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In eigener Sache: Mein neues Filmbuch

Einigen Lesern ist bestimmt aufgefallen, daß ich in der rechten Spalte meines Blogs seit längerer Zeit das Cover meines neuen Buchs präsen...

Dienstag, 7. Januar 2020

JOKER (2019)

Regie: Todd Phillps, Drehbuch: Scott Silver und Todd Phillips, Musik: Hildur Guðnadóttir
Darsteller: Joaquin Phoenix, Robert De Niro, Frances Conroy, Zazie Beetz, Brett Cullen, Shea Whigham, Bill Camp, Sondra James, Glenn Fleshler, Leigh Gill, Marc Maron, Dante Pereira-Olson, Rocco Luna, Douglas Hodge, Carrie Louise Putrello, Brian Tyree Henry, Justin Theroux
Joker
(2019) on IMDb Rotten Tomatoes: 68% (7,3); weltweites Einspielergebnis: $1074,4 Mio.
FSK: 16, Dauer: 122 Minuten.

Zu Beginn der 1980er Jahre steht es um die Großstadt Gotham City ziemlich dreckig – und das nicht nur, weil die Müllabfuhr streikt. Dieser Streik in Verbindung mit der großen sozialen Ungleichheit schürt jedoch die schlechte Stimmung unter den Stadtbewohnern und befördert sinnlos aggresives Verhalten. Kein guter Zeitpunkt, um als Miet-Clown auf Sonderangebote in einem Laden hinzuweisen. Das muß Arthur Fleck (Joaquin Phoenix, "A Beautiful Day") auf schmerzhafte Weise erfahren, als einige Jugendliche ihm sein Schild klauen und ihn verprügeln – wofür sein Chef auch noch ihm die Schuld gibt. Eigentlich ist Arthur ein schüchterner Mann mittleren Alters, der mit seiner kränklichen Mutter Penny (Frances Conroy, TV-Serie "American Horror Story") zusammenlebt und aus neurologischen Gründen unter einem primär unter Streß und bei Nervosität auftretenden unkontrollierbaren Lachen leidet, welches absolut nicht seinem Gemütszustand entspricht. Trotzdem ist es Arthurs Traum, Stand-Up-Comedian zu werden und irgendwann einmal einen Auftritt in der Late-Night-Show seines Idols Murray Franklin (Robert De Niro, "The Irishman") zu ergattern. Doch als er hinter ein dunkles Geheimnis seiner Mutter kommt, das mit dem reichen, arrogant wirkenden Bürgermeister-Kandidaten Thomas Wayne (Brett Cullen, "Ghost Rider") in Verbindung steht, hängt Arthurs geistige Gesundheit endgültig an einem seidenen Faden …

Kritik:
Ich habe lange gewartet, bis ich mir "Joker" doch noch im Kino angeschaut habe. Sehr lange. So lange, bis er fast schon wieder von den Leinwänden verschwunden wäre. Der Grund dafür waren nicht die kontroversen Debatten, die die ungewöhnliche, originelle Superschurken-Origin-Story von (ausgerechnet!) "Hangover"-Regisseur Todd Phillips vor allem in den USA ausgelöst hat. Daß ein Film, der ziemlich empathisch erzählt, wie ein von der Gesellschaft ausgegrenzter Verlierer-Typ zu einem soziopathischen Massenmörder (und ikonischen Batman-Antagonisten) wird, in einem Land für Diskussionen sorgt, in dem es mehr Schußwaffen als Einwohner gibt, in dem es im Schnitt mehr als eine Massenschießerei pro Tag gibt und in dem Schußwaffen von ungefähr der Hälfte der Bevölkerung gehuldigt wird, als wären sie das Goldene Kalb, finde ich sehr verständlich – zumal nicht in Vergessenheit geriet, daß 2012 ein als Clown (wohlgemerkt nicht als Joker, wie immer noch oft fälschlicherweise behauptet wird!) verkleideter Irrer in einer Kino-Vorstellung von Christopher Nolans "The Dark Knight Rises" in der Stadt Aurora Amok lief und zwölf Menschen ermordete. Keine Frage, es ist nachvollziehbar, daß angesichts dessen manche Amerikaner in Bezug auf "Joker" ein flaues Gefühl im Magen bekommen – außerhalb der USA mit ihrem Schußwaffen-Fetisch ist das jedoch kaum ein Thema und hat daher auch mich nicht abgeschreckt. Nein, der Grund für mein Zögern waren die Trailer, die einen Fokus auf die zum Scheitern verurteilten Stand-Up-Comedy-Versuche der Hauptfigur legten und mich daher einen Film voller peinlicher und deprimierender Fremdschäm-Sequenzen befürchten ließ. Wie sich herausstellte, war die Befürchtung letztlich unbegründet und mir hat "Joker" ein paar Schwächen zum Trotz sehr gut gefallen.

