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In eigener Sache: Mein neues Filmbuch

Einigen Lesern ist bestimmt aufgefallen, daß ich in der rechten Spalte meines Blogs seit längerer Zeit das Cover meines neuen Buchs präsen...

Donnerstag, 9. Dezember 2021

MULHOLLAND DRIVE – STRASSE DER FINSTERNIS (2001)

Regie und Drehbuch: David Lynch, Musik: Angelo Badalamenti
Darsteller: Naomi Watts, Laura Elena Harring, Justin Theroux, Ann Miller, Mark Pellegrino, Dan Hedaya, Angelo Badalamenti, Monty Montgomery, Robert Forster, Brent Briscoe, Michael J. Anderson, Billy Ray Cyrus, Lori Heuring, Melissa George, Patrick Fischler, Lee Grant, Richard Green, Michael Des Barres, Rita Taggart, Maya Bond, Jeanne Bates, Dan Birnbaum, Rebekah Del Rio, Bonnie Aarons
Mulholland Drive (2001) on IMDb Rotten Tomatoes: 84% (7,6); weltweites Einspielergebnis: $20,4 Mio.
FSK: 16, Dauer: 146 Minuten.
Als die angehende Schauspielerin Betty Elms (Naomi Watts, "Birdman") aus der kanadischen Provinz in Los Angeles ankommt – wo sie vorübergehend in der Wohnung ihrer Tante in einem luxuriösen Apartmentkomplex unterkommt, während diese bei Dreharbeiten ist –, ist sie voller Träume, Hoffnungen und unbändiger Begeisterung für die Traumfabrik. Überraschend findet sie in der Wohnung ihrer Tante allerdings die dunkelhaarige Rita (Laura Elena Harring, "Die Liebe in den Zeiten der Cholera") beim Duschen vor. Wie sich herausstellt, hatte Rita in der Nacht zuvor einen Autounfall, bei dem sie wohl eine Gehirnerschütterung erlitt und das Gedächtnis verlor. Rita nimmt die geheimnisvolle Schönheit bei sich auf und will ihr dabei helfen, herauszufinden, wer sie ist und was geschehen ist – was beide nicht ahnen: Ein Killer (Mark Pellegrino, TV-Serie "Supernatural") ist hinter Rita her! Derweil hat der angesagte Regisseur Adam Kesher (Justin Theroux, "Die Berufung") seine eigenen Probleme, denn er muß die weibliche Hauptrolle seines nächsten Films umbesetzen und obwohl sich die besten Schauspielerinnen Hollywoods darum reißen, bestehen die zwielichtigen Castigliane-Brüder (Dan Hedaya und Filmkomponist Angelo Badalamenti) als Produzenten darauf, daß er die unbekannte Camilla Rhodes (Melissa George, "Die Sinnlichkeit des Schmetterlings") erwählt. Als Adam sich weigert, erlebt er bald die unangenehmen Konsequenzen seiner Entscheidung ...

Kritik:
Kurz vor der OSCAR-Verleihung 2002 führte die Internet Movie Database (IMDb) eine nicht ganz ernstgemeinte Umfrage nach den wahrscheinlichsten unwahrscheinlichen Ereignissen bei der Verleihung der Academy Awards in Los Angeles durch. Eine der Antwortmöglichkeiten hat sich mir bis heute eingeprägt, weil sie gleichzeitig sehr amüsant und sehr treffend war. Sinngemäß lautete sie: Der für "Mulholland Drive – Straße der Finsternis" für den Regie-OSCAR nominierte David Lynch gewinnt und erklärt in seiner Dankesrede die Handlung seines Films. Das geschah leider nicht (es gewann Ron Howard für "A Beautiful Mind") und auf eine definitive Interpretation von "Mulholland Drive" müssen wir bis heute und vermutlich bis in alle Ewigkeit warten – wobei er dem Publikum später immerhin zehn "Hilfestellungen" zur Hand gab (die man bei Wikipedia nachlesen kann, aber wenig überraschend nur bedingt hilfreich sind). Das verkürzt zwar die Zielgruppe des erotischen Noir-Thrillers um die vielen Zuschauer, die Filme ohne einigermaßen verständliche Handlung und ein eindeutiges Ende nicht leiden können (meine beste Freundin hasst "Mulholland Drive" aus diesem Grund leidenschaftlich), ist aber eigentlich gar nicht so schlimm – denn sofern man mit dieser gewollten kreativen Unschärfe klarkommt, funktioniert "Mulholland Drive" als fiebriges, rätselhaftes und für Interpretationen offenes Gesamtkunstwerk selbst dann, wenn man keine Ahnung hat, was genau Lynch einem damit eigentlich sagen will (falls er das überhaupt will). Und weil das nicht nur ich so sehe, gilt "Mulholland Drive" trotz des überschaubaren kommerziellen Erfolges und durchaus kontroverser (wenngleich insgesamt klar positiver) Kritikermeinungen längst als Kultfilm und taucht in etlichen Kritiker-Bestenlisten weit vorne auf, beispielsweise wurde er 2016 in einer BBC-Umfrage zum bis dahin besten Film des 21. Jahrhunderts gekürt. Ganz nebenbei ist er mein persönlicher Lieblingsfilm des eigenwilligen "Twin Peaks"-, "Der Elefantenmensch"- und "Blue Velvet"-Schöpfers.

