Originaltitel: Passing
Regie und Drehbuch:
Rebecca Hall, Musik: Devonté Hynes
Darsteller: Tessa
Thompson, Ruth Negga, André Holland, Bill Camp, Alexander Skarsgård,
Antoinette Crowe-Legacy, Gbenga Akinnagbe, Ashley Ware Jenkins
New York, Ende der 1920er
Jahre: Einst waren Irene Redfield (Tessa Thompson, "Thor 3")
und Clare Bellew (Ruth Negga, "Ad Astra")
Klassenkameradinnen, doch nach der Schule trennten sich die Wege der
beiden Afroamerikanerinnen. Während Irene in Harlem blieb, den Arzt
Brian (André Holland, "Moonlight") heiratete und mit ihm
zwei Söhne bekam, zog Clare nach Chicago – wo sie sich aufgrund
ihrer hellen Hautfarbe erfolgreich als Weiße ausgab und auf diese
Weise gar den wohlhabenden, offen rassistischen John (Alexander
Skarsgård, "Dirty Cops")
ehelichte, mit dem sie eine Tochter hat (die zu ihrem Glück
ebenfalls eine sehr helle Hautfarbe hat). Nun ziehen Clare und John
wieder nach New York, wo sie zufällig auf Irene trifft, deren Haut
einen ähnlich hellen Farbton hat und die daher ebenfalls manchmal
von Fremden für eine weiße Frau gehalten wird. Obwohl Irene
zutiefst irritiert bis angewidert ist von Clares Scharade, läßt sie
ihre frühere Freundin aufgrund deren Hartnäckigkeit schließlich
wieder in ihr Leben. Denn obwohl es Clare materiell gut geht,
vermißt sie die afroamerikanische Gesellschaft und Kultur, aus der
sie ausgebrochen ist, und Irene ist die einzige, mit der sie offen
über ihre Situation sprechen kann. Obwohl sich die beiden
ziemlich unterschiedlichen Frauen schnell wieder anfreunden, fühlt
sich Irene doch zunehmend unwohl damit, wie sehr die glamouröse
Clare die Rückkehr in ihr altes Leben genießt, wo sie bei den
meisten von Irenes Freunden und sogar bei ihrem eigenen Mann und
ihren Kindern sehr gut ankommt ...
Kritik:
Ich
muß zugeben, ich war ein bißchen irritiert, als ich erstmals davon
las, daß Schauspielerin Rebecca Hall ("Vicky Cristina
Barcelona") ihr Regie- und Drehbuchdebüt mit einem Film über
zwei afroamerikanische Frauen geben würde, deren (helle) Hautfarbe
ein wichtiges Thema der Geschichte ist. Schließlich ist Hall weiß
und ich (als weißer Mann) stelle es mir schwierig vor, wirklich
angemessen in die Gefühls- und Gedankenwelt von Menschen
einzutauchen, die in unserer Gesellschaft aufgrund einer anderen Hautfarbe diskriminiert
werden. Dann fand ich zu meiner großen Überraschung heraus, daß
Rebecca Hall – die ich wie sicherlich die meisten Menschen stets ganz selbstverständlich für weiß gehalten hatte – selbst Enkeltochter eines Afroamerikaners ist. Wieder was
dazugelernt und natürlich ergibt es vor diesem Hintergrund viel
Sinn, daß Hall mit einer Geschichte, die ihrer eigenen zumindest
ähnelt, ihr Debüt hinter der Kamera gibt. Und was soll ich sagen?
Sie macht das ganz hervorragend! "Seitenwechsel", die von
Netflix produzierte Verfilmung eines Romans von Nella Larsen aus dem
Jahr 1929, ist ein betont und außerdem ausgesprochen kunstvoll altmodisch
gefilmtes psychologisches Drama mit romantischen und
Thriller-Elementen, das tief in die Psyche seiner beiden
Protagonistinnen eintaucht, ihre komplizierten Erfahrungen und
Gefühle authentisch vermittelt und mit seinem glänzend vorbereiteten Ende lange nachhallt. Eine echte Schande, daß dieses Kleinod
bei den OSCARs komplett ignoriert wurde (bei den Golden Globes gab es eine verdiente Nominierung für Ruth Negga).
Die detailverliebte Hingabe, mit welcher Rebecca Hall das (Stummfilm-)Kino der
1920er Jahre wiederaufleben läßt, ist wahrlich beeindruckend. Sie
hat ihren Film nicht nur in Schwarzweiß gedreht, sondern
auch im seit dem Ende der Röhrenfernseher kaum noch verwendeten
4:3-Format. Außerdem kommt eine auffällig statische Kamera zum Einsatz,
wie sie in den 1920er Jahren eben üblich war, was die Bilder noch
mehr an Filme von Charles Chaplin, Harold Lloyd oder Buster Keaton erinnern läßt – nur ohne Slapstick. Gerade der ob der
limitierten Anzahl unterschiedlicher Schauplätze häufig zu sehende
Straßenzug mit Irenes Haus, das von einer auf der gegenüberliegenden
Straßenseite fest installierten Kamera aus gezeigt wird, ist ein beredtes Beispiel für diese penibel eingefangene 1920er Jahre-Optik.
Ganz nebenbei passen die eleganten Schwarzweißbilder natürlich
gut zur Rassismus-Thematik von "Seitenwechsel" – und ironischerweise heißt der Kameramann, der diese formvollendeten Bilder
abliefert, Eduard Grau ("A Single Man"). Es soll an
dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, daß "Seitenwechsel"
sich etwas überraschend nicht als ausgesprochenes
Rassismus-Drama entpuppt, jedenfalls nicht in erster Linie.
