Einzeltitel: Im Schatten der Guillotine; Juve gegen
Fantômas; Ein mörderischer Leichnam; Fantômas gegen Fantômas; Der falsche
Ermittler
Originaltitel: À
l'ombre de la guillotine; Juve contre Fantômas; Le mort qui tue; Fantômas
contre Fantômas; Le faux magistrat
Regie und Drehbuch: Louis Feuillade, Musik: Yann Tiersen,
James Blackshaw, Amiina, Tim Hecker und Loney Dear
Darsteller: René Navarre, Edmond Bréon, Georges Melchior,
Renée Carl, Naudier, Jane Faber, André Volbert, Yvette Andréyor, Luitz-Morat,
Fabienne Fabréges, Germaine Pelisse, Mesnery,
André Luguet, Laurent Morléas, Jean-François Martial, Suzanne Le Bret
Paris im 19. Jahrhundert: Die Öffentlichkeit erzittert vor
den Untaten eines ebenso mysteriösen wie skrupellosen Kriminellen (René
Navarre), der sich selbst "Fantômas" nennt und ein wahrer
Verwandlungskünstler ist. Nach einem Hotelraub bei einer Prinzessin (Jane Faber) setzt sich der
erfahrene Inspektor Juve (Edmond Bréon) auf seine Spur, der dabei auf die Unterstützung
seines guten Freundes Jérôme Fandor (Georges Melchior) zählen kann. Der junge
Mann ist ein engagierter und gewitzter Journalist und kommt an Quellen, die der
Polizei nicht zur Verfügung stehen. Gemeinsam kommen sie Fantômas recht bald
auf die Schliche und können ihn sogar verhaften – doch der Verbrecher ist nicht nur ein kriminelles Genie, sondern zusätzlich auch ein wahrer Ausbrecherkönig ...
Kritik:
Wer heutzutage den Namen "Fantômas" hört und überhaupt etwas
damit anfangen kann, der denkt vermutlich zunächst an André Hunebelles drei
eher komödiantische Filme mit Jean Marais und Louis de Funés aus den 1960er
Jahren oder an die zugrundeliegende Romanreihe von Pierre Souvestre und
Marcel Allain (die in Frankreich allerdings wesentlich bekannter ist als in
Deutschland). Die erste Adaption gab es jedoch bereits zwei Jahre nach
Erscheinen des ersten Buches, und die fünfteilige Stummfilm-Reihe, die in den
Jahren 1913 und 1914 in die Lichtspielhäuser kam, war so populär, daß man
vom ersten französischen Kino-Blockbuster überhaupt sprechen kann (auch wenn
das Wort "Blockbuster" natürlich erst Jahrzehnte später geprägt
wurde). Selbst 100 Jahre später kann man das durchaus nachvollziehen, denn Louis
Feuillades im Gegensatz zu Hunebelles Trilogie ziemlich werktreue Verfilmung
ist ihrer Zeit deutlich voraus.
Das beginnt schon damit, daß Feuillade viel Wert darauf
legt, eine echte Story zu erzählen. Im Vergleich zu den meisten anderen
Stummfilmen, die man heute noch ab und zu zu Gesicht bekommt – in der Regel vor
allem Komödien von Charlie Chaplin, Buster Keaton oder Harold Lloyd, die auch
wort- und weitgehend textlos wunderbar funktionieren –, gibt es entsprechend
viel zu lesen, teils in Form von Zwischentexten, teils via in die Kamera
gehaltener Briefe oder sonstiger Dokumente. Da die fünf Filme, deren Laufzeiten
zwischen 55 und 100 Minuten variieren, zudem inhaltlich miteinander
zusammenhängen (und stets mit einem Cliffhanger enden), bekommt man im Grunde genommen
eine einzige sechsstündige Kriminalgeschichte zu Gesicht. Diese umfaßt
einige Überraschungen, beispielsweise verkommt die vermeintliche Hauptfigur
Inspektor Juve nach den ersten beiden Episoden zu nicht viel mehr als einer
Randerscheinung und der junge Journalist Fandor rückt eindeutig ins Zentrum –
was vielleicht auch dessen gutem Aussehen geschuldet ist, wirkt doch Juve von
Anfang an ziemlich unscheinbar. Man kann sich jedenfalls gut vorstellen, daß
Fandor-Darsteller Georges Melchior seinerzeit die Herzen des weiblichen
Kinopublikums reihenweise zugeflogen sind. Heutigen Sehgewohnheiten zuträglich
ist außerdem, daß die Schauspieler gerade aufgrund der vielen erklärenden
Texteinblendungen vergleichsweise natürlich agieren können und weitgehend auf
das für Stummfilme so typische – und auf viele heutige Zuschauer sehr albern
wirkende – theatralische Overacting verzichten.
