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In eigener Sache: Mein neues Filmbuch

Einigen Lesern ist bestimmt aufgefallen, daß ich in der rechten Spalte meines Blogs seit längerer Zeit das Cover meines neuen Buchs präsen...

Dienstag, 17. März 2020

Klassiker-Rezension: DER MANN, DER ZUVIEL WUSSTE (1934)

Originaltitel: The Man Who Knew Too Much
Regie: Alfred Hitchcock, Drehbuch: Charles Bennett und D.B. Wyndham-Lewis, Musik: Arthur Benjamin
Darsteller: Leslie Banks, Peter Lorre, Hugh Wakefield, Frank Vosper, Nova Pilbeam, Pierre Fresnay, Edna Best, George Curzon, Alfred Hitchcock
 Der Mann, der zuviel wußte
(1934) on IMDb Rotten Tomatoes: 88% (7,8); FSK: 16, Dauer: 76 Minuten.

Das britische Ehepaar Bob (Leslie Banks, "Graf Zaroff Genie des Bösen") und Jill Lawrence (Edna Best, "Ein Gespenst auf Freiersfüßen") befindet sich mit Tochter Betty (Nova Pilbeam, "Jung und unschuldig") und dem Freund der Familie Clive (Hugh Wakefield, "Geisterkomödie") im Urlaub in den Schweizer Bergen, als dort der Franzose Louis Bernard (Pierre Fresnay, "Die große Illusion"), mit dem sie sich angefreundet hatten, erschossen wird. Der sterbende Louis bittet mit seinen letzten Worten die auch anwesenden Lawrences eindringlich, eine versteckte Notiz aus seinem Zimmer zu holen und dann dem britischen Konsul zu übergeben. Bob holt die mysteriöse Nachricht, doch bevor er sie abgeben kann, wird Betty entführt, um die Lawrences zum Stillschweigen zu erpressen. Zurück in London erfährt das verzweifelte Ehepaar, daß Louis Geheimagent war und seine Notiz einen Mordanschlag auf einen Diplomaten verhindern könnte. Weiterhin wagen die Lawrences nicht, ihr Wissen zu enthüllen, jedoch beschließen Bob und Clive, auf eigene Faust der Sache nachzugehen. Tatsächlich stoßen sie auf Bettys Entführer Abott (Peter Lorre, "Die Spur des Falken"), den sie bereits in der Schweiz getroffen hatten …

Kritik:
Der mit einem OSCAR ausgezeichnete "Der Mann, der zuviel wußte" aus dem Jahr 1956 mit James Stewart und Doris Day in den Hauptrollen ist einer der beliebtesten Filme des britischen Regiegenies Alfred Hitchcock – nur wenige wissen, daß es sich dabei um ein Remake eines Films handelt, den Hitchcock 22 Jahre zuvor in Großbritannien gedreht hatte. Wobei es wohl "Neuinterpretation" besser trifft als "Remake", denn obgleich Prämisse und grobe Storystruktur ebenso wie einige Schlüsselszenen beibehalten wurden, unterscheiden sich die gleichnamigen Filme doch erheblich. Während die 1956er-Version ein grandios konstruierter und inszenierter, primär auf atemlose Spannung setztender Thriller ist, wirkt das 45 Minuten kürzere Original wie eine stilistisch unentschlossene B-Movie-Rohfassung, die vor allem mit etlichen den Ernst der Geschichte kontrastierenden humoristischen Elementen (manche davon vermutlich unfreiwillig) irritiert. Natürlich ist auch das Remake nicht frei von Humor, doch hält es wesentlich besser die Balance zwischen Ernsthaftigkeit und leichter Komik. Hitchcock selbst bilanzierte später, sein erster Versuch sei das Werk eines talentierten Amateurs gewesen und das Remake das eines Profis – eine durchaus zutreffende Einordnung, auch wenn das Original beim Kinostart gute Kritiken erhielt und gar als Hitchcocks kommerziell erfolgreichster britischer Film gilt.