Besagte Fremdschäm-Momente gibt es in "Joker" wohlgemerkt durchaus, Phillips ist jedoch – erstaunlicherweise, wenn man an die "Hangover"-Filme zurückdenkt – clever genug, sie nicht bis zum Äußersten auszuspielen, sondern nur gerade so weit, daß man als Zuschauer eine gewisse unangenehme Unruhe verspürt und das womöglich noch Kommende fürchtet. Genau die richtige Vorgehensweise für einen Film über den notorisch undurchschaubaren, erratischen Joker. Selbstredend hilft es, daß Phillips für die Rolle einen Weltklasse-Schauspieler gewinnen konnte – nach Jack Nicholson (in Tim Burtons "Batman") und dem OSCAR-prämierten Heath Ledger (in "The Dark Knight") ist Joaquin Phoenix der dritte derartige Hollywood-Hochkaräter, der sich der Rolle annimmt, und wenig überraschend liefert er eine Vorstellung ab, die man nur brillant nennen kann. Es ist ein äußerst schmaler Grat, den zukünftigen Joker Arthur Fleck so darzustellen, daß man einerseits mit ihm mitfühlen, sogar sympathisieren kann, andererseits aber nicht in Versuchung gerät, die zunehmend psychopathischen, brutalen Taten gutzuheißen. "Joker" bekommt das in den allermeisten Momenten gut hin, was einerseits Joaquin Phoenix' Darstellungskunst zu verdanken ist, der selbst Arthurs liebenswürdigste Szenen (wenn er sich um seine Mutter kümmert) so ausspielt, daß sie sich stets einen Hauch unangenehm anfühlen – ganz zu schweigen von Arthurs krankhaftem, irren Lachen in den unpassendsten Momenten. Andererseits leistet aber auch das Drehbuch von Scott Silver ("8 Mile") und Todd Phillips gute Arbeit, wenngleich zugegebenermaßen nicht jede Szene und jeder Dialog mit Arthur sehr subtil gestaltet ist. Phoenix wurde für seine Leistung schließlich mit seinem ersten OSCAR belohnt.

Eine offensichtliche Inspirationsquelle für "Joker" sind die Filme des "New Hollywood" in den 1970er und frühen 1980er Jahren, wobei die Parallelen zu zwei Filmen von Martin Scorsese (der ursprünglich sogar als "Joker"-Produzent im Gespräch war) ganz besonders ins Auge fallen: "Taxi Driver" von 1976 und "The King of Comedy" aus dem Jahr 1982, beide mit Robert De Niro in der Hauptrolle. In "Taxi Driver" wie auch in "Joker" geht es um einen von der Gesellschaft mißachteten, zutiefst einsamen Außenseiter, der immer stärker in einen wahnhaften Zustand abdriftet und es alleine mit jener Welt aufnehmen will, die ihn letzten Endes gestaltet hat – der Unterschied ist, daß sich De Niros Travis Bickle in "Taxi Driver" mit Gangstern anlegt, während sich Arthur Flecks Wut ganz konkret gegen die Menschen richtet, von denen er sich schlecht behandelt fühlt. Und das sind in diesem wenig einladenden fiktiven Gotham City mit seiner von einem wochenlangen Müllstreik zunehmend gereizten Bevölkerung sehr viele. Wie sehr das dem durch sein krankhaftes Lachen im sozialen Umgang sowieso stark gehandicappten Arthur mental zusetzt, erahnt man schon durch den Kontrast zwischen der von ihm geliebten heilen Unterhaltungswelt mit alten Fred Astaire- und Charlie Chaplin-Filmen sowie eleganten Frank Sinatra-Songs und der authentisch gestalteten schmutzigen, deprimierenden Realität, in der er ignoriert, beschimpft, von vermeintlichen Freunden im Stich gelassen und sogar sinnlos beraubt und verprügelt wird. Arthurs kränkliche, von ihrem früheren Arbeitgeber Thomas Wayne (Brett Cullen, der witzigerweise in "The Dark Knight Rises" eine kleine Rolle als Kongreßabgeordneter innehatte) besessene Mutter Penny ist auch nicht unbedingt hilfreich für den Geisteszustand ihres Sohnes – einzig die freundliche Nachbarin Sophie (Zazie Beetz, "Deadpool 2") scheint Arthur etwas Hoffnung zu geben. Trotzdem ist Arthurs Reise in den Abgrund unaufhaltbar und dabei von der mit Golden Globe und OSCAR prämierten Musik der isländischen Komponistin Hildur Guðnadóttir ("Sicario 2") angemessen verstörend untermalt (ich glaube übrigens, eine kurze Anspielung auf Hans Zimmers simples, jedoch geniales "Joker"-Leitmotiv in "The Dark Knight" erkannt zu haben). Die erste richtige Eskalation läßt erstaunlich lange auf sich warten, ist dann aber ebenso heftig wie glaubwürdig umgesetzt und setzt den Kurs für ein drastisches und dramatisches Finale, das man so schnell nicht vergessen wird.

