Regie: Tom Shankland, Drehbuch: Harry und Jack Williams, Musik: Dominik Scherrer
Darsteller:
James Nesbitt, Tchéky Karyo, Frances O'Connor, Jason Flemyng, Saïd Taghmaoui,
Anastasia Hille, Arsher Ali, Ken Stott, Émilie Dequenne, Titus De Voogdt, Eric
Godon, Astrid Whettnall, Jean-François Wolff, Anamaria Marinca, Johan Leysen, Diana Quick, Joséphine
de La Baume, Oliver Hunt
Samstag, 1. Juli 2006: Kurz bevor am Abend bei der
Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland das Viertelfinale Brasilien gegen Frankreich ansteht, strandet die britische Familie Hughes auf der Fahrt in
den Urlaub als Folge einer Autopanne in der französischen Kleinstadt Chalons du
Bois. Eigentlich halb so wild, immerhin finden sie Unterkunft in der netten
kleinen Pension von Sylvie Deloix (Astrid Whettnall, "In the Name of the Son") und ihrem Mann Alain (Jean-François Wolff, "Das brandneue Testament") und während die Franzosen in einer nahegelegenen Poolbar
allesamt gebannt das Fußballspiel verfolgen, kann der fünfjährige Ollie (Oliver
Hunt) mit seinem Vater Tony (James Nesbitt, Zwerg Bofur in "Der Hobbit") ausgiebig und völlig ungestört seiner Schwimmleidenschaft
nachgehen. Als Tony an der überfüllten Bar Getränke kaufen will, verliert er im Gedränge
Ollie – und findet ihn nicht wieder! Als eine ausführliche Suchaktion
der lokalen Polizei keinen Erfolg zeitigt, geht man davon aus, daß Ollie
wohl entführt wurde. Der erfahrene Spezialist Julien Baptiste (Tchéky Karyo,
"Belle und Sebastian") übernimmt die Ermittlungen, doch trotz vielversprechender Spuren bleibt Ollie verschwunden. Acht Jahre später
taucht Tony Hughes wieder in Chalons du Bois auf, da er im Internet ein Foto
gefunden hat, auf dem jemand Ollies unverwechselbaren Schal trägt, den dieser bei
seinem Verschwinden dabei hatte. Für die Polizei und speziell den vor der
Wiederwahl stehenden Ermittlungsrichter Georges (Eric Godon, "Nichts zu
verzollen") reicht das nicht aus, um den Fall wieder zu öffnen, doch der
inzwischen pensionierte Julien glaubt Tony und hilft ihm bei weiteren
Nachforschungen zum Schicksal des kleinen Ollie …
Kritik:
In den 1990er Jahre war der in der Türkei geborene Franzose
Tchéky Karyo ein richtig großer europäischer Kinostar. Schon 1990 brachte ihm
seine Hauptrolle in Luc Bessons "Nikita" den Durchbruch, auf den
zahlreiche mal mehr, mal weniger große Rollen sowohl in Europa ("1492 – Die
Eroberung des Paradieses", "Nostradamus", "Crying
Freeman", "Dobermann", "Johanna von Orleans", "James Bond – Goldeneye",
"Der König tanzt", "Mathilde –
Eine große Liebe") als auch in Hollywood ("Bad Boys", "Der
Patriot", "The Core") folgten. Dabei zeichnete Karyo sich
auch dadurch aus, daß er sowohl als Held als auch als Bösewicht überzeugte.
Nach dem Jahrtausendwechsel war der beliebte Charakterdarsteller immer seltener
zu sehen, zumindest außerhalb seiner Heimat Frankreich. Da ich ihn stets sehr
gern gesehen habe, ist es eine tolle Nachricht für mich, daß er sich mit einer
Hauptrolle in dem bislang zwei Staffeln umfassenden britisch-französischen
Krimihighlight "The Missing" zurückmeldet. Denn ein Highlight ist es in der Tat, was die Autorenbrüder Jack und Harry Williams sich da ausgedacht
haben, erstklassig in Szene gesetzt vom TV-erfahrenen Tom Shankland
("Ripper Street", "The Leftovers", "House of
Cards") und mit einem Schauspielensemble ausgestattet, das seinesgleichen
sucht.
Die offensichtlichste Besonderheit von "The
Missing" ist, daß die Handlung auf zwei parallele Zeitebenen aufgeteilt ist.
