Regie: Alejandro González Iñárritu, Drehbuch: Nicolás
Giacobone, Armando Bo, Alexander Dinelaris und Alejandro González Iñárritu,
Musik: Antonio Sánchez
Darsteller:
Michael Keaton, Edward Norton, Emma Stone, Naomi Watts, Amy
Ryan, Andrea Riseborough, Zach Galifianakis, Lindsay Duncan, Merritt Wever, Jeremy Shamos, Bill
Camp, Nate Smith
FSK: 12, Dauer: 120 Minuten.
Riggan Thomson (Michael Keaton) war vor vielen Jahren ein
gefeierter Superhelden-Darsteller, doch nach drei "Birdman"-Filmen
hatte er genug und wollte sich anderen Projekten widmen. Das funktionierte
allerdings nicht so richtig, was sich auch auf sein Privatleben Auswirkungen zeitigte:
Inzwischen ist er von Sylvia (Amy Ryan, "Gone Baby Gone") geschieden
und seine erwachsene Tochter Sam (Emma Stone, "Crazy, Stupid, Love.")
versucht nach absolvierter Drogenentziehungskur, als Riggans Produktionsassistentin
wieder auf die Beine zu kommen. Von den meisten Menschen wird Riggan jedenfalls
noch immer nur mit "Birdman" assoziiert, als er ein Comeback als
Regisseur und Hauptdarsteller einer Broadway-Theateradaption einer Erzählung von Raymond Carver versucht. Als einer
der Darsteller – den Riggan sowieso für ungeeignet hielt – kurz vor der
Vorpremiere ausfällt, ergibt sich die Gelegenheit, die Broadway-Legende Mike
Shiner (Edward Norton, "Fight Club") als Ersatz zu bekommen, der
zufällig mit Hauptdarstellerin Lesley (Naomi Watts, "The Impossible")
zusammenwohnt und beim Üben mit seiner Mitbewohnerin Gefallen an dem Stück
gefunden hat. Riggan und sein Manager Jake (Zach Galifianakis,
"Hangover") sind zunächst begeistert, schließlich ist Shiner ein
zugkräftiger Star der Szene. Allerdings erweist er sich als exzentrische Diva,
die Riggan immer wieder an den Rand der Verzweiflung bringt …
Kritik:
Als Alfonso Cuarón im Jahr 2006 seinen beeindruckenden
Endzeit-Thriller "Children of Men" in die Kinos brachte, da
begeisterte Cineasten in stilistischer Hinsicht vor allem eine mehr als sechs Minuten lange,
scheinbar in einem einzigen Take gedrehte (in Wirklichkeit wurde mit Hilfe von
computergenerierten Effekten etwas nachgeholfen) Sequenz, in der Protagonist
Theo (Clive Owen) während heftiger Kämpfe durch eine zerstörte Stadt läuft –
inklusive Blutspritzern auf der Handkameralinse! Offenbar hinterließen diese
und einige weitere ungewöhnlich lange Einstellungen einen nachhaltigen Eindruck auf
Cuaróns Freund Alejandro González Iñárritu ("Babel"), denn sein
"Birdman" wirkt bis auf die letzten Minuten so, als wäre er komplett
ohne Schnitt gedreht worden. Das ist zwar auch hier nicht ganz der Fall, doch
ist die Illusion nahezu perfekt und sorgt dafür, daß "Birdman" eine
regelrecht sogartige Wirkung entfaltet, die einen als Zuschauer vollständig in die Welt
von Riggan Thomson hineinzieht. Diese Welt mag eine Scheinwelt inmitten des
großen Showbusiness sein und außerdem eine sehr kleine Welt, die im Film fast
ausschließlich aus einem Broadway-Theater und den umgebenden Straßenzügen
(inklusive einer Bar) besteht – aber sie ist ohne Frage sehr faszinierend.
Eines scheint sicher: Wer sich mit Filmen und auch den
Hintergründen der Filmbranche sehr gut auskennt, der dürfte an "Birdman"
mehr Freude finden als der durchschnittliche Kinogänger. Schließlich gibt es
zahllose Anspielungen und Verweise, die zwar in der Regel nicht übermäßig
kryptisch oder gar unverständlich sind, jedoch von vielen Betrachtern vermutlich überhaupt nicht wahrgenommen werden. Vieles ist subtil eingeflochten, anderes
nicht ganz so sehr (wenn etwa Riggan vor Shiners Zusage bei der Suche nach einem
neuen Darsteller erfahren muß, daß alle, die er vorschlägt, gerade mit
Dreharbeiten zu neuen Superhelden-Filmen beschäftigt sind – selbst Jeremy Renner, wie
er fassungslos feststellt!), aber fast alles funktioniert hervorragend. Das
trifft ebenfalls auf das lustvolle Spiel mit Klischees zu. Denn die
Figurenkonstellation ist natürlich eigentlich extrem schablonenhaft: Da haben wir den
ausgebrannten, ruhmsüchtigen Ex-Star, der verzweifelt versucht, durch ein
Comeback mit anspruchsvollem Material wieder relevant zu werden (Riggan); die
vernachlässigte und bis vor kurzem drogenabhängige Filmstar-Tochter (Sam); die
klassische verunsicherte Schauspielerin mit mangelndem Selbstwertgefühl
(Lesley); die blasierte, selbstgefällige Theaterkritikerin (Lindsay Duncan als
Tabitha); und den größenwahnsinnigen Theaterstar, der sich für den Nabel der
Bühnenwelt hält (Mike Shiner). Doch den Stereotypen zum Trotz werden all diese
Figuren so hervorragend gespielt, daß sie erstaunlich authentisch rüberkommen –
satirisch übersteigert zwar, aber nichtsdestoweniger authentisch.
