Originaltitel:
The Man Who Knew Too Much
Regie: Alfred Hitchcock, Drehbuch: Charles Bennett und D.B.
Wyndham-Lewis, Musik: Arthur Benjamin
Darsteller: Leslie Banks, Peter Lorre, Hugh Wakefield, Frank Vosper, Nova Pilbeam, Pierre Fresnay, Edna
Best, George Curzon, Alfred
Hitchcock
Das britische Ehepaar Bob (Leslie Banks, "Graf Zaroff – Genie des Bösen") und Jill Lawrence
(Edna Best, "Ein Gespenst auf Freiersfüßen") befindet sich mit Tochter Betty (Nova Pilbeam, "Jung und
unschuldig") und dem Freund der Familie Clive (Hugh Wakefield, "Geisterkomödie") im Urlaub
in den Schweizer Bergen, als dort der Franzose Louis Bernard (Pierre Fresnay, "Die große Illusion"),
mit dem sie sich angefreundet hatten, erschossen wird. Der sterbende Louis bittet mit seinen letzten Worten die auch anwesenden Lawrences eindringlich,
eine versteckte Notiz aus seinem Zimmer zu holen und dann dem britischen Konsul zu
übergeben. Bob holt die mysteriöse Nachricht, doch bevor er sie abgeben kann, wird Betty
entführt, um die Lawrences zum Stillschweigen zu erpressen. Zurück in London
erfährt das verzweifelte Ehepaar, daß Louis Geheimagent war und seine Notiz
einen Mordanschlag auf einen Diplomaten verhindern könnte. Weiterhin wagen die
Lawrences nicht, ihr Wissen zu enthüllen, jedoch beschließen Bob und Clive, auf eigene Faust der Sache nachzugehen. Tatsächlich stoßen
sie auf Bettys Entführer Abott (Peter Lorre, "Die Spur des Falken"), den sie bereits in der
Schweiz getroffen hatten …
Kritik:
Der mit einem OSCAR ausgezeichnete "Der Mann, der
zuviel wußte" aus dem Jahr 1956 mit James Stewart und Doris Day in den
Hauptrollen ist einer der beliebtesten Filme des britischen Regiegenies Alfred
Hitchcock – nur wenige wissen, daß es sich dabei um ein Remake eines Films
handelt, den Hitchcock 22 Jahre zuvor in Großbritannien gedreht hatte. Wobei
es wohl "Neuinterpretation" besser trifft als
"Remake", denn obgleich Prämisse und grobe Storystruktur ebenso
wie einige Schlüsselszenen beibehalten wurden, unterscheiden sich die gleichnamigen Filme doch erheblich. Während die 1956er-Version ein grandios
konstruierter und inszenierter, primär auf atemlose Spannung
setztender Thriller ist, wirkt das 45 Minuten kürzere Original wie eine
stilistisch unentschlossene B-Movie-Rohfassung, die vor allem mit etlichen den Ernst der
Geschichte kontrastierenden humoristischen Elementen (manche davon vermutlich
unfreiwillig) irritiert. Natürlich ist auch das Remake nicht frei von Humor, doch hält es wesentlich besser die Balance zwischen Ernsthaftigkeit und leichter Komik. Hitchcock selbst bilanzierte später, sein erster Versuch
sei das Werk eines talentierten Amateurs gewesen und das Remake das eines
Profis – eine durchaus zutreffende Einordnung, auch wenn das Original beim
Kinostart gute Kritiken erhielt und gar als Hitchcocks kommerziell
erfolgreichster britischer Film gilt.
Das größte Problem des ersten "Der Mann, der zuviel
wußte" ist sein erstaunlicher Mangel an Authentizität. Das bezieht sich
sowohl auf die nicht immer plausible Geschichte als auch auf einzelne Szenen (der
Auftakt in der Schweiz, in dem Betty gleich zwei sportliche Wettkämpfe durchaus
gefährlich behindert, ohne daß das jemanden ernsthaft zu stören scheint, lädt
fast schon zum Fremdschämen ein) und die Verhaltensweise der meisten Figuren.
