Regie: Martin Scorsese, Drehbuch: Steven Zaillian, Musik:
Robbie Robertson
Darsteller: Robert De Niro, Al Pacino, Joe Pesci, Stephen
Graham, Harvey Keitel, Domenick
Lombardozzi, Bobby Cannavale, Ray Romano, Anna Paquin, Kathrine Narducci, Jack Huston,
Stephanie Kurtzuba, Jesse Plemons, Gary Basaraba, Paul Herman, Marin Ireland, Sebastian Maniscalco,
Lucy Gallina, Welker White, Steven Van Zandt, Paul Ben-Victor
FSK: 16, Dauer: 209 Minuten.
Als der irischstämmige Lastwagenfahrer Frank Sheeran (Robert
De Niro, "Silver Linings") im Philadelphia der 1950er Jahre angeklagt
wird, weil er einen Teil der Ladung illegal an die örtliche Mafia verkauft hat,
vertritt ihn vor Gericht der Gewerkschaftsanwalt Bill Bufalino (Ray Romano, "The Big Sick"), der prompt einen Freispruch erwirkt. Was Frank nicht ahnt: Bills Cousin ist der einflußreiche Mafia-Boß Russell Bufalino (Joe Pesci, "Lethal Weapon
2"), dem er Frank nach dem Sieg vor Gericht vorstellt. Russell ist angetan
von Frank und wird zu seinem Mentor. Da der Kriegsveteran Frank alle Befehle
klaglos ausführt – selbst Morde – schafft er einen raschen Aufstieg in den Rängen
der Mafia und erhält schließlich einen prestigeträchtigen, langfristiger
ausgelegten Auftrag: Er wird zum Leibwächter des mächtigen und eng mit dem organisierten
Verbrechen verbandelten Gewerkschaftsführers Jimmy Hoffa (Al Pacino, "Once Upon a Time in … Hollywood"). Frank und der hitzköpfige Jimmy verstehen
sich gut und werden bald zu engen Freunden, ihre Familien verbringen ebenso viel
Zeit miteinander; speziell Franks Tochter Peggy (als Erwachsene: Anna Paquin,
"Trick 'r Treat") hat ein inniges Verhältnis zu ihrem Lieblings-Onkel
Jimmy. Doch als im Jahr 1960 John F. Kennedy zum US-Präsidenten gewählt wird und seinen Bruder
Robert (Jack Huston, "Hail, Caesar!") zum Generalstaatsanwalt ernennt,
nimmt sich dieser – obwohl JFK bei der Wahl aktiv von der Mafia unterstützt
wurde – das organisierte Verbrechen und ganz speziell Jimmy Hoffa vor, was
diesem letztlich eine mehrjährige Haftstrafe einbringt. Als Jimmy wieder
freikommt, will er "seine" Gewerkschaft natürlich zurück, doch seine Nachfolger
Frank Fitzsimmons (Gary Basaraba, "The Accountant") und Tony
Provenzano (Stephen Graham, "Rocketman") denken gar nicht daran, ihre
Macht abzugeben – und auch der Mafia wird Jimmys erratisches Verhalten
zunehmend lästig. Kann Frank seinen Kumpel davon überzeugen, sich
zurückzuhalten, bevor etwas Schlimmes passiert?