Und wahrscheinlich sind sie der Wirklichkeit sogar näher, als man sich das als
Außenseiter vorstellen kann …
Ganz besonders vom Hintergrundwissen des Zuschauers
profitieren Riggan und Shiner. Denn bekanntlich wurde Michael Keaton
vor über 20 Jahren als Titelheld zweier "Batman"-Filme von Tim Burton
zum Weltstar, ehe er die Rolle aufgab und sich – mit eher durchwachsenem Erfolg
– anderen Dingen zuwandte. Diese offensichtliche Parallele zwischen dem Star des
Films und der von ihm verkörperten Figur macht einen guten Teil des Reizes von
"Birdman" aus, denn man überlegt immer wieder, wieviel Michael Keaton
in Riggan Thomson steckt – gerade auch angesichts der Tatsache, daß Riggan im
Film buchstäblich von seiner alten Rolle verfolgt wird, denn
"Birdman" spricht zu ihm, macht sich über sein aktuelles Leben
lustig, verspottet ihn, spornt ihn an, wieder das Cape überzustreifen und die
Welt in "Birdman 4" zu begeistern. Angesichts der Tatsache, daß 2016 ein
"Batman vs. Superman"-Film in die Kinos kommen wird, für den bewußt
ein älterer, erfahrener Batman besetzt wurde (Ben Affleck), fragt man sich
unwillkürlich, wie genial das wohl hätte werden können, wenn tatsächlich
Michael Keaton die Rolle erneut übernommen hätte – und ob er ein entsprechendes
Angebot überhaupt akzeptiert hätte. Leider werden wir das wohl nie erfahren,
wäre "Birdman" jedoch nur ein Jahr früher in die Kinos gekommen … wer
weiß, vielleicht wären die "Batman vs. Superman"-Macher ja auf den
Geschmack gekommen. Auch Edward Nortons Verkörperung des exzentrischen Mike
Shiner birgt übrigens jede Menge Ironie, denn Norton ist in der Branche als
zwar herausragender, aber eben auch ziemlich schwieriger und eigenwilliger
Schauspieler bekannt. Geradezu legendär ist inzwischen die Geschichte, wie er
1998 (als noch relativer Newcomer) als Hauptdarsteller des brillanten
Neonazi-Dramas "American History X" nach und nach die Führung vom
eigentlichen Regisseur Tony Kaye übernahm und am Ende sogar eine eigene
Schnittfassung durchsetzte, woraufhin Kaye seinen Namen von dem Film
zurückziehen wollte (was aus formalen Gründen aber nicht ging). Es ist zwar
nicht restlos geklärt, inwieweit das Zerwürfnis tatsächlich Nortons
"Schuld" war – immerhin hatte er vom Studio den Auftrag für seine
Schnittfassung erhalten, nachdem dieses mit Kayes Version sehr unzufrieden war
–, aber seinen Ruf als "schwierig" hat Norton seitdem weg. Wie er mit
"Birdman" beweist, wo er als Shiner nicht davon lassen kann, dem
Regisseur Riggan ständig ins Handwerk zu pfuschen, kann man Edward Norton eines
jedenfalls nicht vorwerfen: einen Mangel an Selbstironie.
Abgesehen von diesem Hintergrundwissen, das für das
Verständnis von "Birdman" absolut nicht notwendig, aber doch sehr
hilfreich ist, spielen Keaton und Norton ihre Rollen aber auch ganz einfach
richtig, richtig gut. Wie der gesamte Cast profitieren sie von den
messerscharfen, intelligenten und in ihrer Absurdität nicht selten extrem komischen Dialogen, die oft in einem Wahnsinnstempo
vorgetragen werden – und das, wie eingangs erwähnt, in sehr langen Takes, was
die Leistung sämtlicher Darsteller umso bemerkenswerter macht. Nicht umsonst
wurden Keaton, Norton und Emma Stone für den OSCAR nominiert, auch Naomi Watts
hätte eine Nominierung absolut verdient gehabt. Gleiches gilt für den minimalistischen,
aber kreativen und ungemein effektiven Schlagzeug-Score von Antonio Sánchez,
der die Ungewöhnlichkeit von Iñárritus Film noch unterstreicht – aber aus
formalen Gründen leider nicht für einen Academy Award nominiert werden konnte,
weil nach Ansicht der Jury zu viele nicht originale Elemente im Film vorkommen
(die direkt mit dem Theaterstück verknüpften Szenen sind mit klassischer
Musik unterlegt, wohingegen das Schlagzeug bei den "Behind the
Scenes"-Sequenzen zum Tragen kommt). Dennoch ging "Birdman" letztlich mit vier OSCARs – darunter dem Hauptpreis für den besten Film des Jahres 2014 – aus großer Gewinner aus der Veranstaltung hervor.
