Originaltitel: Hoshi o ou kodomo
Alternativtitel: Children Who Chase Lost Voices
Alternativtitel: Children Who Chase Lost Voices
Regie und Drehbuch: Makoto Shinkai, Musik: Tenmon
Sprecher der deutschen Synchronfassung: Maximiliane Häcke, Matthias Klie,
Constantin von Jascheroff, Shalin Rogall,
David Wittmann, Katrin Zimmermann, Ghadah Al-Akel
FSK: 6, Dauer: 116 Minuten.
Nach dem Tod ihres Vaters wird die junge Asuna von ihrer
Mutter aufgezogen, einer sie sehr liebenden Krankenschwester, die aber
ständig arbeiten muß, um genügend Geld zu verdienen. Asuna nutzt ihre freie,
unbeobachtete Zeit am liebsten für ausgiebige Streifzüge durch die
naturbelassene Umgegend, besonders gerne besucht sie die höchste Erhebung, auf
der sie mit ihrem Radio den besten Empfang hat. Auf dem Weg dorthin wird sie
eines Tages auf einer Eisenbahnbrücke von einer aus dem Nichts
auftauchenden, gräßlichen Kreatur attackiert, doch im letzten Moment rettet
sie ein mysteriöser Junge namens Shun. Die Teenager verbringen einen
angenehmen Nachmittag miteinander und Asuna erfährt, daß Shun aus einem fremden
Land namens Agartha kommt und ein "Torwächter" ist. Am nächsten Tag wollen sie sich erneut treffen, doch
Shun ist nicht da – in der Schule erfährt Asuna später, daß im Fluß die Leiche
eines Jungen gefunden wurde, der Asunas Halstuch bei sich hatte … Als ihr neuer
Lehrer, Herr Morisaki, kurz darauf im Unterricht vom unterirdischen Reich der
Toten erzählt, das weltweit viele verschiedene Namen habe – darunter Agartha –,
beginnt Asuna Nachforschungen. Und als sie an der Stelle, an der sie Shun traf,
schließlich einen ihm sehr ähnlich sehenden Jungen auffindet, der sich als dessen
jüngerer Bruder Shin vorstellt und an dessen Stelle nun das Tor nach Agartha
bewachen soll, überschlagen sich die Ereignisse: Bewaffnete tauchen auf und
attackieren Shin, der mit Asuna durch das Tor in seine Heimat
flüchtet. Ein Bewaffneter kann ihnen folgen – es ist Herr Morisaki …
Kritik:
Immer wieder aufs Neue bin ich erstaunt und zutiefst beeindruckt, wie häufig es japanischen Zeichentrickfilmen gelingt, mit kindlichen oder jugendlichen
Protagonisten dezidiert erwachsene Geschichten zu erzählen. Welch kurioser
Unterschied ist das doch zu den amerikanischen und europäischen
Animationsfilmen, in denen zwar häufiger Erwachsene im Mittelpunkt der Story
stehen (beispielsweise in den zahlreichen Märchenadaptionen der Walt Disney Studios), die inhaltliche Ausrichtung aber dennoch viel stärker auf ein sehr junges
Publikum abzielt. In den außer-asiatischen Kinos bekommt man die Fähigkeiten
der japanischen Zeichentrick-Branche (außerhalb von Festivals) fast nur anhand
der Werke von Hayao Miyazaki ("Chihiros Reise ins Zauberland") mit,
doch ist er bei weitem nicht der einzige, der das kann. Ein anderer ist Makoto
Shinkai, wie er mit seiner märchenhaften Coming of Age-Erzählung "Die
Reise nach Agartha" eindrucksvoll nachweist.
Dabei begeistert der zauberhafte Zeichenstil ebenso wie
Ernsthaftigkeit und Themenvielfalt der Handlung. Ich mache in meinen
Rezensionen ja nie einen Hehl daraus, daß ich rein optisch klassischen
Zeichentrick den heute in der westlichen Filmwelt dominierenden
CGI-Animationen vorziehe. Natürlich kann man auch mit letzteren gute ("Die Eiskönigin") oder sogar großartige ("WALL-E") Filme machen, aber
ein "echter" Zeichentrickfilm wird bei mir immer von Beginn an einen
Stein im Brett haben. Und wenn er dann auch noch so wunderschön gezeichnet ist
und zusätzlich inhaltlich so sehr überzeugt wie Miyazakis Werke oder "Die
Reise nach Agartha", dann bin ich glücklich.