Kritik:
Es soll ja Menschen geben, die glauben, Martin Scorsese
könne nur Mafiafilme drehen. Das ist einerseits ansatzweise verzeihlich, da er
dieses Genre mit einigen Klassikern geprägt hat wie kaum ein anderer
Filmemacher (abgesehen von "Der Pate"-Regisseur Francis Ford Coppola,
versteht sich). Andererseits offenbart es erhebliche Wissenslücken,
denn in seiner mittlerweile mehr als fünf Dekaden umspannenden Karriere drehte der Italo-Amerikaner mit "Hexenkessel" (1973), "Good Fellas" (1990),
"Casino" (1995), "Departed" (2006) und "The
Irishman" gerade einmal fünf Mafiafilme – von denen in Deutschland
lediglich "Departed" (Remake des hongkong-chinesischen
Meisterwerks "Infernal Affairs") die Marke von einer Million
Kinogängern knackte, auch in den USA zählen nach Besucherzahlen lediglich
"Departed" und (knapp) "Good Fellas" zu den zehn
erfolgreichsten Scorsese-Werken. Zu den von ihm bearbeiteten Genres zählen
daneben grimmige Sozialstudien ("Taxi Driver"), Thriller ("Kap
der Angst"), Sportfilme ("Wie ein wilder Stier"), Dramen
("Bringing Out the Dead", "Die Farbe des Geldes"), Bibelfilme
("Die letzte Versuchung Christi"), Historienfilme ("Zeit der
Unschuld", "Silence"), Biopics ("Aviator", "The Wolf of Wall Street", "Kundun"), Familienabenteuer ("Hugo Cabret"), Tragikomödien ("The King of Comedy"), Musikfilme
("New York, New York"), Horrorfilme ("Shutter Island") und
Dokus ("No Direction Home", "Shine a Light") –
und in all diesen Genres bewies Martin Scorsese sein Können. Den gebürtigen New
Yorker auf seine Mafiafilme zu reduzieren, wäre also höchst unfair – und doch ist
es unübersehbar, daß ihm dieses Genre besonders am Herzen liegt. Bestes
Beispiel dafür ist "The Irishman", Adaption des Sachbuches
"I Heard You Paint Houses" von Charles Brandt, die Scorsese seit der
Buchveröffentlichung im Jahr 2003 anstrebte, aber erst gut 15 Jahre später
realisieren konnte, weil die traditionellen Filmstudios ihm nicht genügend Geld
für ein dreieinhalbstündiges Gangsterepos mit drei legendären, aber nicht mehr
unbedingt hippen Hauptdarstellern zur Verfügung stellen wollten – das übernahm
schließlich Streaming-Anbieter Netflix, der Scorsese beeindruckende rund
$160 Mio. zur Verfügung stellte und ihm volle kreative Freiheit ließ. Ob
sich das für Netflix letztlich rentiert hat, werden wir womöglich nie
erfahren (und es wäre mangels regulärerer Kinoauswertung sowieso schwer
quantifizierbar), doch alleine die zehn OSCAR-Nominierung (von denen jedoch keine in einen Sieg umgemünzt werden konnte) beweisen, daß man sich
als Filmfreund über das unternehmerische Wagnis nur freuen kann – auch wenn
"The Irishman" kaum als Scorseses bester Mafiafilm in die Historie
eingehen wird.
Dreieinhalb Stunden sind eine Menge Holz; länger als
"Avatar" oder "Titanic", länger sogar als der längste
"Der Herr der Ringe"-Teil (in der Kinofassung). Ob diese Laufzeit für
"The Irishman" wirklich nötig war, darüber kann man diskutieren.
Fraglos hat Martin Scorseses Film speziell zu Beginn seine Längen und es hätte der
Qualität wahrscheinlich nicht geschadet, hätten die Geldgeber Scorsese doch zu
ein paar Kürzungen gedrängt, die den Film auf unter drei Stunden gebracht hätten.
Andererseits ist es jedoch durchaus faszinierend zu beobachten, wie penibel und
detailverliebt Scorsese seine mehrere Jahrzehnte umfassende Story behutsam
aufbaut und die Hauptfiguren glaubwürdig entwickelt. Im heutigen Blockbuster-Kino geht es generell betont tempo- und actionreich zu, da
kann es nicht schaden, zwischendurch mal wieder einen Film der ganz alten
Schule zu Gesicht zu bekommen, der sich beim Erzählen unaufgeregt seine
Zeit läßt und eine der drei Hauptfiguren erst nach über einer Stunde einführt.
Dabei handelt es sich um den einflußreichen Gewerkschaftsboß Jimmy Hoffa und
das ist der Zeitpunkt, an dem "The Irishman" richtig Fahrt aufnimmt.