Dadurch erfahren wir früh, daß sich in den acht dazwischenliegenden Jahren einiges verändert hat. Julien hinkt beispielsweise inzwischen stark, einer
der damaligen Ermittler sitzt nun im Gefängnis, Tony und
Emily Hughes (Frances O'Connor, "Ernst sein ist alles") sind
geschieden, der ehrgeizige britische Reporter Malik Suri (Arsher Ali,
"Four Lions") hat die Familie offenbar ziemlich verärgert. Neben dem
eigentlichen Fall des vermißten Jungen wecken auch diese Veränderungen das
Interesse des Publikums und halten die Spannung über die kompletten acht
jeweils einstündigen Episoden hinweg hoch – man will einfach wissen, was
passiert ist! In Wirklichkeit ist das sogar das zentrale Element von "The
Missing", wie auch die Autoren betonen: Es geht gar nicht so sehr um den
Kriminalfall als vielmehr um die involvierten Personen und darum, wie sich Ollies
Verschwinden auf ihre Leben ausgewirkt hat – auch die Frage, ob sich Menschen
wirklich verändern können, spielt eine bedeutende Rolle und wird durchdacht
veranschaulicht (wenngleich ich der Schlußfolgerung nur bedingt zustimme).
Der erzählerische Fokus auf die Charaktere lenkt zugleich
recht gut davon ab, daß durch das Wissen aus der Gegenwarts-Handlung natürlich
des öfteren klar ist, wie einzelne Aspekte der Ermittlungen in der
Vergangenheit verlaufen werden – ganz davon abgesehen, daß angesichts
der Länge der Staffel sowieso jedem klar sein dürfte, daß der erste Verdächtige wahrscheinlich nicht der Gesuchte ist (oder dies, falls er es doch ist,
erst über Umwege spät ans Licht des Tages kommen wird). Ob dieser
offensichtlich falschen Spuren könnte man argumentieren, daß die
Staffel mit einer oder zwei Episoden weniger sogar noch besser funktionieren
würde als sie es ohnehin tut. Andererseits sind die Ermittlungen der Polizei
auf diese Weise dafür aber umso authentischer geschildert, zudem gibt es immer noch
ein paar Figuren, die meines Erachtens zu kurz kommen. Das trifft primär auf den von Saïd Taghmaoui ("American Hustle")
verkörperten französischen Ermittler Khalid Ziane zu, aber auch der Journalist
Malik Suri oder der zufällig ebenfalls mit seinem Sohn im Ort urlaubende
britische Polizist Mark Walsh (Jason Flemyng, "X-Men: Erste Entscheidung") – der im Laufe der Zeit Emily deutlich näherkommt – werden
ein wenig stiefmütterlich behandelt.
Auf der anderen Seite stehen natürlich vorrangig Ollies
Eltern und Ermittler Julien Baptiste im Mittelpunkt, wobei Emily allerdings eine etwas
kleinere Rolle spielt. Das liegt daran, daß sie und Tony ziemlich unterschiedlich
auf den Verlust reagieren: Während Emily nach und nach versucht, wieder ins
Leben zurückzufinden, kann und will Tony das nicht tun, stattdessen wird er auf
seiner unermüdlichen Suche nach den kleinsten möglichen Indizien regelrecht
obsessiv. Ein echtes Leben kann er so nicht mehr führen, das Geld
geht ihm aus, dank seines passiv-aggressiven Verhaltens bleiben ihm auch
kaum noch Freunde. Nur Julien, den es quält, daß er den Fall nicht lösen konnte,
hält zu Tony – das aber auch erst, als er davon überzeugt ist, daß der dieses
Mal (anders als mehrfach in der Zeit zwischen 2006 und 2014) tatsächlich etwas
von Bedeutung gefunden hat. Die, wenngleich wegen Tonys erratischen Verhaltens
leicht holprige, Freundschaft zwischen Tony und Julien kommt nicht von
ungefähr, ist doch auch der Franzose ein obsessiver Typ, wie er selbst sagt – und wie es
ja auch die Tatsache zeigt, daß er selbst im Ruhestand nicht von seiner Arbeit
lassen kann. Tony geht in seiner Obsession gleichwohl deutlich weiter, er neigt
erkennbar zu Vorverurteilung und Selbstjustiz und jagt – ganz ähnlich wie Hugh
Jackmans Figur in "Prisoners" – Spuren nach, die die Polizei bereits
ausgeschlossen hat. Extrem sympathisch macht ihn das nicht, ebensowenig
sein Verhalten gegenüber Emily, wenngleich man stets Mitgefühl mit
Tony hat und weiß, daß er auch deshalb alle wegstößt, weil er sich
selbst die Schuld an dem gibt, was Ollie widerfahren ist. Tony Hughes ist eben
eine ambivalente Figur mit Tiefgang und genau das macht ihn so authentisch.
Damit wären wir auch schon bei Vincent Bourg (Titus De
Voogdt, "Ben X"), dem primären Ziel von Tonys obsessiver Jagd.