Angesichts des Rufs von "Mulholland Drive" als rätselhaftes bis unverständliches Enigma mag überraschen, daß Lynchs Film lange Zeit verhältnismäßig konventionell und linear daherkommt: Betty und Rita versuchen, mehr über Rita herauszufinden, parallel ärgert sich Adam mit den negativen Seiten des Filmemachens herum. Die beiden Haupthandlungsstränge unterteilen sich zwar in verschiedene Genres – die Betty/Rita-Storyline changiert zwischen erotischem Drama, Thriller und Film Noir, während Adams Geschichte eher eine schwarzhumorige Filmbusiness-Satire ist mit Ähnlichkeiten zu Woody Allens "Bullets Over Broadway" – und bieten sehr wohl einige rätselhafte Szenen und Figuren sowie ein gerüttelt Maß an Skurrilität, letzten Endes ist das aber fast schon als "normal" zu bezeichnen. Seinen Ruf hat "Mulholland Drive" größtenteils der letzten halben Stunde zu verdanken, in der alles auf den Kopf gestellt wird, die Darsteller plötzlich und ohne irgendeine Erklärung andere Rollen spielen, die Stimmung stark ins Düstere kippt und man generell aus dem Staunen und Rätseln kaum noch herauskommt. Die Erklärung für diese drastische stilistische Wende ist denkbar einfach: "Mulholland Drive" sollte eigentlich eine TV-Serie werden und die ersten gut 100 Minuten entsprechen weitgehend dem letztlich vom Sender abgelehnten Pilotfilm. Komplett neu ist der enigmatische Schluß, denn als Film konnte Lynch die Story natürlich nicht mit einem Cliffhanger enden lassen – und da es sich um David Lynch handelt, hat er eben kein profanes, gut verständliches Ende geschaffen, sondern ein einziges großes Mysterium, das unzählige Interpretationen zuläßt. Wie gesagt, das muß man mögen, oder nicht. Für mich funktioniert "Mulholland Drive" als faszinierendes, stilsicheres und anspielungsreiches Gesamtkunstwerk einwandfrei, auch wenn ich selbst nach der dritten Sichtung hinsichtlich der Bedeutung etlicher Entwicklungen im Dunklen tappe.

