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Donnerstag, 5. Dezember 2013

OSCAR-News: Überraschungstriumph der Tragikomödie "Her" bei den NBR Awards

Das National Board of Review wurde 1909 in New York eigentlich zu dem Zweck gegründet, die Interessen der Filmbranche gegen Zensurbestrebungen zu verteidigen. Heutzutage kommt das NBR in den breiten Medien eigentlich nur noch einmal pro Jahr vor: bei der Vergabe der NBR Awards, die lange Zeit den Auftakt der Awards Season darstellte. Inzwischen hat sich der New York Film Critics Circle (NYFCC) um ein paar Tage vorgedrängelt, dennoch ist die Bedeutung der NBR Awards für den weiteren Verlauf des OSCAR-Rennens nicht zu unterschätzen. Wer hier gewinnt (in den letzten Jahren etwa "Zero Dark Thirty", "Hugo Cabret", "The Social Network", "No Country for Old Men", "Slumdog Millionär"), der hat gute Karten; wer komplett leer ausgeht, der hat ein echtes Problem. Umso bemerkenswerter, daß der Hauptpreis des Jahres 2013 an einen Film geht, dem zwar manche Außenseiterchancen auf ein paar OSCAR-Nominierungen und Kritikerpreise einräumen, der aber im Vergleich zu "12 Years a Slave", "Gravity", "American Hustle", "The Wolf of Wall Street" oder "Captain Phillips" doch ein krasser Underdog ist. Hier sind die Sieger der NBR Awards:

Bester Film: "Her"
Regie: Spike Jonze, "Her"
Hauptdarsteller: Bruce Dern, "Nebraska"
Hauptdarstellerin: Emma Thompson, "Saving Mr. Banks"
Nebendarsteller: Will Forte, "Nebraska"
Nebendarstellerin: Octavia Spencer, "Fruitvale Station"
Original-Drehbuch: Joel und Ethan Coen, "Inside Llewyn Davis"
Adaptiertes Drehbuch: Terence Winter, "The Wolf of Wall Street"
Animationsfilm: "The Wind Rises"
Breakthrough Performance: Michael B. Jordan, "Fruitvale Station", und Adéle Exarchopoulos, "Blau ist eine warme Farbe"
Regiedebüt: Ryan Coogler, "Fruitvale Station"
Fremdsprachiger Film: "The Past", Iran
Dokumentation: "Stories We Tell"
Ensemble: "Prisoners"
Freedom of Expression Awards: Das Mädchen Wadjda
Creative Innovation in Filmmaking Award: Gravity

Es ist also relativ offensichtlich, in welche Filme sich die NBR-Mitglieder vor allem verliebt haben: "Her", "Fruitvale Station" und "Nebraska". Das sind allesamt kleinere Produktionen, die außerhalb der großen Hollywood-Studios realisiert wurden und diese frühe positive Awards-Presse sehr gut brauchen können. Gerade "Her", in dem sich Joaquin Phoenix in der nahen Zukunft in eine von Scarlett Johansson gesprochene künstliche Computer-Intelligenz verliebt, dürfte bei der traditionell konservativ geprägten OSCAR-Academy einen eher schweren Stand haben, da kann dieser unerwartete frühe Sieg nur hilfreich sein. Die Darstellerpreise sind bis auf Bruce Dern (der seit der Premiere in Cannes als Mitfavorit gehandelt wird) ebenfalls relativ überraschend, auch wenn allen bereits vorher reelle Chancen auf eine OSCAR-Nominierung eingeräumt wurden. Die einzigen in den Hauptpreisen berücksichtigten Großproduktionen sind Martin Scorseses Börsen-Thriller "The Wolf of Wall Street" und der Disney-Streifen "Saving Mr. Banks" über den Kampf um die Filmrechte an dem Kinderbuch "Mary Poppins". Das dürfte sich in den kommenden Preisverleihungen aber sicher noch ändern.

