Internationaler Titel: All Quiet on the Western Front
Regie: Edward
Berger, Drehbuch: Edward Berger, Lesley Paterson, Ian Stokell,
Musik: Volker Bertelmann
Darsteller: Felix
Kammerer, Albrecht Schuch, Edin Hasanović,
Aaron Hilmer, Adrian Grünewald, Moritz Klaus, Daniel Brühl, Devid
Striesow, Thibault de Montalembert, Sebastian Hülk,
Andreas Döhler, Michael Wittenborn
Im Frühjahr 1917
und damit drei Jahre nach Beginn des Ersten Weltkrieges melden sich der Kleinstadt-Gymnasiast Paul Bäumer (Felix Kammerer)
und einige Klassenkameraden freiwillig zum Kriegsdienst, aufgestachelt durch die aufpeitschenden Reden des
Schuldirektors (Michael Wittenborn, "Wir sind
die Neuen"). Angekommen an der Westfront, wo der brutale Grabenkrieg seit Jahren praktisch eingefroren ist, sieht es allerdings ganz anders
aus als gedacht und die Kriegslust der jungen Männer verwandelt sich
zwischen Scharfschützen und Gasangriffen rasch in endloses Grauen.
Etwas Halt finden die Jungs beim erfahrenen Stanislaus "Kat"
Katczinsky (Albrecht Schuch, "Schachnovelle"),
der ihnen die Grundlagen des Überlebens an der Front beibringt, und beim etwas naiven, jedoch
freundlichen Norddeutschen Tjaden Stackfleet (Edin Hasanovic, "Mein
Ende. Dein Anfang."). Eineinhalb Jahre später hat sich an der
Front wenig geändert, jedoch ist die deutsche Niederlage angesichts
inzwischen zehntausender Toter pro Woche eigentlich nicht mehr zu
verhindern. So führt der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger
(Daniel Brühl, "Rush") nach der Abdankung von Kaiser Wilhelm eine
Delegation an, die mit den Franzosen um Marschall Ferdinand Foch
(Thibault de Montalembert, TV-Serie "Call My Agent") einen
Waffenstillstand verhandeln soll – allerdings gegen den Willen des
deutschen Militärs ...
Kritik:
Und wieder einmal
stellt sich die altbekannte Frage: Muß oder sollte man einen
anerkannten Filmklassiker unbedingt neuverfilmen? Häufig – und vor
allem rückblickend betrachtet – lautet die (oft nicht beachtete)
Antwort "Nein!", doch im Fall von "Im Westen nichts
Neues" gibt es tatsächlich gute Gründe für eine
Neuverfilmung. Erstens wird Lewis Milestones im Jahr 1929 veröffentlichte
Adaption des Anti-Kriegsromans von Erich Maria Remarque zwar zu den
besten Filmen aller Zeiten gezählt, ist aber inzwischen bald 100
Jahre alt und erreicht heutzutage nur noch echte Cineasten.
Zweitens ist Delbert Manns Adaption fürs US-Fernsehen von
1979 zwar ebenfalls erstaunlich gut gelungen und noch nicht gar so
alt – aber als TV-Film außerhalb der USA trotz namhafter Besetzung
wenig bekannt. Und drittens ergibt es natürlich Sinn, daß ein
deutscher Anti-Kriegsroman, der ausdrücklich die deutsche
Perspektive im Ersten Weltkrieg einnimmt, irgendwann auch in
Deutschland verfilmt wird. Kurz nach der Veröffentlichung war das wegen
der Machtübernahme der Nazis nicht möglich, nach dem Zweiten
Weltkrieg wollte man sich wohl nicht so schnell mit Milestones
Meisterwerk messen und konzentrierte sich auf die Adaption
anderer Anti-Kriegsromane wie Gregor Dorfmeisters "Die Brücke"
(1959 verfilmt von Bernhard Wicki). Und in der weltpolitischen
Umgebung des Jahres 2022, in welcher das Kriegführen sogar in Europa
wieder en vogue zu werden scheint, kann ein engagierter
Anti-Kriegsfilm sowieso nicht schaden. Auftritt Edward Berger: Der
seit seinem auch international beachteten Kinoerfolg "Jack"
(2014) gut – wenn auch vor allem im TV-Bereich – beschäftigte
Regisseur und Drehbuch-Autor erhielt vom Streamingdienst Netflix die
Aufgabe, "Im Westen nichts Neues" erneut zu verfilmen.
Das Ergebnis seiner Mühen ist ein vor allem technisch überzeugender
Anti-Kriegsfilm – der aber aufgrund allzu vieler inhaltlicher
Freiheiten leider keine gute Adaption von Remarques bahnbrechendem
Roman ist.
Nachdem sich die
ersten beiden Verfilmungen ziemlich eng an die literarische Vorlage
hielten, ist es durchaus legitim, daß Berger einen etwas anderen Weg
wählt – nur funktionieren seine Änderungen bedauerlicherweise
schlechter als Remarques Erzählung. Am schwerwiegendsten ist für
mich der weitgehende Verzicht auf eine Einführung der Protagonisten.