Selbstredend spielen Rassismus und Vorurteile eine bedeutende Rolle,
zumeist jedoch eher als Hintergrund (etwa durch Berichte über
Lynchmorde an Schwarzen im Radio) für das raffiniert konstruierte und die Spannung gemächlich aufbauende
psychologische Drama, das im Mittelpunkt steht. Dieses entwickelt
sich dabei erfreulich unvorhersehbar und die titelgebende Prämisse ist
eigentlich nur Ausgangspunkt für die Geschichte zweier zugleich
ähnlicher und denkbar verschiedener Frauen, spielt ansonsten aber
eher am Rande eine Rolle – was übrigens auch für Clares
rassistischen Ehemann gilt, der scheinbar als großer Antagonist
eingeführt wird, dann aber lange Zeit fast komplett verschwindet,
während sich "Seitenwechsel" ganz auf Clares
Wiedereinfügen in die afroamerikanische Community und Irenes Umgang
damit fokussiert.
Weil
die Geschichte sich so unerwartet entwickelt, will ich auf sie im
Detail gar nicht so sehr eingehen, kann aber versichern, daß sie
mich mit ihrem Facettenreichtum und den subtilen, klugen und präzisen
Beobachtungen ziemlich begeistert hat. Dabei kontrastieren Hall und
ihr Kameramann Grau die angesprochenen statischen Bilder aus dem
Außenbereich mit intimen Nahaufnahmen in den Innenräumen,
speziell in Irenes Haus und auf die Eigentümerin bezogen. Inhaltlich läßt Rebecca Hall dem Publikum viel
Interpretationsspielraum, etwa bezüglich einer möglichen
homoerotischen Spannung zwischen Irene und Clare (welche sehr
auffällig von Irene schwärmt, wann immer sich die Möglichkeit
ergibt) oder auch einer möglichen romantischen Anziehungskraft von Clare auf Irenes Ehemann Brian. Es wird viel angedeutet,
aber nur wenig offen ausgesprochen oder gezeigt, und das bleibt bis
zum Finale so, das viel Diskussionsstoff bietet. Filme mit
vielen Andeutungen, aber ohne echte Erklärungen sind ja nicht jedermanns Sache und man kann es definitiv übertreiben,
aber für mich hat Rebecca Hall hier eine nahezu perfekte Balance
gefunden. Möglicherweise könnte "Seitenwechsel" in der
ersten Hälfte etwas temporeicher erzählt sein, aber sonst
habe ich nicht viel zu bemängeln. Auch schauspielerisch
ist viel geboten, wobei vor allem die Hauptdarstellerinnen Tessa Thompson und Ruth Negga (die beide auch als Produzentinnen beteiligt sind) preisverdächtige
Leistungen abliefern. Es ist, das läßt sich nicht anders sagen, ein
beeindruckendes Debüt, das mich mit ehrlicher Neugierde
auf weitere Filme oder Serien von Rebecca Hall warten läßt.
Abschließend
möchte ich noch auf ein paar größere Probleme der deutschen
Synchronfassung eingehen. Ich selbst habe mir "Seitenwechsel"
in der Originalfassung angeschaut, war aber an einigen Stellen
neugierig, wie sie das wohl übersetzt haben – und die
gefundene Lösung ist in meinen Augen zu oft alles andere als ideal. Konkret
leidet die Synchronfassung unter einem Übermaß an politischer
Korrektheit. Im "echten Leben" bin ich ein großer
Anhänger politischer Korrektheit, aber hier ist sie definitiv fehl
am Platz – denn wenn ein Film erstens in den von offenem Rassismus
geprägten USA der 1920er Jahre spielt und zweitens der Rassismus
auch noch eine größere Rolle in der erzählten Story spielt,
dann ist es dringend angeraten, sich an die historisch korrekten
Begriffe zu halten. Das tut "Seitenwechsel" leider nicht
und übersetzt die im Originalton verwendeten Begriffe "Negro",
"Colored" und "Black" allesamt als "Schwarze"
– damit opfert man nicht allein die historische der politischen
Korrektheit, sondern enthält den Zuschauern der Synchronfassung
zusätzlich die Facetten dieser ja keineswegs identischen Wörter vor
und verfälscht das Gesagte letztlich. Dazu kommen
weitere Übersetzungsfehler und Ungereimtheiten, von denen mir vor
allem jene übel aufstieß, in der aus einer eher scherzhaften Beleidigung
Irenes ihres weißen Schriftsteller-Freundes Hugh (Bill Camp,
"Joker") als "ass" in der deutschen Fassung ein
"Arsch" wird, obwohl das englische Wort auch "Esel"
bedeutet. Und "Esel" war nicht nur in den 1920er Jahren die deutlich
gebräuchlichere Bedeutung, sondern paßt auch viel besser zum
freundschaftlichen Kontext, in dem das Wort geäußert wird sowie zu
Halls betonter Hommage an die Filme jener Zeit (in den deutschen
Untertiteln wird übrigens korrekterweise "Esel"
übersetzt). Kurz gesagt: Wer über die entsprechenden Sprachkenntnisse
verfügt, sollte sich ganz eindeutig die (gut verständliche)
Originalfassung zu Gemüte ziehen!
Fazit:
"Seitenwechsel" ist ein optisch wie inhaltlich
beeindruckendes psychologisches 1920er Jahre-Drama mit eleganten
Schwarzweiß-Bildern, einem raffinierten Storyverlauf und zwei groß
aufspielenden Hauptdarstellerinnen.
Wertung:
8,5 Punkte.
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