Originaltitel:
You Were Never Really Here
Regie und Drehbuch: Lynne Ramsay, Musik: Jonny Greenwood
Darsteller:
Joaquin Phoenix, Ekaterina Samsonov, Alex Manette, Judith Roberts, John Doman,
Frank Pando, Alessandro Nivola
FSK: 16, Dauer: 90 Minuten.
Joe (Joaquin Phoenix, "Irrational Man") ist ein
schweigsamer, muskelbepackter Mann mittleren Alters, den beständig eine Wolke der
Schwermütigkeit umgibt. Nur wenn er sich fürsorglich um seine greise Mutter
(Judith Roberts, "Eraserhead") kümmert, taut er ein wenig auf. Sein Geld
verdient Joe auf eher ungewöhnliche Weise: Er befreit entführte Mädchen, wobei
er nicht gerade zimperlich mit all jenen umgeht, die ihm im Weg stehen.
Als ihm sein langjähriger Auftraggeber John McCleary (John Doman, TV-Serie
"Gotham") einen neuen Job vermittelt, bei dem es um Nina (Ekaterina
Samsonov, "The Ticket") geht, die Tochter des Senators Votto (Alex
Manette, "Shame"), die offenbar in ein Minderjährigen-Bordell
verschleppt wurde, läuft anfangs alles mehr oder weniger nach Plan. Doch dann
kommt es zu einer unerwarteten und äußerst unschönen Wendung, die Joe fortan alles
abverlangt und reichlich Blutvergießen nach sich zieht…
Kritik:
Es gibt Actionfilme und es gibt Arthouse-Actionfilme.
Actionfilme sind ganz sicher nicht das Lieblingsgenre vieler Profi-Kritiker, da
diese Werke häufig flache, entwicklungsfreie Charaktere, eine dünne Handlung
und banale Dialoge in Kauf nehmen, um sich voll und ganz auf krachende
Actionsequenzen zu konzentrieren (das Paradebeispiel dafür ist Michael Bays
"Transformers"-Reihe). Die wiederum reichen vielen Multiplex-Zuschauern
völlig aus, um sich zwei Stunden lang einigermaßen prächtig im Kino unterhalten zu fühlen, weshalb miese Kritiken Actionfilmen auch weit weniger schaden
als Vertretern anderer Genres. Ziemlich genau umgekehrt sieht die Situation bei
Arthouse-Actionfilmen wie "Drive", "Killing Them Softly"
oder "The American" aus: Kritiker besprechen sie (bei entsprechender
Qualität) sehr wohwollend bis begeistert, doch viele Kinogänger machen einen
weiten Bogen um sie oder strafen sie mit schlechten Bewertungen ab. Das bezieht
sich gar nicht mal so sehr auf Internet-Bewertungsportale wie die IMDb, die
ja doch primär auf filmaffine Personen abzielen (wie viele
Durchschnitts-Kinogänger, die drei oder vier Mal im Jahr ins Kino gehen, loggen
sich anschließend schon in der IMDb ein, um den Film zu bewerten?), ein
besserer Indikator ist in dieser Hinsicht beispielsweise der in den USA und in
Kanada am Starttag direkt vor Ort per Stimmkarte abgefragte CinemaScore. Und da
zählt "Killing Them Softly" zu den nur 19 Filmen, die mit der schlechtesten CinemaScore-Note "F" abgestraft wurden, während
"Drive" auch nur ein "C-" erhielt und "The
American" ein "D-". Für "A Beautiful Day" von der
preisgekrönten "We Need to Talk About Kevin"-Regisseurin Lynne Ramsay
gibt es keinen CinemaScore, weil er nur in relativ wenigen US-Kinos gezeigt
wurde; die Note hätte sich aber mit großer Wahrscheinlichkeit im gleichen
niedrigen Bereich bewegt. Denn "A Beautiful Day" ist ganz eindeutig
ein Arthouse-Film – und zwar ein richtig guter!