Was mich an Shinkais Film besonders fasziniert, ist, wie
leichtfüßig er so schwere, ernsthafte Themen wie Tod, Liebe,
Verantwortungsgefühl und krankhafte Obsession mit einer spannenden Geschichte
verknüpft, die aus der Perspektive eines gutherzigen, altersbedingt etwas naiven jungen
Mädchens erzählt wird. Ebenso erfreulich ist die Ambivalenz der recht
vielschichtigen Figuren um Asuna herum. Shun, dessen Sehnsucht nach den in
Agartha nicht existierenden Sternen ihn (in einer traumhaft schönen Szene) das
Leben kostet, wächst einem in seinen wenigen Szenen ebenso ans Herz wie später Shin,
der zwar nicht über die Fähigkeiten seines großen Bruders als Wächter Agarthas verfügt
und das auch deutlich zu hören bekommt, aber an seiner Aufgabe wächst. Am
interessantesten ist jedoch sicher Herr Morisaki geraten, dessen Motivation
für den Besuch des Reichs der Toten seine vor Jahren verstorbene Frau Lisa ist,
über deren Verlust er einfach nicht hinwegkommt … oder nicht hinwegkommen will. Obwohl Asuna
ihm schon bald offenbart, er wäre für sie wie ein Vater (den sie ja nicht mehr hat),
verhält sich Herr Morisaki in seiner wahnhaften Queste um die
Wiedervereinigung mit seiner geliebten, toten Gattin keineswegs durchgehend
heldenhaft. Er sorgt sich um Asuna und hilft ihr, wenn er kann – aber nur
solange das nicht seine eigenen Pläne durchkreuzt.
Eingebettet sind diese glaubhaft dargebrachten Charaktere
übrigens in einen viel größeren, grundsätzlichen Konflikt zwischen den Bewohnern
Agarthas, die infolge schlechter Erfahrungen nichts mehr mit den Menschen
von der Oberwelt zu tun haben wollen, und den "Arcangeli", einem
zwielichtigen Geheimbund (dem sich Herr Morisaki angeschlossen hat, wenngleich er ihn nur als Mittel zum Zweck sieht), der in Agartha an Artefakte kommen will,
die ihm große irdische Macht verleihen könnten. Allerdings kommt mir dieser Erzählstrang eher überflüssig vor, denn einerseits wird er zu
oberflächlich abgehandelt, um ein echtes Interesse wecken zu können, andererseits wirkt es einfach übertrieben und tendentiell sogar unfreiwillig komisch, wenn
ein Dorfältester Asuna erzählt, wie lange und oft bereits Menschen Agarthas
Macht für ihre Zwecke mißbrauchen wollten, und dabei eine lange Reihe deutlich
erkennbarer historischer Personen "eingeblendet" wird, die von Napoleon bis
Hitler und Stalin reicht …
Eine bessere Idee Shinkais war es zweifellos, diverse Mythen
in das von ihm geschaffene Phantasiereich Agartha einzubinden. So ist natürlich
die altgriechische Sage von Orpheus und Eurydike klar als Inspiration für Herrn
Morisakis Mission erkennbar – respektive eine japanische Variante, denn
wie der Lehrer in der Schule erzählt, existieren wohl weltweit sehr ähnliche
Versionen dieser Geschichte von der unendlichen Liebe über den Tod hinaus.
Zudem gibt es beeindruckende, jede für sich ganz indivduell gestaltete
Kreaturen wie die zu Beginn von Shun (widerwillig) getötete, die als Wächter
der Toten dienen und "Quetzalcoatl" heißen – nach einer alten Inka-
und Maya-Gottheit. Herr Morisaki lehrt seine Schüler übrigens eine interessante
Theorie über das Verschwinden der alten Gottheiten auf der ganzen Welt: Demnach
hätten sie der Menschheit anfangs als eine Art schützende Leitfiguren gedient,
die dann nach und nach einfach nicht mehr gebraucht wurden.
Das Verschwinden der Quetzalcoatl von der Oberfläche hat
allerdings einen weit profaneren Grund, wie Shin Asuna offenbart: Die
zunehmende Luftverschmutzung war es, die sie in den Untergrund getrieben hat. In diesem
winzigen Storyelement, das durch den grundsätzlichen (und in grobem Kontrast zu den
Arcangeli stehenden) Widerwillen der Bewohner Agarthas, die Quetzalcoatl zu
töten – selbst wenn sie von ihnen attackiert werden –, kann man unschwer eine
Parallele Shinkais zu seinem erklärten Vorbild Hayao Miyazaki erkennen, denn
dessen Werke, allen voran "Prinzessin Mononoke", sind stets von einer
(fast nie übermäßig plakativ präsentierten) ökologischen Botschaft und der eindringlichen Mahnung an die Menschen, die Natur zu erhalten, durchdrungen. Leider kann das
Finale von "Die Reise nach Agartha" nicht ganz so sehr überzeugen wie
(fast) alles zuvor, dennoch ist Makoto Shinkai ohne jeden Zweifel ein
bezaubernder Film gelungen.
Fazit: "Die Reise nach Agartha" ist ein
wunderschöner japanischer Zeichentrickfilm, der eine märchenhafte, aber
erwachsene Geschichte in einer phantasievollen Welt voller spannender
Charaktere erzählt.
Wertung: 8,5 Punkte.
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