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In eigener Sache: Mein neues Filmbuch

Einigen Lesern ist bestimmt aufgefallen, daß ich in der rechten Spalte meines Blogs seit längerer Zeit das Cover meines neuen Buchs präsen...

Mittwoch, 3. Juni 2020

MEIN ENDE. DEIN ANFANG. (2019)

Internationaler Titel: Relativity
Regie und Drehbuch: Mariko Minoguchi, Musik: Jack Ritchie
Darsteller: Saskia Rosendahl, Edin Hasanović, Julius Feldmeier, Hanns Zischler, Emanuela von Frankenberg, Jeanette Hain, Michelle Barthel, Martha Bauer, Stefan Konarske, Leonard Kunz
Mein Ende. Dein Anfang. (2019) on IMDb Rotten Tomatoes: -; Deutsche Kinozuschauer am Startwochenende (inkl. Previews): 8406; FSK: 12, Dauer: 111 Minuten.
Aron (Julius Feldmeier, "Tore tanzt") ist Physik-Doktorand in München, beschäftigt sich u.a. mit Relativitäts- und Quantentheorie und ist überzeugt, daß alles miteinander verbunden ist. Nora (Saskia Rosendahl, "Werk ohne Autor") war als Kind eine talentierte Eiskunstläuferin, arbeitet nun aber als Supermarktkassiererin und glaubt eher an Zufälle als an Vorherbestimmung. Trotz ihrer Unterschiedlichkeit finden Aron und Nora zusammen – Zufall? Schicksal? –, sind glücklich und planen ihre gemeinsame Zukunft. Bis sie eines Tages in einen Banküberfall geraten, bei dem Aron erschossen wird. Natan (Edin Hasanović, "Nur Gott kann mich richten") arbeitet als Nachtwächter in einem Supermarkt und hat mit Luise (Michelle Barthel, "Spieltrieb") eine kleine Tochter namens Ava (Martha Bauer). Die Beziehung von Avas Eltern kriselt, doch dann stellt sich heraus, daß Ava an Leukämie leidet und nur eine Überlebenschance von 30-50% hat. Als Natan bei der Arbeit einen Fehler begeht, droht ihm der Verlust seines Versicherungsschutzes, weshalb er dringend Geld für die teuren Behandlungskosten benötigt. Eines Abends trifft Natan auf die von Arons Tod immer noch wie betäubt agierende Nora und rettet ihr das Leben. Zufall? Schicksal?