Zugegeben, was die Handlung betrifft, gibt sich "A
Beautiful Day" auch nicht wirklich weniger nihlistisch als viele
Mainstream-Actionfilme, denn die "einsamer Wolf legt sich aus Gründen mit
übermächtigem Gegner an"-Prämisse ist natürlich ein echter Klassiker des
Genres mindestens seit den Zeiten eines Charles Bronson ("Ein Mann sieht
rot"). Der Unterschied ist, daß "A Beautiful Day" die
altbekannte Geschichte mit zahlreichen feinen Nuancen und einem äußerst stimmigen
Charakterportrait eines Verlorenen anreichert, das wiederum Hauptdarsteller
Joaquin Phoenix zu einer OSCAR-würdigen Leistung anspornt, die ihm u.a. den
Darstellerpreis beim renommierten Filmfestival von Cannes einbrachte (Ramsays
Drehbuch wurde dort auch geehrt). Ähnlich wie Keanu Reeves in "John
Wick" oder Denzel Washington in "The Equalizer" trägt Phoenix
den Film auf seinen beeindruckend breiten Schultern, denn für die Rolle als Joe
hat er sich Muskeln antrainiert, die ihn mit nacktem Oberkörper wie
einen bulgarischen Gewichtheber aussehen lassen. Ein adonishaftes Aussehen
verleiht ihm das trotzdem nicht unbedingt, da Joe zugleich übergewichtig ist und von Narben übersät,
sich zudem einen grauen Zottelbart hat wachsen lassen und generell so
heruntergekommen aussieht, als wäre er seit geraumer Zeit obdachlos
(kurioserweise sieht er mit diesem Look übrigens Mel Gibson recht ähnlich,
dessen Bruder Phoenix vor vielen Jahren in "Signs" spielte). Lange
fragt man sich, was genau mit Joe los ist: Posttraumatisches Streßsyndrom? Ist
er selbstgemordgefährdet? Oder einfach "nur" traurig und exzentrisch? Die Antwort darauf
erfahren wir nach und nach durch Flashbacks in Joes Vergangenheit,
wobei Ramsay keine Zeit mit ausführlichen Rückblenden verschwendet. Sie
verknappt die entsprechenden Szenen stattdessen auf teils sekundenkurze
Ausschnitte, die dem aufmerksamen Zuschauer jedoch genügend Kontext vermitteln,
um Joes bedrückende Schwermut einigermaßen nachvollziehen zu können. Ohne
viel zu verraten, läßt sich eindeutig feststellen, daß Joe tatsächlich unter
einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet, die durch eine
desinteressierte Gesellschaft definitiv nicht besser wird. Phoenix verkörpert
diesen nahezu gebrochenen, aber auf seine Art immer noch für das Gute
kämpfenden Joe mit der ihm eigenen, von wenigen Kollegen erreichbaren
Intenstität, die sein psychisches Leiden beinahe körperlich greifbar macht –
eine eindrucksvolle, geradezu furchterregend gute Leistung!
Anders als die Regisseure und Autoren der genannten Genrekollegen
verzichtet Lynne Ramsay weitgehend darauf, die gewalthaltigen Einzelheiten
von Joes Feldzug explizit zu zeigen, das meiste spielt sich vielmehr off-screen
ab oder wir sehen es nur aus weiter Entfernung und in körnigen Bildern aus der
Perspektive einer Sicherheitskamera. Das ist von Ramsay allerdings so gut
inszeniert, von Phoenix so stark gespielt und von Jonny Greenwoods ("There Will Be Blood", "Der seidene Faden") düster-treibender elektronischer Musik so gekonnt
unterstrichen, daß sich das nicht respektive schwer zu Sehende trotzdem glasklar vor
dem inneren Auge des Publikums abspielt, weshalb "A Beautiful Day"
für einen FSK 16-Film ziemlich harter Tobak ist. Das gilt auch für die
Hintergründe von Ninas Entführung, die direkt aus einer der beliebtesten
Verschwörungstheorien vom äußeren rechten Rand der US-Gesellschaft entsprungen scheinen – vermutlich ein Zufall, da die 100 Seiten-Novelle
"You Were Never Really Here" von Jonathan Ames (Schöpfer der
HBO-Serie "Bored to Death") bereits 2013 erschien; wenn überhaupt,
dann könnte die Story also die heimliche Inspiration für besagte
bescheuerte Verschwörungstheorie gewesen sein. Natürlich können Ames und Ramsay
nichts für die Parallele, aber als Zuschauer mutet es schon etwas
merkwürdig an, eine gefühlte Verfilmung ultrarechter Propaganda sich vor den
eigenen Augen entfalten zu sehen … Das muß man wohl einfach irgendwie
ausblenden und sich stattdessen auf die Stärken von "A Beautiful Day"
konzentrieren, der mit einfachen Mitteln die Verlorenheit seines nicht nur äußerlich vernarbten Protagonisten
auf das Publikum überträgt und schmerzlich nachempfindbar macht, dabei
etliche denkwürdige Szenen erschafft. Diese sind mitunter – speziell wenn es um
die Kritik an der desinteressierten, selbstbezogenen Gesellschaft geht – von
schwarzhumorigem Zynismus geprägt, manchmal aber auch von einer erstaunlichen
Einfühlsamkeit und Zartheit, wenn Joe zum Beispiel einem sterbenden Schergen des
Antagonisten in seinen letzten Augenblicken aufrichtig Trost spendet. "A
Beautiful Day" ist ganz bestimmt kein Film für den durchschnittlichen Actionfan,
aber wer sich auf Ramsays kunstvoll-nihilistische Inszenierung einläßt, wird mit einem erschöpfenden und beeindruckenden kleinen Kunstwerk
belohnt, das lange nachhallt.
Fazit: "A Beautiful Day" ist ein sehr gut
beobachteter Arthouse-Actionfilm, der weniger auf eine ausgefallene Story
setzt, sondern sich ganz auf seinen schwermütigen, von Joaquin Phoenix
grandios verkörperten Antihelden-Protagonisten und seine blutige Reise ins Herz
der Finsternis konzentriert.
Wertung: Knapp 9 Punkte.
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