Im Buch wie auch in den beiden US-Adaptionen werden diese noch in der
Heimat recht ausführlich vorgestellt, wir lernen Paul und seine
Schulkameraden also kennen und interessieren uns deshalb auch für
ihr Schicksal. In Bergers Film wird all
das in wenigen Minuten abgefrühstückt, dann geht es mitten
hinein in den Krieg, ohne daß wir den Gymnasiasten wirklich
nähergekommen wären oder sie – abseits der Hauptfigur Paul –
auch nur auseinanderhalten könnten. Mir ist das jedenfalls bis zum
Ende nicht wirklich gelungen, aber wenigstens stoßen mit Kat und
Tjaden zwei ältere Soldaten mit markanten Gesichtern dazu, sodaß es
mit Paul zumindest drei sympathische Charaktere gibt,
um die man sich sorgt. Zugegebenermaßen waren die Protagonisten bereits in
Remarques Vorlage bewußt nicht allzu tiefgehend
charakterisiert, sondern als Stellvertreter bestimmter Typen
angelegt; dennoch ist die mangelnde emotionale Nähe zu den Hauptfiguren in Bergers Film ein Schwachpunkt.
Für
falsch halte ich es auch, den wichtigen Subplot um den eigentlich
freundlichen Briefträger Himmelstoß (im TV-Film von 1979 denkwürdig
verkörpert von Sir Ian Holm) aus Pauls Heimatort komplett zu
streichen, der als Ausbilder zum Tyrannen wird. Immerhin zeigte
dieser u.a. die Folgen des militaristischen Nationalismus besonders
eindrücklich auf und auch, wie stark Krieg und
übersteigerter Patriotismus die Menschen verändern können (was
dazu paßt, daß Berger eben auch die aggressive Kriegspropaganda von
Pauls Lehrern stark verkürzt hat und zudem Pauls
zwischenzeitlichen Heimatbesuch gestrichen hat). Mir ist nicht ganz
klar, warum Berger diese Handlungsstränge für verzichtbar
hielt – vielleicht dachte er, für heutige Jugendliche wären
solche Figuren wie Himmelstoß gar nicht mehr nachvollziehbar? Seine
Entscheidung beraubt die Geschichte jedenfalls um ein wichtiges
Element, zumal die ersatzweise neu eingeführte Nebenhandlung um
Erzbergers Friedensmission inhaltlich komplett
verzichtbar erscheint und wenig Substantielles zu berichten weiß
(daß der harte Diktatfrieden eine Grundlage für den Aufstieg des
Dritten Reiches war, sollte auch so bekannt sein). Zu guter Letzt
führen Bergers dichterische Freiheiten dazu, daß am Ende sogar der
lakonische Titel des Films ad absurdum geführt wird. Man kann eindeutig festhalten: Ich bin kein Freund von Bergers freier Adaption
des Remarque-Romans!
Jetzt
kommt das große ABER: Wenn man die Vorlage außer Acht
läßt – so schwer es fällt –, dann erweist sich Edward Bergers
"Im Westen nichts Neues" als zwar über weite Strecken
recht konventioneller, jedoch gut gemachter Anti-Kriegsfilm, der
erstklassig aussieht und sogar noch besser klingt und deshalb nicht
zu Unrecht international mit zahlreichen Nominierungen – darunter für
den Golden Globe – bedacht wurde. Die Kriegsszenen sind optisch wie
akustisch wuchtig und realistisch inszeniert und geraten niemals in
den Verdacht, verherrlichend zu sein, zudem hat der britische
Kameramann James Friend ("Ghosted") reihenweise
schaurig-schöne Bilder geschaffen, die sich selbst mit jenen von Sam Mendes' "1917" oder Steven Spielbergs "Gefährten" messen lassen können. Um den erstklassigen
technischen Eindruck abzurunden, beeindruckt auch die minimalistische,
aber effektive Musik von Volker Bertelmann ("The Old Guard"), der die grausige Szenerie
vor allem mit einem häufig wiederholten,
unheilverheißenden Dreiklang gänsehauterzeugend untermalt. Schauspielerisch gibt es wenig Grund zum Klagen, wenn man einmal
davon absieht, daß Daniel Brühl ziemlich unterfordert ist: Der
österreichische Theater-Schauspieler Felix Kammerer gibt als Paul
Bäumer ein überzeugendes Filmdebüt und wird vor allem von den
immer verläßlichen Schuch und Masanović
tatkräftig unterstützt. Wer also die Roman-Vorlage nicht kennt oder
kein Problem mit großen künstlerischen Freiheiten hat, der bekommt
mit Netflix' "Im Westen nichts Neues" einen guten
Anti-Kriegsfilm geboten.
Fazit:
Edward Bergers "Im Westen nichts Neues" ist ein guter,
technisch sogar hervorragender Anti-Kriegsfilm, der allerdings die
Vorlage sehr frei interpretiert und einige ihrer größten Stärken
außer Acht läßt.
Wertung:
Knapp 7,5 Punkte.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen