Regie: Guillermo del Toro und Mark Gustafson, Drehbuch: Guillermo del
Toro, Patrick McHale, Musik: Alexandre Desplat
Sprecher der
Originalfassung: Gregory Mann, Ewan McGregor, David Bradley,
Christoph Waltz, Ron Perlman, Finn Wolfhard, Tilda Swinton, John
Turturro, Burn Gorman, Tim Blake Nelson, Tom Kenny, Cate Blanchett
FSK: 12, Dauer: 117
Minuten.
Als sein geliebter
Sohn Carlo während des Ersten Weltkrieges im Alter von nur 10 Jahren
durch eine verirrte Bombe stirbt, ist der meisterhafte Holzschnitzer
Geppetto (in der Originalfassung gesprochen von David Bradley aus der "Harry
Potter"-Reihe) am Boden zerstört. Selbst zwei Jahrzehnte
später, inzwischen hat in Italien der Faschist Mussolini die Macht
übernommen, kann er sich nicht von seiner Trauer lösen, geht kaum
noch der Arbeit nach und denkt von früh bis spät voller Bitterkeit
an den verstorbenen Sohn. Als er eines Nachts betrunken eine
Kiefer fällt und daraus eine Puppe schnitzt, die sein neuer Carlo
werden soll, wird ein mitfühlender Waldgeist (Tilda Swinton, "Suspiria") darauf
aufmerksam – und haucht der Puppe, die fortan Pinocchio heißen
soll, Leben ein! Zudem soll die lebenskluge Grille Sebastian J. Cricket
(Ewan McGregor, "Doctor Sleeps Erwachen") – die sich in der von Geppetto gefällten Kiefer
gerade ein neues Heim eingerichtet hatte – auf Pinocchio
aufpassen. Als Geppetto, wieder nüchtern, am nächsten Morgen auf
den fröhlichen Pinocchio trifft, ist er zunächst schockiert, doch
nach und nach akzeptiert er das unverhoffte Geschenk des Waldgeistes.
Dummerweise erfährt bald der verschlagene Zirkusbesitzer Graf Volpe
(Christoph Waltz, "Django Unchained"), der gerade vor Ort ist, von dieser wundersamen
lebenden Holzpuppe und will sie als Hauptattraktion für seinen
darbenden Zirkus ...
Kritik:
Zugegeben: So
richtig originell ist eine "Pinocchio"-Verfilmung im 21.
Jahrhundert nicht wirklich. Immerhin wurde Carlo Collodis beliebtes
Kinderbuch aus dem späten 19. Jahrhundert bereits dutzendfach für
Kino und TV adaptiert, wobei die bekannteste Version eine der ältesten ist: Disneys zweifach OSCAR-prämierter
Zeichentrickfilm "Pinocchio" aus dem Jahr 1940. Alleine 2022 gab es zwei Neuverfilmungen für Streamingdienste: Zunächst
Robert Zemeckis' Realfilm-Remake des Disney-Klassikers für Disney+ –
die aber von der Kritik trotz Lob für die visuelle Umsetzung
gnadenlos als "unnötig" und "seelenlos"
verrissen wurde. Wenige Monate später folgte bei Netflix der Stop
Motion-Animationsfilm "Guillermo del Toros Pinocchio", der
Collodis Geschichte recht frei adaptiert und ins wenig einladende
faschistische Italien der 1930er Jahre verlegt – und von der Kritik
gefeiert wurde! Hundertprozentig kann ich die Begeisterung zwar nicht
teilen (was vor allem an der etwas zähen ersten Hälfte liegt), aber
zweifellos ist del Toro eine einfallsreiche Neuverfilmung mit einigen
Musical-Elementen gelungen, die ans Herz geht und technisch absolut
herausragend umgesetzt ist.
Streng genommen ist
der Titel "Guillermo del Toros Pinocchio" Etikettenschwindel, denn weder hat der mexikanische OSCAR-Preisträger
("Pacific Rim") den Film alleine inszeniert noch hat er alleine
das Drehbuch geschrieben. Vielmehr arbeitete er bei der Regie mit dem
Stop Motion-Experten Mark Gustafson (drehte mehrere preisgekrönte
Kurzfilme und war an Wes Andersons "Der fantastische Mr. Fox"
beteiligt) zusammen und verfaßte das Skript gemeinsam mit Patrick
McHale (TV-Serie "Abenteuerzeit mit Finn und Jake"). Und
doch ist der Titel auch zutreffend, denn es handelt sich sehr
offensichtlich und auf den ersten Blick um einen echten del
Toro-Film, der aus jeder Pore dessen an den magischen Realismus
erinnernden visuellen wie auch inhaltlichen Stil á la "Pans
Labyrinth" oder "Shape of Water" atmet. Gerade
optisch und hier vor allem bei den Kreaturen ist del Toros Einfluß
unverkennbar: Sebastian J. Cricket und der als Graf Volpes rechte
Hand agierende Affe Spazzatura haben beispielsweise ihren ganz
speziellen Charme, doch meine Lieblinge sind der wunderbar
gestaltete Waldgeist (aka "Die blaue Fee") und ihre
Schwester Tod. Generell ist "Guillermo del Toros Pinocchio"
in technischer Hinsicht fraglos ein Meisterwerk: Die Stop
Motion-Technik ist so nahtlos und fließend umgesetzt, daß man immer wieder
beinahe vergißt, hier einen Animationsfilm zu sehen – was
auch an den in penibler Kleinstarbeit umgesetzten realistischen
Bewegungen der Figuren liegt und an den für del Toro-Filme typischen
cineastischen Kamerafahrten.