Vincent ist ein registrierter Pädophiler und wurde in der Nähe des Tatorts
gesehen, weshalb er logischerweise der erste Verdächtige ist. Dennoch schließt
ihn die Polizei aufgrund eines wasserdichten Alibis schnell aus, was der
verzweifelte Tony aber nicht akzeptieren will. Überraschenderweise bleibt uns
Vincent die ganze Staffel über erhalten (was kein Spoiler ist, da er bereits
früh in der 2014er-Ebene zu sehen ist), auch wenn er dann nur noch wenig mit
dem Rest der Geschichte zu tun hat. Trotzdem zählt seine Geschichte zu den stärksten der vielen Handlungsstränge von "The Missing", denn die Autoren zeigen Vincents Kampf –
der auf seine Weise nicht weniger verzweifelt ist als Tonys – gegen seine
ungewollten Begierden. Da er diese nie aktiv auslebte, kann man als Zuschauer
ohne schlechtes Gewissen Mitgefühl mit seiner Lage haben; mit ein bißchen
Empathie kann man sich durchaus vorstellen, wie schrecklich es sein muß, sein Leben lang gegen Gefühle ankämpfen zu müssen, die man niemals wollte, und
gleichzeitig die Angst davor zu bezähmen, sich irgendwann vielleicht
nicht mehr zurückhalten zu können. Auch hier bin ich zwar nicht
hundertprozentig einverstanden mit der Auflösung der Episode, doch der
Weg dorthin ist überzeugend und einfühlsam geschildert. Etwas aktionistischer, jedoch trotzdem stark wird mit dem britischen Architekten Ian Garrett – gewohnt
ausdrucksstark gespielt vom schottischen Haudegen Ken Stott ("King Arthur", Zwerg Balin in "Der Hobbit") – verfahren, dem vor
Jahren Ähnliches wiederfuhr wie den Hughes' und der deshalb selbstlos eine hohe
Belohnung für Hinweise auf Ollie auslobt. Ian hat vor allem mit Tony zu tun,
der dem kumpelhaften Architekten sehr dankbar ist, ihm auch schnell sein Herz
ausschüttet und ihm Dinge erzählt, die er mit seiner Frau nicht besprechen kann.
Man kann die Serienmacher nur dafür loben, wieviel Mühe sie
in die Figurenzeichnung und die intensiven (wenngleich nicht immer komplett
klischeefreien) Dialoge gesteckt haben, die den effektiven und überwiegend gut
und logisch durchdachten, im Kern jedoch recht simplen Plot selbst in den
Schatten stellen, dessen emotionales Ende übrigens Raum zum Diskutieren und Interpretieren läßt. "The Missing" ist definitiv ein
charaktergetriebenes Thriller-Drama, wobei die exzellente, paneuropäische Besetzung logischerweise ausgesprochen hilfreich ist. Vor allem Tchéky Karyo liefert
als charismatischer Chefermittler eine ausgezeichnete Leistung ab, der für den britischen BAFTA TV-Award nominierte James
Nesbitt (wenngleich ihm das Drehbuch hier nicht ganz so viel Gelegenheit zum
Glänzen gibt wie beispielsweise die Miniserie "Jekyll" von
"Sherlock"-Schöpfer Steve Moffat), die für einen Golden Globe nominierte Frances O'Connor, Ken Stott (ebenfalls mit einer BAFTA TV-Nominierung bedacht), Titus de Voogdt oder Anamaria Marinca (die "Europa Report"-Darstellerin
spielt eine rumänische Immigrantin, deren krimineller Bruder in das Geschehen
verwickelt sein könnte) stehen ihm jedoch kaum nach. Wenngleich die Sprachvielfalt in der deutschen Synchronfassung beibehalten wird (nicht-englische Dialoge sind deutsch untertitelt), empfehle ich übrigens dennoch, nach
Möglichkeit die Originalfassung mit ihrer bemerkenswerten Akzent-Vielfalt zu
genießen – mir gefällt Stotts schottischer Akzent besonders gut …
Fazit: "The Missing" ist eine
charaktergetriebene Drama-/Thrillerserie, die mit einer glänzend durchdachten, realistischen
Handlung und komplexen, hervorragend besetzten Figuren besticht und dabei anschaulich und sehr bewegend
verdeutlicht, wie das spurlose Verschwinden eines Kindes vielerlei Leben für
immer verändert.
Wertung: 9 Punkte.
Staffel 1 von "The Missing" ist am 21. April 2017 von
Pandastorm Pictures auf DVD und Blu-ray veröffentlicht worden. Das
Bonusmaterial umfaßt kurze, aber informative Episodenkommentare des
Autoren-Duos und von Hauptdarsteller Nesbitt sowie zwei ebenso kurze
Featurettes, alles in allem beläuft sich die Dauer der Extras auf etwa 20
Minuten; zudem gibt es erfreulicherweise englische Untertitel. Das
Rezensionsexemplar wurde mir freundlicherweise von Glücksstern-PR zur Verfügung
gestellt.
Bei Gefallen an meinem Blog würde ich mich über die Unterstützung von "Der Kinogänger" mittels etwaiger Bestellungen über einen der amazon.de-Links in den Rezensionen oder über das amazon.de-Suchfeld oder das jpc-Banner in der rechten Spalte freuen, für die ich eine kleine Provision erhalte.
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