Wie man sieht, habe ich also jede Menge Lob zu verteilen an
"Birdman", wirklich kritisieren kann ich eigentlich nichts. Dennoch
ist es sicher nicht so, daß ich Iñárritus schwarzhumoriges Werk jedem
empfehlen würde. Generell ist es ja so, daß Filme über das Showbusiness selbst
bei hoher Qualität (z.B. Robert Altmans "The Player", Joel und Ethan Coens "Barton Fink", David Lynchs "Mulholland Drive" oder Tim Burtons "Ed Wood") selten große Publikumserfolge werden. Es ist eben
eine recht spezielle Thematik, viele Zuschauer sehen nicht ein, warum sie einen
Film ÜBER das Filmemachen (oder in diesem Fall das Theatermachen)
anschauen sollen. Insofern dürfte sich der Einsatz von "Birdman"
sowieso weitgehend auf Arthouse-Kinos beschränken, in die er fraglos gehört. Dennoch halte ich eine Warnung für angebracht: Eine richtige
Handlung gibt es nicht, es ist eher die satirische Charakterstudie eines
Ex-Filmstars, der von seiner Vergangenheit verfolgt wird und versucht, eine eigenbestimmte
Zukunft zu finden. Wer also auf eine Geschichte mit einem klaren Anfang, einer
Mitte und einem unzweideutigen Ende hofft, der ist hier falsch am Platz.
Stattdessen läßt gerade das Ende sogar ganz bewußt viel Raum für
Interpretationen. Wenn man sich in den Filmforen im Internet umschaut,
scheinen sich viele für eine eher realistische und damit zumindest in diesem
Fall auch pessimistische Deutung entschieden zu haben; ich bevorzuge
eindeutig die Interpretation als hoffnungsvolle Metapher inklusive echter
Kinomagie. Jedenfalls sorgt Iñárritu durch eine kleine Abweichung von den Erwartungen dafür, daß ich dieses Ende, von dem ich lange befürchtete,
es würde arg vorhersehbar und pseudo-bedeutungsvoll ausfallen, als ziemlich
brillant empfinde – und damit als passenden Schlußpunkt für einen sehr guten, wenn auch ziemlich speziellen
Film.
Fazit: "Birdman oder (Die unverhoffte
Macht der Ahnungslosigkeit)" ist eine schwarzhumorige Showbiz-Satire, die
ebenso von ihren bewußt klischeehaften, aber sorgfältig herausgearbeiteten Charakteren
lebt wie von den exzellenten schauspielerischen Leistungen und den
geschliffenen Dialogen – und als i-Tüpfelchen sorgt die "One
Take"-Illusion dafür, daß Alejandro González Iñárritus Film auch formal weit
aus der Masse heraussticht.
Wertung: 9 Punkte.
Ich hatte mit dem Film auch viel Spaß. Mich hat die Vertonung (in der OV und in einem vernünftigen Kino) fasziniert, weil die sehr räumlich war und man in vielen Szenen immer irgendwo (s)eine (innere) Uhr hat ticken hören.
AntwortenLöschenDas Schöne an der Geschichte ist, dass er nicht nur als Mediensatire funktioniert, sondern ebenso als Film über einen Midlife-Crisler, der mit seinem aktuellen Leben nicht besonders zufrieden ist und seine "Jugend"erfolge wiederhaben möchte. Und wenn man das an Riggan festmacht und den ganzen Film als durch seine Augen erlebt ansieht, dann sind die anderen Charaktere gar nicht so stereotyp, sondern entsprechen einfach seinem Eindruck (alle arbeiten in irgendeiner Weise gegen ihn und sein Ziel).
Zum Ende [SPOILER]: Ich sehe das nicht pessimistisch, das ergibt meiner Meinung nach auch nicht wirklich Sinn, da er ja sein Ziel erreicht und es der Kritikerin gezeigt hat, mit seiner Tochter und Ex-Frau ist er im Reinen und hat seinen Dämon (wortwörtlich) abgelegt.
Das ist auch genau meine Interpretation des Endes, aber viele scheinen das tatsächlich anders zu sehen (ähnlich ging es mir übrigens beispielsweise bei "Pans Labyrinth"). Vielleicht erzählt Inárritu ja irgendwann mal, wie er es wirklich gemeint hat - wobei ich aber gar nicht weiß, ob ich das gut fände, schließlich gehört das Mitdenken und Mitinterpretieren zu solchen Filmen dazu ...
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