Ob nun zusammen oder getrennt: Juve und Fandor erweisen sich als ebenbürtige Gegenspieler des grausamen Meisterverbrechers
Fantômas. Dieser Verwandlungskünstler wäre in den USA wahrscheinlich vom
"Mann mit den 1000 Gesichtern" Lon Chaney Sr. verkörpert worden, in
Frankreich übernahm diese anspruchsvolle Aufgabe René Navarre – und er meistert
sie sehr überzeugend. Natürlich ist eine solche Rolle auch recht dankbar, dennoch:
Die Intensität und Wandelbarkeit, mit der Navarre den Kriminellen in seinen
zahlreichen (auch handwerklich sehr gelungenen) Verkleidungen verkörpert, ist
bis heute beeindruckend und läßt seine Co-Akteure mitunter ziemlich alt
aussehen. Und das, obwohl das Drehbuch es mit Fantômas nicht immer gut meint.
Vor allem im ersten Film bleibt dieser nämlich erstaunlich passiv und wirkt
eher wie ein drittklassiger Amateur-Gauner als wie das kriminelle Genie, das er
sein soll. Entsprechend schnell wird er überführt, weshalb sich fortan bis zum
Ende des ersten Teils alles nur noch um seine Flucht dreht – die ist zwar
raffiniert (und extrem unglaubwürdig), wird aber komplett von seiner
wohlhabenden Geliebten Lady Beltham (Renée Carl) ersonnen. In den übrigen vier
Filmen kommt Fantômas dann zum Glück deutlich bedrohlicher rüber, dennoch muß
man sich fragen, wie genial ein Krimineller eigentlich sein kann, wenn er nach
fast jedem Coup über kurz oder lang doch gefaßt wird. Zugegeben, ihm gelingt
jedes Mal die Flucht; das läßt aber eher die Polizei dilettantisch aussehen als
Fantômas genial ...
Selbstverständlich darf man an einen Stummfilm auch
bezüglich der Story nicht die gleichen Ansprüche anlegen wie an einen Tonfilm,
in dem viel mehr erzählt und erklärt werden kann – doch gerade im Krimigenre
sollte eine gewisse Plausibilität auch bei Stummfilmen doch das absolute Minimum
sein. Und dieses Minimum erfüllt die "Fantômas"-Reihe leider nur
teilweise, da immer wieder auf extrem unlogische Wendungen gesetzt wird, die
teilweise sogar dem zuvor Gezeigten auf eklatante Art und Weise widersprechen.
Nur ein Beispiel: Im vierten Film "Fantômas gegen Fantômas" wird
Inspektor Juve zu Beginn inhaftiert, weil in der Presse über Gerüchte berichtet
wird, er selbst sei Fantômas. Einmal davon abgesehen, daß es auch im Frankreich
des frühen 20. Jahrhunderts eher selten vorgekommen sein dürfte, daß ein allseits
respektierter, hochrangiger Polizist aufgrund haltloser Gerüchte, für die es
nicht den geringsten Beweis gibt, festgenommen wird, gab es in den drei
vorangegangenen Teilen nun weißgott genügend Szenen, in denen Juve und Fantômas von
mehreren Zeugen zusammen gesehen wurden – wie könnte Juve also Fantômas sein?
Mit solchen, mit Verlaub, schwachsinnigen Einfällen, die das Publikum letztlich
für dumm verkaufen wollen, mag man damals, als das Medium Film noch neu und
aufregend war, durchgekommen sein – 100 Jahre später kann man sie auch bei
wohlwollender Betrachtung nicht einfach ignorieren.