Aber eigentlich ist es auch egal, ob es sich bei "Mulholland Drive" um eine Allegorie auf das Filmgeschäft handelt – wofür u.a. die zahlreichen archetypischen Nebenfiguren sprechen, die oft nur eine Szene haben (Cowboy, Detektiv, Killer, die Produzenten-Mafiosi) , ob weite Teile der Handlung von einer Figur geträumt oder halluziniert werden oder ob vielleicht sogar viel zu viel hineininterpretiert wird, die ganzen schrägen Nebenfiguren keine tiefere Bedeutung haben und mit einem einzigen Kniff alles erklärbar wird. Denn wie Lynch seine Geschichte erzählt, fasziniert und unterhält so oder so glänzend, wozu die stimmungsvollen Bildkompositionen von Kameramann Peter Deming ("The Cabin in the Woods") ebenso beitragen wie die sphärische Musik von Lynchs kongenialem Stammkomponisten Angelo Badalamenti (der außerdem einen Gastauftritt als einer der Castigliane-Brüder hat). Zudem zeigt die Australierin Naomi Watts in der Hauptrolle eine herausragende schauspielerische Leistung, die sie gemeinsam mit dem ein Jahr später folgenden modernen Horrorklassiker "Ring" verdientermaßen zum Weltstar machte. Watts' Leistung ist besonders begeisternd, wenn man die begeisterungsfähige, optimistische, naive und immer fröhliche Betty, für die das Rätsel um ihre neue Freundin Rita in erster Linie ein großes (auch erotisches) Abenteuer ist, mit der letzten halben Stunde kontrastiert, in der sie – obwohl optisch nicht verändert – kaum wiederzuerkennen ist als ebenso depressive wie obsessive Frau, die bereit ist, bis zum Äußersten zu gehen. Eine sensationelle Transformation, die Naomi Watts zum unumstrittenen Star des Films macht. Das erklärt vielleicht auch, warum ihre Leinwandpartnerin Laura Elena Harring trotz guter Leistung keinen echten Karrieresprung schaffte, "Mulholland Drive" vielmehr der klare Höhepunkt ihres beruflichen Schaffens bleiben sollte. Natürlich ist Harring schauspielerisch der zweifachen OSCAR-Nominee Naomi Watts unterlegen, aber sie spielt trotzdem gut und hätte im Anschluß mehr verdient gehabt als ein paar kleine Nebenrollen in Kinofilmen sowie Gastauftritte in TV-Serien. Einen guten Eindruck macht in seinem eigenen Handlungsstrang auch Justin Theroux, der in etlichen amüsanten Szenen – etwa, als er seine Ehefrau Lorraine (Lori Heuring, "Zombies") in flagranti mit dem von Countrysänger und Miley-Vater Billy Ray Cyrus verkörperten Gene erwischt – komödiantisches Talent zeigt. Ansonsten gibt es keine Rollen, die genug Szenen haben, um nachhaltig Eindruck zu schinden, doch unter den bekannten Namen wie Melissa George, Robert Forster ("Jackie Brown", als Detektiv) oder Patrick Fischler (dessen Besetzung im deutlich von "Mulholland Drive" inspirierten "Under the Silver Lake" 17 Jahre später vermutlich seinem kurzen Auftritt in Lynchs Film geschuldet ist) sticht Mark Pellegrino als Auftragskiller aufgrund einer witzigen Sequenz positiv hervor, in der ein Auftrag nicht ganz nach Plan abläuft … Insgesamt ist und bleibt "Mulholland Drive" ein zutiefst enigmatischer bis irritierender, aber mindestens ebenso faszinierender Genre-Mix, der das Publikum zwar spaltet, aber gerade Fans von David Lynchs Gesamtwerk viel Freude bereiten sollte.

Fazit: "Mulholland Drive Straße der Finsternis" ist ein ungemein atmosphärischer, aber auch sehr rätselhafter Genremix mit vielen skurrilen Figuren und einer tollen Hauptdarstellerin Naomi Watts.

Wertung: 9 Punkte.
 
"Mulholland Drive – Straße der Finsternis" erscheint am 9. Dezember 2021 von STUDIOCANAL in einer von Lynch selbst beaufsichtigten Restauration als 4K UHD Limited Collector's Edition, auf Blu-ray und DVD sowie digital. Die exklusiv im ARTHAUS Shop erhältliche Collector's Edition enthält umfangreiches Bonusmaterial mit einem Booklet und je drei Featurettes und Interviews – deren Qualität kann ich allerdings nicht beurteilen, da mir lediglich die DVD vorlag, deren Bonusmaterial sich auf eine 10-minütige Einführung und Analyse durch den bekannten französischen Filmkritiker Thierry Jousse beschränkt (bei der normalen Blu-ray fehlt lediglich das Booklet). Ein Rezensionsexemplar wurde mir netterweise vom Entertainment Kombinat zur Verfügung gestellt.
 

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