Ein wesentlicher Punkt bei den NBR Awards ist zudem, daß es neben den eigentlichen Auszeichnungen auch noch eine Top10-Liste der besten Filme des Jahres (nach "Her") gibt, was hinsichtlich der maximal zehn OSCAR-Nominees in der Hauptkategorie "Bester Film" natürlich von besonderem Interesse ist. Die ohne Reihung genannten Filme sind:

"12 Years a Slave"
"Fruitvale Station"
"Inside Llewyn Davis"
"Lone Survivor"
"Nebraska"
"Saving Mr. Banks"
"Das erstaunliche Leben des Walter Mitty"
"The Wolf of Wall Street"

Diese Liste enthält gleich einige Überraschungen: Ben Stillers "Das erstaunliche Leben des Walter Mitty" beispielsweise kam gerade bei den Filmkritikern eigentlich nicht sehr gut an, wurde von vielen als zu zuckrig und oberflächlich abgetan. Das macht eine Nennung bei den NBR Awards sehr erstaunlich. Auch mit "Lone Survivor", einem intensiven, von der Machart her mit Sir Ridley Scotts "Black Hawk Down" verglichenem Afghanistan-Kriegsdrama von Peter Berg, sowie dem düsteren Thriller "Prisoners" mußte man nicht wirklich rechnen. Ob "Fruitvale Station", ein auf wahren Geschehnissen basierendes Independent-Drama über einen jungen Afroamerikaner, der von einem Polizisten mutmaßlich unschuldig erschossen wurde, ernsthaft ins OSCAR-Rennen wird eingreifen können, ist ebenfalls noch fraglich, die NBR Awards samt Nennung in der Top10-Liste könnten da durchaus einen entscheidenden Schub geben. OSCAR-Nominierungen in der Hauptkategorie sicher haben sollten von den in dieser Liste (zuzüglich "Her") Genannten lediglich "12 Years a Slave", "Gravity" und "The Wolf of Wall Street". "Saving Mr. Banks", "Nebraska" und "Inside Llewyn Davis" sollten zumindest ordentliche Chancen haben.
Auffällig ist auf der anderen Seite natürlich auch das komplette Fehlen von Paul Greengrass' brillantem Survival-Thriller "Captain Phillips", David O. Russells 1970er Jahre-Thriller "American Hustle" (Sieger bei den New York Film Critics Circle Awards), Woody Allens "Blue Jasmine" und J.C. Chandors "All is Lost" mit Robert Redford. Das muß noch nicht viel bedeuten (gerade bei "American Hustle", der ja schon einen Preis auf der Habenseite verbuchen kann), ist für diese vier OSCAR-Kandidaten aber durchaus leicht besorgniserregend.

Des weiteren wurden die fünf besten nicht-englischsprachigen Filme des Jahres 2013 genannt (zusätzlich zu "The Past"):
"Jenseits der Hügel", Rumänien
"Gloria", Chile
"The Grandmaster", Hong Kong
"A Hijacking", Dänemark
"Die Jagd", Dänemark

Der deutsche Beitrag "Zwei Leben" geht also auch hier leer aus, dafür sind gleich zwei dänische Filme dabei – von denen aber nur "Die Jagd" bei den OSCARs an den Start gehen darf. Erstaunlich ist dafür das Fehlen des saudischen "Das Mädchen Wadjda", das ja sogar einen der NBR-Awards (wenn auch "nur" einen Spezialpreis) gewann.

Die fünf besten Dokus 2013 (nach "Stories We Tell") laut NBR:
"20 Feet From Stardom"
"The Act of Killing"
"After Tiller"
"Casting By"
"The Square"

Drei OSCAR-Mitfavoriten (plus "Stories We Tell") und zwei Filme ("After Tiller" und "Casting By"), die es bei den Academy Awards nicht einmal unter die Vorauswahl der besten 15 Dokus geschafft haben.

Unter dem Strich läßt sich festhalten, daß nach den ersten beiden größeren Preisverleihungen dieser Awards Season noch alles offen ist. Okay, das war sowieso klar, aber es gibt noch nicht einmal einen echten Favoriten, und das ist dann schon bemerkenswert. Es läßt aber natürlich auch auf sehr spannende und abwechslungsreiche Wochen und Monate bis zur OSCAR-Verleihung Anfang März hoffen.

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