Inhaltlich kann
"Guillermo del Toros Pinocchio" mit der technischen
Brillanz leider nicht ganz mithalten. Gerade die erste Hälfte des knapp
zweistündigen Films gestaltet sich ein wenig zäh, zumal einige
Logik- und Glaubwürdigkeitsmängel sowie sehr große Zufälle
stören. Wenn etwa die Dorfbewohner Pinocchio zunächst für einen
leibhaftigen Dämon halten, ihn dann aber doch sehr schnell
akzeptieren, wirkt das nur bedingt nachvollziehbar. Auch scheint
Pinocchios Nase launenhaft in der Beurteilung dessen zu sein,
was eine Lüge ist – manche Falschaussagen ihres "Besitzers"
ignoriert sie geflissentlich, möglicherweise wertet sie diese eher
als Stilmittel denn als echte Lügen? Das alles ist kein großes
Problem und läßt sich mit ein wenig gutem Willen mit dem Argument "Es
ist halt ein Märchen" abtun, aber mich hat es
durchaus etwas gestört. Insgesamt wird es handlungstechnisch in der
zweiten Hälfte deutlich besser, sobald Pinocchio (und dann auf der
Suche nach ihm Geppetto) auf große Reise geht und die politische
Komponente der in der Mussolini-Ära spielenden Geschichte stärker
zum Tragen kommt – als Startschuß dient passenderweise ein humorig präsentierter, jedoch tatsächlich sehr makabrer
Moment, der mit einer Möwe zu tun hat. "Guillermo del
Toros Pinocchio" wird in dieser zweiten Hälfte
nachvollziehbarerweise düsterer und ernster, weshalb er sicherlich nicht
für ganz kleine Kinder geeignet ist. Aber del Toro übertreibt es nicht mit den Grausamkeiten und erhält dem Publikum stets
mindestens einen Hoffnungsschimmer (oft genährt vom gutherzigen
Pinocchio). Obwohl einige Nebenfiguren eher stereotyp bleiben, dürfen
andere erfreulicherweise eine echte, glaubwürdige Entwicklung
durchlaufen, die wiederum mit Pinocchio zusammenhängt – gerade
Spazzatura und der junge Kerzendocht (Finn Wolfhard, "Es") wachsen einem unerwartet ans Herz. Spaß machen ebenfalls die skurrilen Ideen, die
del Toro immer wieder einstreut und von denen mir die (allesamt von
Tim Blake Nelson eingesprochenen) schwarzen Hasen am besten gefallen
haben, die die Toten ins Unterreich bringen. In diesen magischen
Momenten fühlt man sich im besten Sinne an phantasievolle del
Toro-Klassiker wie "Pans Labyrinth" oder "Hellboy 2"
erinnert.
Alles richtig
gemacht hat del Toro bei der Besetzung der Sprechrollen (in
der Originalfassung). Der junge Gregory Mann bringt Pinocchios
kindliche Naivität und Unschuld, aber auch seine Launenhaftigkeit
und seinen Trotz sympathisch rüber, Ewan McGregors wohltönende
Stimme paßt perfekt zum gutmütigen Sebastian J. Cricket, der auch
als Erzähler fungiert. Zusätzlich überzeugt David Bradley mit
seiner facettenreichen Stimme als der zunächst von seiner Trauer
gebrochene Geppetto, während Christoph Waltz als Graf Volpe wieder
einen charismatisch-fiesen Antagonisten gibt (ebenso Ron
"Hellboy" Perlman als kriegstreiberischer Podestá) und Tilda Swinton
sowohl dem Waldgeist als auch Tod die nötige mystische Aura verleiht. Und als Bonus haben wir noch Cate Blanchett ("Nightmare Alley"), die – kein Witz –
die Affenlaute von Spazzatura vertont hat! Eine besonders wichtige
Rolle spielt in "Guillermo del Toros Pinocchio" die Musik.
Alexandre Desplat, ein Meister seines Fachs, der nicht zuletzt für seine
vielfache Zusammenarbeit mit Wes Anderson bei Filmen wie "Grand
Budapest Hotel" oder "The French Dispatch" bekannt
ist, hat wieder einmal einen schönen, sentimentalen und gefühlvollen
Score eingespielt – übrigens ausschließlich mit
Holz-Instrumenten! –, der jedoch meines Erachtens nicht an seine
besten Arbeiten heranreicht. Da diese Pinocchio-Version Musical-Elemente enthält, erschuf Desplat zudem (mit den für
die Texte verantwortlichen del Toro, McHale und Roeban Katz) neun
Lieder, die allesamt lieblich klingen, aber doch eher unspektakulär
geraten sind und nicht übermäßig erinnerungswürdig erscheinen
(abgesehen vielleicht von Pinocchios bewegender Ballade "Ciao
Papa") – wobei das vermutlich sogar so gewollt ist, da hier
eben nicht die Musik-Performance im Vordergrund steht, sondern die Liedtexte und die Emotionen, die sie transportieren.
Fazit:
"Guillermo del Toros Pinocchio" ist eine recht freie, aber
technisch brillante, erstklassig besetzte und sehr sympathisch erzählte
Neuinterpretation des Kinderbuch-Klassikers als Stop
Motion-Animationsfilm mit Musical-Elementen.
Wertung:
Gut 7,5 Punkte.
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