Bis dahin handelt es sich in erster Linie um eine gut beobachtete Milieustudie,
die nicht unähnlich "Good Fellas" oder gar noch mehr Sergio Leones
(ähnlich langem) "Es war einmal in Amerika" den Aufstieg des von
Robert De Niro gewohnt intensiv verkörperten Kriegsveteranen Frank Sheeran vom
kleinen LKW-Fahrer mit krimineller Energie zum loyalen Mafia-Mitglied mit
mächtigen Freunden schildert. Dazu zählt besonders Franks Förderer und Mentor
Russell Bufalino – ein Rolle, für die es Scorsese gelang, seinen langjährigen
Weggefährten Joe Pesci aus dem Ruhestand zu locken. Zum Glück, denn Pesci –
ebenso wie Pacino OSCAR-nominiert – spielt die Rolle sehr einnehmend und darf
sogar neue schauspielerische Facetten (zumindest innerhalb eines
Gangsterfilms) zeigen, denn Russell ist keineswegs einer der typischen
Pesci-Wüteriche á la "Casino", mit deren perfekter Darstellung er
weltberühmt wurde. Stattdessen ist Russell ein leiser, freundlicher und stets
beherrschter, aber nichtsdestoweniger gefährlicher Mann, der den Laden gut im
Griff hat und auch nicht vor drastischen Entscheidungen zurückschreckt, wenn es sein
muß.
Das Gegenstück zu Russell ist Jimmy Hoffa, von Pacino als
charismatischer und großspuriger Menschenfänger gezeichnet, der aber zu
Größenwahn neigt, sich von einem einmal gefaßten Vorhaben – wie dumm oder
gefährlich es auch sein mag – nicht mehr abbringen läßt und eine sehr kurze
Zündschnur hat. Dieses meisterhafte Darsteller-Trio miteinander agieren zu
sehen, ist für jeden Anhänger der Schauspielkunst ein wahres Vergnügen und
obwohl De Niros Frank im Zentrum der Geschichte steht, ist die vielleicht
intensivste und denkwürdigste Szene von "The Irishman" das direkte
Aufeinandertreffen von Russell und Jimmy bei einer Feier, bei der Frank eine
Auszeichnung erhält – da sprühen dermaßen die Funken, da kann keine
Schießerei oder Verfolgungsjagd mithalten! Angesichts dieser drei
Schauspiel-Ikonen, denen Scorsese viel Raum zum Glänzen gibt, läßt es sich
verschmerzen, daß die übrigen Charaktere recht blaß bleiben. Für den Mangel an
substantiellen Frauenrollen mußte sich Scorsese auch ein wenig Kritik anhören
und die ist nicht ganz unberechtigt – lediglich Franks als Erwachsene von Anna
Paquin verkörperte Tochter Peggy spielt (auch ohne viele Worte) eine bedeutende
Rolle, da sie beispielhaft für die Konsequenzen von Franks Tätigkeit für sein
Privatleben steht. Die weiteren Nebenrollen sind zwar mit Ray Romano (als
Russells Cousin Bill), Stephen Graham (als Hoffas Erzrivale Tony Provenzano), Jesse Plemons ("Game Night"; als Hoffas Ziehsohn Chuckie)
oder Harvey Keitel ("Grand Budapest Hotel"; als Gangsterboß Angelo Bruno) namhaft besetzt und gut
gespielt, bleiben aber letztlich nur Beiwerk. Netter Einfall: Wann immer ein neuer
Gangster auftritt, blendet Scorsese kurz einen Text über sein in den meisten
Fällen gewaltsames Ende ein – von einer etwaigen Verherrlichung der Mafia kann nicht nur
deshalb also keine Rede sein. So gewissenhaft und gekonnt Scorsese "The
Irishman" aufzieht und trotz des gemächlichen Erzähltempos und der
vielen Zeitsprünge die Aufmerksamkeit des Publikums behält, läßt sich doch nicht
leugnen, daß es im Vergleich zu seinen früheren Gangsterfilm-Klassikern an
wirklich hervorstechenden Szenen mangelt. Viel Neues hat Scorsese über die
Thematik nicht mehr zu erzählen und das, was er erzählt, hat abseits des
Schauspielerischen nicht viele Höhepunkte zu bieten. Die Story spielt
sich zu der musikalischen Begleitung von Robbie Robertson ("Die Farbe des Geldes") und vielen
zeitgenössischen Songs auf konstant hohem Niveau ab, doch die Anzahl der
denkwürdigen Momente hält sich in sehr engen Grenzen.