Das größte Problem des ersten "Der Mann, der zuviel wußte" ist sein erstaunlicher Mangel an Authentizität. Das bezieht sich sowohl auf die nicht immer plausible Geschichte als auch auf einzelne Szenen (der Auftakt in der Schweiz, in dem Betty gleich zwei sportliche Wettkämpfe durchaus gefährlich behindert, ohne daß das jemanden ernsthaft zu stören scheint, lädt fast schon zum Fremdschämen ein) und die Verhaltensweise der meisten Figuren. Selbst die für die Storyentwicklung ja ziemlich entscheidende Verzweiflung der Lawrences ob der Entführung ihrer Tochter nimmt man ihnen nur phasenweise ab, da vor allem Bob zwischendurch immer wieder unpassend humorvolle Kommentare abgibt. Überhaupt scheint sich niemand so richtig der Dringlichkeit der Situation bewußt zu sein, denn die Polizei reagiert selbst auf den Tod von Kollegen irritierend gelassen bis sorglos und die Gangster (deren genaue Motivation übrigens eine Geheimnis bleibt, auch wenn es eine Andeutung gibt, ihr Plan habe Parallelen zum Mord an Erzherzog Franz Ferdinand als Auslöser des Ersten Weltkrieges) lassen sich kaum einmal aus der Ruhe bringen. Zum Teil mag das auch an den Schauspielleistungen liegen, denn Leslie Banks gibt einen recht steifen Helden ab und gerade die Darsteller in kleineren Rollen agieren oft wenig überzeugend. Hauptdarstellerin Edna Best als Jill bemüht sich zumindest, bekommt aber zu wenig zu tun, um wirklich im Gedächtnis zu bleiben. Einzige, wohltuende Ausnahme ist Peter Lorre, der als Abott auch in seinem ersten Film nach der Flucht aus Nazi-Deutschland zeigt, wie grandios und charismatisch er Bösewichte verkörpern kann. Bemerkenswert: Lorre konnte noch kein Englisch und mußte seine Dialoge deshalb phonetisch lernen, was vermutlich ein gelegentliches leichtes Overacting erklärt – trotzdem spielt er die anderen regelrecht an die Wand.

Wahrscheinlich gibt es anderen Regisseur, in dessen Karriere man eine so deutliche qualitative Entwicklung nachvollziehen kann wie bei Alfred Hitchcock. Fraglos kann man schon in seinen britischen Frühwerken (wie "Der Mann von der Insel Man") immer wieder in einzelnen Szenen die typischen Stärken ausmachen, die ihn später zu einem der Größten der Branche machen sollten, doch man merkt ihnen auch in vielen Aspekten – von der Schauspielerführung über das Erzähltempo bis hin zur glaubwürdigen Plot-Entwicklung – einen Mangel an Erfahrung an. "Der Mann, der zuviel wußte" ist dafür ein Paradebeispiel, gerade hinsichtlich der humoristischen Einlagen, die hier einfach nicht passen wollen. Dabei ist etwa die Idee, Bob und Clive während eines Gottesdienstes singend miteinander kommunizieren zu lassen, für sich genommen recht amüsant und auch gut umgesetzt (wenngleich es wenig glaubwürdig erscheint, daß keiner ihre Texte mitbekommt), doch wirkt sie stilistisch eben wie ein Fremdkörper. Gleiches gilt für eine "Stuhlschlacht", bei der ich allerdings befürchte, daß sie eher unfreiwillig komisch rüberkommt. Immerhin das actionreiche lange Finale sorgt für einen spektakulären Schlußpunkt, sofern man bereit ist, über den auch hier augenfälligen Mangel an Logik und Authentizität hinwegzusehen. Wer sich für die Handlung von "Der Mann, der zuviel wußte" interessiert, der sollte sich die viel bessere Neuinterpretation ansehen – das Original ist eher etwas für Cineasten, die mit eigenen Augen erleben wollen, welche drastische Entwicklung der große Filmemacher Alfred Hitchcock in diesen 22 Jahren durchlief.

Fazit: "Der Mann, der zuviel wußte" ist ein etwas unausgereifter Thriller, der spannende Szenen und einen starken Showdown hat, aber wiederholt mit unpassenden humoristischen Einlagen und wenig nachvollziehbar handelnden Figuren irritiert.

Wertung: 6 Punkte.

Der Film ist noch bis 31. Mai 2020 in der Originalfassung mit deutschen Untertiteln kostenlos in der Arte Mediathek zu sehen.

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