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In eigener Sache: Mein neues Filmbuch

Einigen Lesern ist bestimmt aufgefallen, daß ich in der rechten Spalte meines Blogs seit längerer Zeit das Cover meines neuen Buchs präsen...

Mittwoch, 12. Februar 2020

1917 (2019)

Regie: Sam Mendes, Drehbuch: Krysty Wilson-Cairns, Sam Mendes, Musik: Thomas Newman
Darsteller: George MacKay, Dean-Charles Chapman, Colin Firth, Daniel Mays, Andrew Scott, Mark Strong, Benedict Cumberbatch, Richard Madden, Pip Carter, Richard McCabe, Nabhaan Rizwan, Claire Duburcq, Adrian Scarborough, Jos Slovick, Robert Maaser
1917 (2019) on IMDb Rotten Tomatoes: 88% (8,3); weltweites Einspielergebnis: $384,9 Mio.
FSK: 12, Dauer: 119 Minuten.

Als die befreundeten britischen Lance Corporals Tom Blake (Dean-Charles Chapman, TV-Serie "Game of Thrones") und Will Schofield (George MacKay, "Captain Fantastic") an der Westfront im Ersten Weltkrieg in Frankreich ins Zelt von General Erinmore (Colin Firth, "A Single Man") gerufen werden, ahnen sie noch nicht, auf welches Selbstmordkommando sie gleich geschickt werden: Um das Leben von 1600 britischen Soldaten unter der Führung von Colonel Mackenzie (Benedict Cumberbatch, "Doctor Strange") zu retten, die kurz davor sind, in eine ausgeklügelte deutsche Falle zu rennen, sollen sich Blake und Schofield innerhalb knapp eines Tages quer durch das angeblich von den Deutschen verlassene Niemandsland und mehrere wahrscheinlich von den deutschen Truppen besetzte Orte schlagen, um Mackenzie zu warnen. Als Motivation, den Auftrag auch tatsächlich und schnell genug durchzuführen, dient die Tatsache, daß Blakes älterer Bruder Joseph (Richard Madden, "Rocketman") zu den 1600 gefährdeten Soldaten zählt. Gemeinsam machen sich die Freunde auf den gefährlichen Weg und schon bald stoßen sie auf die ersten Hindernisse …

Kritik:
Sowohl in Hollywood als auch in Europa werden noch immer in schöner Regelmäßigkeit Filme über den Zweiten Weltkrieg gedreht – der Erste Weltkrieg bleibt hingegen ein vergleichsweise selten besuchter historischer Schauplatz. Eine der gelegentlichen Ausnahmen, zu denen in den letzten Jahren Steven Spielbergs "Gefährten" zählte, liefert der britische OSCAR-Gewinner Sam Mendes ("Skyfall") ab, dessen Kriegsdrama "1917" ein Alleinstellungsmerkmal innerhalb des Genres auszeichnet: Es ist (ähnlich wie "Birdman") so geschnitten, daß der gesamte Film wie in einer einzigen, fortlaufenden Einstellung gedreht wirkt – obwohl die längste Plansequenz in Wirklichkeit "nur" ungefähr achteinhalb Minuten dauerte. Trotzdem ist das natürlich nicht nur logistisch eine enorme Leistung (die man in einigen Making of-Videos gut nachvollziehen kann). Was aber noch wichtiger ist: Die langen Einstellungen sind nicht einfach nur ein spektakuläres Gimmick, sondern sie ergeben auch inhaltlich absolut Sinn, weil das Publikum auf diese Weise besser mit den beiden Protagonisten mitfühlen und -fiebern kann, deren verzweifelte, atemlose Mission formal fast wie ein Roadmovie aufgebaut ist. Für die logistische, technische, aber über weite Strecken auch inhaltliche Meisterleistung gewann "1917" u.a. den Hauptpreis als bestes Drama bei den Golden Globes und die "Bester Film"-Trophäe bei den britischen BAFTAs. Bei den OSCARs mußte man sich in den wichtigsten Kategorien jedoch überraschend "Parasite" geschlagen geben und sich mit drei Academy Awards in technischen Kategorien begnügen.