Kritik:
Der Bruder der autodidaktischen Münchener Filmemacherin Mariko Minoguchi ist Physiker und da weil sich mit Quanten- und Relativitätstheorie befaßt, versuchte er, diese hochkomplexen Theorien seiner Schwester zu erklären. Ein Resultat seiner Bemühungen hat er vermutlich nicht unbedingt vorhergesehen: Sie inspirierten Mariko Minoguchi zu einem Film. Und damit ist nicht einfach nur gemeint, daß eine der Hauptfiguren ein Physik-Doktorand ist, der sich mit Quanten- und Relativitätstheorie befaßt. Nein, der gesamte, wie ein Puzzle aus auf verschiedenen, häufig zunächst nicht klar zurechenbaren Zeitebenen spielenden Szenen aufgebaute Film mit seinem philosophischen Unterbau mit Fragen über Zufälle, Vorsehung, unsichtbare Verbindungen sowie Ouroboros-artig ineinander übergehende Anfänge und Enden fußt darauf. Zumindest sagt das Mariko Minoguchi; mangels persönlicher Erfahrungen mit Quanten- oder Relativitätstheorie und einer quasi meine gesamte Schulkarriere hindurch zementierten Note 4 im Fach Physik kann ich das beim besten Willen nicht verifizieren, sehe aber natürlich keinen Grund, die Regisseurin und Drehbuch-Autorin anzuzweifeln. Für den Durchschnittszuschauer dürfte sowieso deutlich wichtiger sein, daß "Mein Ende. Mein Anfang." eine stilsicher und formal mit offensichtlichem (gerechtfertigten) Selbstvertrauen inszenierte Mischung aus Drama und Liebesfilm (wozu auch Natans Liebe zu seiner Tochter gerechnet werden kann) ist, die nicht nur in ihrem komplexen Aufbau an große Vorbilder wie "Irreversibel" oder "Memento" erinnert.
Vor allem an Gaspar Noés heftig polarisierendes Rachedrama "Irreversibel" habe ich mich bei Minoguchis Langfilm-Regiedebüt des Öfteren erinnert gefühlt, wobei ich gleich erwähnen sollte, daß "Mein Ende. Mein Anfang." nicht einmal ansatzweise so drastische Szenen verwendet. Die Parallelen lassen sich vielmehr in der Story, im hypnotisch-poetischen Stil und im formalen Aufbau finden – jedoch gibt es in jedem Aspekt locker genügend Unterschiede, damit "Mein Ende. Mein Anfang." keinesfalls als ein bloßer Nachahmer angesehen werden kann. Das fängt damit an, daß Minoguchi ihre Geschichte eben nicht einfach "nur" rückwärts erzählt, wie es bei "Irreversibel" und "Memento" weitestgehend der Fall ist, sondern die Zeitebenen munter und oft genug ohne klare Zuordnung durchgewechselt werden (für den Schnitt gab es eine Nominierung für den Deutschen Filmpreis). Das kann vor allem zu Beginn recht anstrengend sein, solange man noch versucht, herauszufinden, was genau eigentlich los ist (beispielsweise hielt ich es zunächst für möglich, daß die ansonsten zusammenhanglos erscheinenden Szenen mit Natan und seiner kleinen Tochter Rückblicke auf die Kindheit von Nora wären, die irgendwann später ihren Namen geändert hat), die Mühe zahlt sich später jedoch aus, wenn sich die Puzzleteile zusammenfügen. Obwohl ich zugeben muß, daß ich bei ein paar Szenen nicht vollkommen sicher bin, daß sie wirklich Sinn ergeben und logisch sind (um sicherzugehen, bräuchte ich mindestens eine Zweitsichtung), aber so penibel, wie der Film insgesamt konstruiert ist, gebe ich Mariko Minoguchi diesbezüglich einen Vertrauensvorschuß.
Was ich allerdings nicht unerwähnt lassen kann: Die große Enthüllung, auf die sich im Verlauf alles zuspitzt, ist für geübte Zuschauer ziemlich leicht vorhersehbar – da können die einzelnen Szenenschnipsel noch so hartnäckig versuchen, alles zu verwirren. Schlimm ist das nicht, aber wenn man diese Wendung bereits mindestens erahnt, verliert sie naturgemäß einen Gutteil der emotionalen Wucht, die eigentlich damit erreicht werden soll (womit wir wieder bei "Irreversibel" wären, der das meines Erachtens deutlich besser hinbekommt). Daß sie trotzdem funktioniert, ist in erster Linie der größten Stärke von "Mein Ende. Dein Anfang." zu verdanken, nämlich der sehr überzeugenden Figurenzeichnung (in Kombination mit einer exzellenten Besetzung). Vor allem Nora und Natan bringt Mariko Minoguchi dem Publikum sehr gekonnt und mit vielen gut herausgearbeiteten, schlüssigen Details näher. Beide wirken nicht wie Filmfiguren, sondern wie echte Personen mit echten Problemen, die man jederzeit auf den Straßen von München (oder sonstwo) treffen könnte. Lediglich mit einer kleinen, aber fatalen Entscheidung Natans habe ich meine Probleme – sie ist nicht komplett unrealistisch, aber in dieser speziellen Situation für meine Begriffe dümmer, als man es Natan zutrauen würde. Somit wirkt es weniger authentisch als vielmehr vom Drehbuch gewollt, weil der Film ohne diese Aktion nicht funktionieren würde. Erneut: Das ist nicht schlimm, aber ein weiterer kleiner Wermutstropfen. Unabhängig davon spielen Saskia Rosendahl und Edin Hasanović sehr überzeugend und harmonieren auch gut miteinander. Rosendahl nimmt man die lähmende Trauer und die unter einer Maske der Apathie lauernde Frustration ebenso locker ab wie Hasanović den etwas leichtsinnigen Tunichtgut, der sich ehrlich bemüht, sich für seine Familie und speziell für seine Tochter zu bessern, aber nach deren schlimmer Diagnose zunehmend verzweifelt. Und als Gegenpol zu diesen beiden (aus guten Gründen) eher traurigen Gestalten wirkt Julius Feldmeier, dessen Aron immer fröhlich und freundlich auftritt und in allem das Beste zu sehen scheint – selbst in einem Ende. Auch die Nebenrollen sind mit Jeanette Hain ("Therapie für einen Vampir"; als Noras Mutter), Hanns Zischler ("Im Lauf der Zeit"; als Arons Vater) oder Michelle Barthel übrigens namhaft besetzt, allerdings spielen sie buchstäblich keine größere Rolle, da sich der Film ganz auf das zentrale Trio konzentriert. Trotz kleinerer Mängel ist "Mein Ende. Dein Anfang." ein gutes, erstaunlich souveränes und in vielerlei Hinsicht bemerkenswertes Langfilm-Debüt, das neugierig macht auf Mariko Minoguchis weiteren Weg.

Fazit: "Mein Ende. Dein Anfang." ist ein poetisches, puzzleartig zusammengesetztes Drama, das ob einer gewissen Vorhersehbarkeit nicht ganz sein emotionales Potential ausschöpft, aber mit seinem hypnotischen Stil und gut ausgearbeiteten sowie toll gespielten Hauptfiguren trotzdem einen starken Eindruck hinterläßt.

Wertung: 7,5 Punkte.


"Mein Ende. Dein Anfang." erscheint am 4. Juni 2020 von EuroVideo Medien auf DVD und Blu-ray, als Bonus gibt es ein gut 10-minütiges Making-of und den Trailer. Ein Rezensionsexemplar wurde mir freundlicherweise vom Entertainment Kombinat zur Verfügung gestellt.

Screenshots: © EuroVideo Medien

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