilmt von Bernhard Wicki). Und in der weltpolitischen Umgebung des Jahres 2022, in welcher das Kriegführen sogar in Europa wieder en vogue zu werden scheint, kann ein engagierter Anti-Kriegsfilm sowieso nicht schaden. Auftritt Edward Berger: Der seit seinem auch international beachteten Kinoerfolg "Jack" (2014) gut – wenn auch vor allem im TV-Bereich – beschäftigte Regisseur und Drehbuch-Autor erhielt vom Streamingdienst Netflix die Aufgabe, "Im Westen nichts Neues" erneut zu verfilmen. Das Ergebnis seiner Mühen ist ein vor allem technisch überzeugender Anti-Kriegsfilm – der aber aufgrund allzu vieler inhaltlicher Freiheiten leider keine gute Adaption von Remarques bahnbrechendem Roman ist.

Nachdem sich die ersten beiden Verfilmungen ziemlich eng an die literarische Vorlage hielten, ist es durchaus legitim, daß Berger einen etwas anderen Weg wählt – nur funktionieren seine Änderungen bedauerlicherweise schlechter als Remarques Erzählung. Am schwerwiegendsten ist für mich der weitgehende Verzicht auf eine Einführung der Protagonisten. Im Buch wie auch in den beiden US-Adaptionen werden diese noch in der Heimat recht ausführlich vorgestellt, wir lernen Paul und seine Schulkameraden also kennen und interessieren uns deshalb auch für ihr Schicksal. In Bergers Film wird all das in wenigen Minuten abgefrühstückt, dann geht es mitten hinein in den Krieg, ohne daß wir den Gymnasiasten wirklich nähergekommen wären oder sie – abseits der Hauptfigur Paul – auch nur auseinanderhalten könnten. Mir ist das jedenfalls bis zum Ende nicht wirklich gelungen, aber wenigstens stoßen mit Kat und Tjaden zwei ältere Soldaten mit markanten Gesichtern dazu, sodaß es mit Paul zumindest drei sympathische Charaktere gibt, um die man sich sorgt. Zugegebenermaßen waren die Protagonisten bereits in Remarques Vorlage bewußt nicht allzu tiefgehend charakterisiert, sondern als Stellvertreter bestimmter Typen angelegt; dennoch ist die mangelnde emotionale Nähe zu den Hauptfiguren in Bergers Film ein Schwachpunkt.

Für falsch halte ich es auch, den wichtigen Subplot um den eigentlich freundlichen Briefträger Himmelstoß (im TV-Film von 1979 denkwürdig verkörpert von Sir Ian Holm) aus Pauls Heimatort komplett zu streichen, der als Ausbilder zum Tyrannen wird. Immerhin zeigte dieser u.a. die Folgen des militaristischen Nationalismus besonders eindrücklich auf und auch, wie stark Krieg und übersteigerter Patriotismus die Menschen verändern können (was dazu paßt, daß Berger eben auch die aggressive Kriegspropaganda von Pauls Lehrern stark verkürzt hat und zudem Pauls zwischenzeitlichen Heimatbesuch gestrichen hat). Mir ist nicht ganz klar, warum Berger diese Handlungsstränge für verzichtbar hielt – vielleicht dachte er, für heutige Jugendliche wären solche Figuren wie Himmelstoß gar nicht mehr nachvollziehbar? Seine Entscheidung beraubt die Geschichte jedenfalls um ein wichtiges Element, zumal die ersatzweise neu eingeführte Nebenhandlung um Erzbergers Friedensmission inhaltlich komplett verzichtbar erscheint und wenig Substantielles zu berichten weiß (daß der harte Diktatfrieden eine Grundlage für den Aufstieg des Dritten Reiches war, sollte auch so bekannt sein). Zu guter Letzt führen Bergers dichterische Freiheiten dazu, daß am Ende sogar der lakonische Titel des Films ad absurdum geführt wird. Man kann eindeutig festhalten: Ich bin kein Freund von Bergers freier Adaption des Remarque-Romans!

Jetzt kommt das große ABER: Wenn man die Vorlage außer Acht läßt – so schwer es fällt –, dann erweist sich Edward Bergers "Im Westen nichts Neues" als zwar über weite Strecken recht konventioneller, jedoch gut gemachter Anti-Kriegsfilm, der erstklassig aussieht und sogar noch besser klingt und deshalb nicht zu Unrecht international mit zahlreichen Nominierungen – darunter für den Golden Globe – bedacht wurde. Die Kriegsszenen sind optisch wie akustisch wuchtig und realistisch inszeniert und geraten niemals in den Verdacht, verherrlichend zu sein, zudem hat der britische Kameramann James Friend ("Ghosted") reihenweise schaurig-schöne Bilder geschaffen, die sich selbst mit jenen von Sam Mendes' "1917" oder Steven Spielbergs "Gefährten" messen lassen können. Um den erstklassigen technischen Eindruck abzurunden, beeindruckt auch die minimalistische, aber effektive Musik von Volker Bertelmann ("The Old Guard"), der die grausige Szenerie vor allem mit einem häufig wiederholten, unheilverheißenden Dreiklang gänsehauterzeugend untermalt. Schauspielerisch gibt es wenig Grund zum Klagen, wenn man einmal davon absieht, daß Daniel Brühl ziemlich unterfordert ist: Der österreichische Theater-Schauspieler Felix Kammerer gibt als Paul Bäumer ein überzeugendes Filmdebüt und wird vor allem von den immer verläßlichen Schuch und Masanović tatkräftig unterstützt. Wer also die Roman-Vorlage nicht kennt oder kein Problem mit großen künstlerischen Freiheiten hat, der bekommt mit Netflix' "Im Westen nichts Neues" einen guten Anti-Kriegsfilm geboten.

Fazit: Edward Bergers "Im Westen nichts Neues" ist ein guter, technisch sogar hervorragender Anti-Kriegsfilm, der allerdings die Vorlage sehr frei interpretiert und einige ihrer größten Stärken außer Acht läßt.

Wertung: Knapp 7,5 Punkte.

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