Damit die Vorgehensweise von "1917" funktioniert, müssen einige Bedingungen erfüllt sein. Zu den wichtigsten zählen: Man braucht ein Drehbuch, das die Story einerseits nachvollziehbar und glaubwürdig, andererseits aber auch einigermaßen tempo- und aktionsreich aufbauen muß; zwei talentierte und charismatische Hauptdarsteller, die den Film tragen und gewissermaßen als Augen und Ohren des Publikums dienen müssen; einen Regisseur und einen Kameramann, die der Herkulesaufgabe mit den minutenlangen Plansequenzen gewachsen sind. Den letzten Punkt erfüllt "1917" ohne Probleme, nicht umsonst gab es OSCARs für die atemberaubende Kameraarbeit von Branchenlegende Roger Deakins ("Blade Runner 2049"), für den Ton und für die Spezialeffekte, die das Publikum sehr effektiv mitten hinein in diesen vermeintlichen "Krieg, der alle Kriege beenden soll" ziehen. Auch die Schauspieler wurden von Regisseur Mendes gut ausgewählt. Während Dean-Charles Chapman als lebensfroher, immer noch optimistischer Tom sympathisch rüberkommt und die Story durch seine persönliche Verbindung mit der Mission vorantreibt, ist es jedoch sein Kollege George MacKay (was übrigens "Mäkai" ausgesprochen wird), der als desillusionierter, aber doch loyaler Will besonders beeindruckt, dem man seine tiefsitzende Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, aber auch den Mut der Verzweiflung jederzeit in seinem ausdrucksstarken Gesicht und den Augen ablesen kann. MacKay ist es, der diesen Film auf seinen gar nicht so breiten Schultern trägt und obwohl von ihm angesichts des nicht primär auf tiefgehende Dialoge oder Charakterentwicklung setzenden Genres schauspielerisch nicht alle Facetten seines Könnens abverlangt werden, hätte ich ihm eine OSCAR-Nominierung für diese auch körperlich beeindruckende Leistung sehr gegönnt.

An Technik und Hauptdarstellern gibt es also kaum etwas auszusetzen, damit bleibt als dritter kritischer Erfolgspunkt das Drehbuch – und da gibt es ein bißchen mehr zu kritisieren. Keine Frage, Mendes – der sich von Geschichten seines Großvaters aus dessen Einsatz im Ersten Weltkrieg inspirieren ließ – und Koautorin Krysty Wilson-Cairns (TV-Serie "Penny Dreadful") gelingt es, den zweistündigen Film stets spannend und aufregend zu halten. Dabei wechseln sie im Grunde genommen sogar mehrfach das Genre, was für reichlich Abwechslung sorgt. Die formale Struktur bringt es allerdings mit sich, daß die Figurenzeichnung oberflächlich bleibt. Durch den Roadmovie-Aspekt begegnet man keiner Nebenfigur mehrfach, was Mendes dadurch kompensiert, daß er sie mit markanten Schauspielern wie Mark Strong ("Kingsman"), Benedict Cumberbatch oder Colin Firth besetzt hat, die einen hohen Wiedererkennungswert haben und aus ihren Charakteren auch ohne viel Substanz das Beste herausholen. Bei den Nebenfiguren fällt übrigens die selbstauferlegte Limitierung durch das "Immer vorwärts-Prinzip" am stärksten auf, denn in einigen Momenten würde man sich durchaus einen kurzen Gegenschnitt zu bereits passierten Charakteren wünschen, um deren Reaktionen zu sehen (etwa als Tom und Will ein Leuchtsignal abfeuern, um die Durchquerung des Niemandslandes zu signalisieren). Bei den beiden Protagonisten sieht es erwartungsgemäß besser aus, doch durch die Konzentration auf ihre Mission erfahren wir auch über sie nicht wirklich viel und sie durchlaufen nicht wirklich eine nennenswerte Entwicklung. Das ist bei einem (Anti-)Kriegsfilm kein so großes Problem wie in den meisten anderen Genres, aber etwas mehr wäre sicher möglich und vorteilhaft gewesen. Auffällig ist außerdem, daß die Handlung etwas überkonstruiert wirkt und auf einige sehr große Zufälle zurückgreift – verständlich, da ein Film, in dem zwei Soldaten einfach durch die Gegend rennen und gelegentlich unter Beschuß kommen, auf Dauer etwas monoton wäre. Trotzdem: In Sachen Story-Glaubwürdigkeit lassen sich gewisse Defizite schwer bestreiten, was sich auch in einigen beiläufigen Zeitsprüngen manifestiert, die mit dem vermeintlichen Echtzeit-Ablauf der Handlung kontrastieren. Unnötig finde ich zudem die arg negative und unreflektierte Darstellung der Deutschen (speziell bei der Begegnung mit dem Kampfpiloten), die zumindest ansatzweise propagandistische Züge trägt und das ansonsten deutlich sichtbare Bemühen um eine Anti-Kriegsbotschaft ein Stück weit untergräbt – wobei diese sowieso sehr generell gehalten ist und sich nicht wie andere im Ersten Weltkrieg spielende Klassiker mit bestimmten Aspekten wie unmenschlichen und unfähigen Offizieren ("Wege zum Ruhm") oder dem sinnlosen Verheizen Jugendlicher ("Im Westen nichts Neues") befaßt.