Selbst die für die Storyentwicklung ja ziemlich entscheidende Verzweiflung der
Lawrences ob der Entführung ihrer Tochter nimmt man ihnen nur phasenweise ab,
da vor allem Bob zwischendurch immer wieder unpassend humorvolle Kommentare
abgibt. Überhaupt scheint sich niemand so richtig der Dringlichkeit der
Situation bewußt zu sein, denn die Polizei reagiert selbst auf den Tod von
Kollegen irritierend gelassen bis sorglos und die Gangster (deren genaue
Motivation übrigens eine Geheimnis bleibt, auch wenn es eine Andeutung gibt,
ihr Plan habe Parallelen zum Mord an Erzherzog Franz Ferdinand als Auslöser des
Ersten Weltkrieges) lassen sich kaum einmal aus der Ruhe bringen. Zum Teil mag
das auch an den Schauspielleistungen liegen, denn Leslie Banks gibt einen recht
steifen Helden ab und gerade die Darsteller in kleineren Rollen agieren oft
wenig überzeugend. Hauptdarstellerin Edna Best als Jill bemüht sich zumindest,
bekommt aber zu wenig zu tun, um wirklich im Gedächtnis zu bleiben. Einzige, wohltuende Ausnahme ist Peter Lorre, der als Abott auch in seinem ersten
Film nach der Flucht aus Nazi-Deutschland zeigt, wie grandios und charismatisch
er Bösewichte verkörpern kann. Bemerkenswert: Lorre konnte noch kein
Englisch und mußte seine Dialoge deshalb phonetisch lernen, was vermutlich ein gelegentliches leichtes Overacting erklärt – trotzdem spielt er
die anderen regelrecht an die Wand.
Wahrscheinlich gibt es anderen Regisseur, in dessen
Karriere man eine so deutliche qualitative Entwicklung nachvollziehen kann wie
bei Alfred Hitchcock. Fraglos kann man schon in seinen britischen Frühwerken
(wie "Der Mann von der Insel Man") immer wieder in einzelnen
Szenen die typischen Stärken ausmachen, die ihn später zu einem der Größten der Branche machen sollten, doch man merkt ihnen auch in vielen Aspekten – von der
Schauspielerführung über das Erzähltempo bis hin zur glaubwürdigen
Plot-Entwicklung – einen Mangel an Erfahrung an. "Der Mann, der zuviel
wußte" ist dafür ein Paradebeispiel, gerade hinsichtlich der
humoristischen Einlagen, die hier einfach nicht passen wollen. Dabei ist etwa die Idee, Bob und Clive während eines Gottesdienstes singend
miteinander kommunizieren zu lassen, für sich genommen recht amüsant und auch
gut umgesetzt (wenngleich es wenig glaubwürdig erscheint, daß keiner ihre Texte
mitbekommt), doch wirkt sie stilistisch eben wie ein Fremdkörper. Gleiches gilt für
eine "Stuhlschlacht", bei der ich allerdings befürchte, daß sie eher
unfreiwillig komisch rüberkommt. Immerhin das actionreiche lange Finale sorgt
für einen spektakulären Schlußpunkt, sofern man bereit ist, über den auch hier
augenfälligen Mangel an Logik und Authentizität hinwegzusehen. Wer sich für die
Handlung von "Der Mann, der zuviel wußte" interessiert, der sollte
sich die viel bessere Neuinterpretation ansehen – das Original ist eher etwas
für Cineasten, die mit eigenen Augen erleben wollen, welche drastische
Entwicklung der große Filmemacher Alfred Hitchcock in diesen 22 Jahren durchlief.
Fazit: "Der Mann, der zuviel wußte" ist ein
etwas unausgereifter Thriller, der spannende Szenen und einen starken
Showdown hat, aber wiederholt mit unpassenden humoristischen Einlagen und
wenig nachvollziehbar handelnden Figuren irritiert.
Wertung: 6 Punkte.
Der Film ist noch bis 31. Mai 2020 in der Originalfassung
mit deutschen Untertiteln kostenlos in der Arte Mediathek zu sehen.
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