Allerdings sollte man sie auch nicht übergewichten, denn
trotz dieses erheblichen Mankos bleibt die vergleichsweise temporeiche
Thriller-Handlung mit den teilweise recht grausamen Verbrechen Fantômas'
fast durchgehend spannend und die stilvolle, phasenweise geradezu künstlerische
Inszenierung mit sogar einigen für die Zeit spektakulären
Spezialeffekten (etwa ein Zugunfall) gefällt. Ein echtes Highlight ist zudem
die für das hundertjährige Jubiläum neu aufgenommene Musik. Da die musikalische
Begleitung bei Stummfilmen in der Regel aus live vorgetragener Klaviermusik
bestand, die nicht selten sogar komplett improvisiert war, bestehen heute
bestenfalls noch Notenblätter zu einigen Werken. Entsprechend haben Stummfilme
stets die Kreativität bekannter Musiker angespornt, auch Pop- oder Rockmusiker
versuchen sich immer wieder einmal an meist ziemlich experimentell ausfallenden
Neukompositionen – zu den bekanntesten dürfte Giorgio Moroders Pop-Soundtrack zu Fritz Langs "Metropolis" gehören (an dem u.a. Freddie Mercury und
Bonnie Tyler beteiligt waren), die Pet Shop Boys haben im Jahr 2004 einen
Elektro-Score zu Sergej Eisensteins Sowjet-Klassiker "Panzerkreuzer
Potemkin" geschaffen. Für die fünf Fantômas-Filme wurden dagegen fünf
unterschiedliche Komponisten angeheuert: Yann Tiersen, James Blackshaw, Amiina,
Tim Hecker und Loney Dear. Der mit Abstand bekannteste in diesem Quintett ist
Yann Tiersen, der mit seiner bezaubernden Musik zu Jean-Pierre Jeunets
"Die fabelhafte Welt der Amélie" zu internationalem Ruhm gelangte. Er
hat hier auch die musikalische Gesamtleitung übernommen und dafür gesorgt, daß die
im Einzelnen durchaus sehr unterschiedlichen Musikstile zu einem harmonischen
Gesamtwerk verschmelzen, zudem stammen die die gesamte Reihe durchlaufenden
Leitmotive von ihm.
Das Resultat der Mühen ist phantastisch: So werden Fantômas'
Untaten im ersten Teil von einem düster wabernden Klangteppich untermalt, der
gekonnt eine unheilvolle Atmosphäre heraufbeschwört – zu Tanz- oder
Gesellschaftsszenen dagegen wird im zweiten und dritten Film mit
fröhlich-verspielten Melodien aufgewartet und bei ganz besonders dramatischen oder
actionreichen Geschehnissen (wie einem Überfall in einem Zug) läuft auch die
musikalische Begleitung zu großer, spektakulärer Form auf. Kurzum: Ohne
den von Yann Tiersen gelenkten grandiosen Soundtrack wäre die Fantômas-Filmreihe
gewiß nur halb so unterhaltsam. Die besten der fünf Filme sind meiner Ansicht
nach eindeutig der zweite ("Juve gegen Fantômas") und der dritte
("Ein mörderischer Leichnam"). Der zweite hat die interessanteste
Story zu bieten, der dritte profitiert von der mit Abstand längsten Laufzeit
(100 Minuten), die es ihm erlaubt, eine recht komplexe und sogar halbwegs
glaubwürdige Handlung zu entfalten.
Fazit: Die fünf "Fantômas"-Filme sind ohne
Frage ein Meilenstein der europäischen Kinokunst, der dank der kunstvollen
Bildsprache, des düster-mysteriösen Bösewichts und der rasanten Inszenierung noch
immer zu gefallen weiß – ganz besonders mit dem neuen Soundtrack; die erheblichen
dramaturgischen und logischen Schwächen werfen allerdings einen deutlichen
Schatten auf das Gesamtkunstwerk "Fantômas", den man nicht einfach
ignorieren kann.
Wertung: Ich tue mich immer besonders schwer damit,
Stummfilme zu bewerten, weil man einfach ganz andere Maßstäbe als an heutige
Werke anlegen muß. Deshalb bleibt mir vor allem eine Wertung nach
Gefühl, und die Durchschnittswertung für die fünf "Fantômas"-Filme beläuft sich auf knapp 7,5 Punkte.
(Einzelwertungen: Teil 1: 7 Punkte; Teil 2: 9 Punkte; Teil 3: 8 Punkte;
Teil 4: 6 Punkte; Teil 5: 7 Punkte.)
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