Ein Element von "The Irishman", das für deutlich
mehr Diskussionen gesorgt hat als sämtliche inhaltlichen Aspekte, ist die
Nutzung der CGI-Verjüngung der Hauptdarsteller. So etwas wurde bereits in
Filmen wie "Ant-Man" (bei Michael Douglas) überzeugend etabliert, flächendeckend geschieht es jedoch in "The Irishman" erstmals.
Technisch ist das mit Sicherheit wegweisend, die Meinungen darüber,
wie überzeugend es wirkt, sind aber geteilt. Stärkstes Argument der Kritiker ist
die Tatsache, daß die digital verjüngten Robert De Niro, Al Pacino und Joe
Pesci mehr (De Niro) oder weniger (Pesci) große Unterschiede zu den realen
jungen De Niro, Pacino und Pesci aufweisen. Das liegt daran, daß der Computer
die Gesichtszüge verjüngen kann, jedoch nicht die generellen Körpermaße oder die Bewegungen. Bei den Dreharbeiten wurde zwar ausdrücklich darauf
geachtet, daß die Darsteller in den "jüngeren" Szenen leichtfüßiger
und beweglicher agieren als in den "alten" – aber daß das Veteranen-Trio
allesamt auf die 80 Jahre zugeht, läßt sich nunmal nicht einfach so
wegschauspielern. Dazu kommt, daß speziell De Niro heute ein wesentlich
breiteres Gesicht hat als in jungen Tagen, weshalb beispielsweise der
"Taxi Driver"-De Niro ganz anders aussieht als der junge Frank
Sheeran. Das ist zumindest zu Beginn schon ein bißchen irritierend,
allerdings habe ich mich schnell daran gewöhnt, und außerdem: "The
Irishman" ist ein Spielfilm, Frank Sheeran ist eine Rolle. Als Zuschauer
sehen wir ja nicht Robert De Niro, sondern Frank Sheeran (in De Niros
Interpretation), und der darf natürlich anders aussehen als Travis Bickle (in
"Taxi Driver") oder Jake LaMotta ("Wie ein wilder Stier"),
auch wenn alle vom gleichen Schauspieler verkörpert werden. Bei Pacino und Pesci
ist die Sache sowieso unproblematisch, da sich beide optisch nicht sehr
verändert haben. Unterm Strich halte ich dieses CGI-Experiment für gelungen,
ich hätte mich aber auch nicht darüber beschwert, wäre Scorsese wie in früheren
Zeiten vorgegangen und hätte die jungen Figuren einfach mit anderen Darstellern
besetzt – immerhin feierte De Niro selbst in "Der Pate,
Teil II" seinen endgültigen Durchbruch als junge Version des in Teil I von Marlon Brando gespielten Don Vito Corleone ...
Fazit: "The Irishman" ist ein technisch und
schauspielerisch brillanter Gangsterfilm mit drei glänzend ausgearbeiteten
Hauptfiguren, der jedoch mit dreieinhalb Stunden etwas zu lang für seine
letztlich überschaubare und nur wenig Neues bietende Handlung geraten ist.
Wertung: Gut 8 Punkte.
Bei Gefallen an meinem Blog würde ich mich über die Unterstützung von "Der Kinogänger" mittels etwaiger Bestellungen über einen der amazon.de-Links in den Rezensionen oder über das amazon.de-Suchfeld in der rechten Spalte freuen, für die ich eine kleine Provision erhalte.
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