Wenn ein Film sich so stark auf seine Hauptfigur konzentriert wie "Joker", dann gibt es eine Kehrseite der Medaille: Die Nebenfiguren werden fast unweigerlich vernachlässigt. Da Arthur Flack eine so spannende und so exzellent, leidenschaftlich und ambivalent dargestellte Person ist, läßt sich das verschmerzen, trotzdem wäre bei den Nebencharakteren definitiv mehr drin gewesen. Nur Arthurs Mutter Penny lernen wir ansatzweise kennen, während Nachbarin Sophie und der von Arthur bewunderte und als Folge eines nur einmaligen kurzen Treffens beinahe als Vaterersatz betrachtete Late-Night-Show-Moderator Murray Franklin letztlich nicht viel mehr als – von Zazie Beetz respektive Robert De Niro fraglos charismatisch verkörperte – Stichwortgeber für Arthurs Entwicklung sind. Spannend ist die Integration des stinkreichen Unternehmers und Philanthropen Thomas Wayne (mitsamt kurzer Auftritte seines Sohnes Bruce und von Butler Alfred) in die phasenweise an "The Dark Knight Rises" erinnernde sozialkritische Handlung, der zwar keine große, aber doch eine ziemlich entscheidende Rolle spielt. Unter Comicfans wird die überraschend enge Verbindung zwischen dem Noch-nicht-Joker und den Waynes relativ zwiespältig betrachtet, was letztlich für den gesamten Film gilt. Ein Grund dafür ist, daß diese Origin-Geschichte schon angesichts des gewaltigen kommerziellen Erfolges das Potential hat, fortan allgemein als "echter" Ursprung des Joker zu gelten. Problematisch ist das nicht nur, weil es sich um eine komplett eigenständige Geschichte ohne Vorlage in den Comics handelt, sondern vor allem deshalb, weil es in den DC-Comics zu einer Art Running Gag geworden ist, daß der Joker immer wieder neue Versionen seines Werdegangs erzählt und man nicht weiß, welche davon der Wahrheit entspricht (wenn überhaupt). Für Zuschauer, die (so wie ich) wenig Berührung mit Superhelden-Comics haben, ist das natürlich ziemlich irrelevant, ich wollte es jedoch nicht unerwähnt lassen. Bleibt noch die Frage, wie es weitergeht mit diesem Joker, mit Joaquin Phoenix und Todd Phillips. Ursprünglich war "Joker" als einmaliger Standlone-Film ohne Verbindung zum DC Extended Universe angekündigt (in dem es ja bereits den in "Suicide Squad" von Jared Leto gespielten Joker gibt, wenngleich der nicht allzu gut ankam und es fraglich ist, ob er noch einmal auftauchen wird), doch nach dem niemals erwarteten Milliarden-Dollar-Erfolg – der global selbst Filme wie "Batman v Superman" oder "Justice League" in den Schatten stellte –, sind Warner und DC selbstredend stark an einer Einbindung interessiert. Von Phoenix und Phillips gab es bezüglich ihrer Rückkehr-Bereitschaft recht widersprüchliche Aussagen, doch zum Zeitpunkt dieser Rezension scheint zumindest Phillips zu einer weiteren Zusammenarbeit mit DC (wenn auch nicht zwangsläufig über den Joker) bereit. Natürlich wäre es spannend, Phoenix' Joker auf den neuen, von Robert Pattinson dargestellten Batman treffen zu lassen – allerdings wäre es schwierig, das glaubwürdig hinzubekommen, da Pattinsons erster Batman-Einsatz in der Gegenwart spielen soll und der Joker somit rund 40 Jahre älter als in "Joker" sein müßte. Eine Alternative wäre eine Art "Joker-Universum" in der Prä-Batman-Ära (die TV-Serie "Gotham" hat ja vortrefflich gezeigt, wie viel Potential ein solches Setting hat) mit einer direkten "Joker"-Fortsetzung und eventuell Spin-Offs zu anderen (späteren) Batman-Gegenspielern. Wie auch immer: Es scheint – glücklicherweise! – schwer vorstellbar, daß wir Joaquin Phoenix nicht noch einmal als Joker sehen werden.

Fazit: "Joker" ist die intensive, erstaunlich spät eskalierende Charakterstudie eines späteren Superschurken, die dank grimmiger "New Hollywood"-Atmosphäre und eines herausragenden Joaquin Phoenix (trotz einer im Kern simplen Story sowie recht oberflächlicher Nebenfiguren) exzellent funktioniert.

Wertung: 8,5 Punkte.


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