Das sind zugegebenermaßen ziemlich viele Kritikpunkte an Drehbuch und Handlung, doch sie wiegen glücklicherweise weniger schwer als man es meinen könnte. Entscheidend ist, daß die Handlung durch die Nähe zu den beiden Hauptfiguren ungemein immersiv ist und Mendes und sein Team außerdem für eine außergewöhnliche Atmosphäre sorgen. Das gilt besonders für den ersten Akt von "1917", in dem die beiden Soldaten sich durch das mit Leichen und Kratern übersäte Niemandsland schlagen. Das wurde zwar angeblich von den Deutschen aufgegeben, doch solche Behauptungen erwiesen sich früher in ähnlichen Situationen als falsch, weshalb sie und wir als Zuschauer jederzeit in banger Erwartung eines unvermittelten Angriffs sind. Sam Mendes spielt diese Unsicherheit und das Grauen des Schlachtfeldes aus wie einen Horrorfilm, bei dem die Nerven bis zum Zerreißen gespannt sind und man auf jede kleine Bewegung oder jedes Geräusch beinahe panisch reagiert – verstärkt wird dieser gespenstische Eindruck noch durch die grandiose, eindringliche Musik von Thomas Newman ("Zeiten des Aufruhrs"), welche für die Emotionen von Anspannung und Furcht bis hin zu Erleichterung und gar Triumph einen kongenialen Ausdruck findet. Auch später kommt es wiederholt zu unfaßbar stimmungsvollen Momenten, die man definitiv auf der großen Leinwand genießen sollte, wenn wir beispielsweise nachts eine sporadisch von Leuchtkugeln apokalyptisch erleuchtete Ruinenstadt durchqueren und uns beinahe in einer Geschichte von H.P. Lovecraft wähnen. Fehlt eigentlich nur noch, daß plötzlich tentakelbewehrte uralte Götter auftauchen, um die Welt in den Abgrund zu reißen … Selbstredend gibt es daneben immer wieder actionreiche Szenen, die packend inszeniert sind, und auch einige ruhige Momente, in denen beispielsweise (fast wie bei Terrence Malicks "Der schmale Grat") die frühlingshafte und damit absurd mit dem Kriegsgeschehen kontrastierende Natur eine Rolle spielt. Für einen Kriegsfilm gibt es insgesamt gar nicht so viele Kampfszenen, weshalb die deutsche Altersfreigabe ab 12 Jahren nachvollziehbar erscheint. Trotz der leichten Drehbuch-Schwächen bleibt festzuhalten, daß "1917" ohne Zweifel einer der eindrucksvollsten und mitreißendsten Kriegsfilme oder Anti-Kriegsfilme der letzten Jahre ist.

Fazit: "1917" ist ein technisch und logistisch herausragender (Anti-)Kriegsfilm, der das Grauen des Krieges in wunderschöne, apokalyptische Bilder kleidet und das Publikum an der Seite der sympathischen Protagonisten hautnah mit durch die Schützengräben und die zerbombten Orte nimmt.

Wertung: 9 Punkte.


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