Originaltitel: Un témoin dans la ville, Englischsprachiger Titel:
Witness in the City
Regie: Édouard
Molinaro, Drehbuch: Gérard Oury, Alain Poiré und Édouard Molinaro,
Musik: Barney Wilen
Darsteller: Lino
Ventura, Franco Fabrizi, Sandra Milo, Jacques Berthier, Micheline Luccioni, Robert
Dalban, Daniel Ceccaldi, Françoise
Brion
Als der reiche
Unternehmer Pierre Verdier (Jacques Berthier, "Der Freibeuter")
seine Geliebte Jeanne (Françoise
Brion, "Adieu, Bulle") tötet, indem er sie aus einem
fahrenden Zug stößt, kommt er straffrei davon, da die
Staatsanwaltschaft den Mord nach Ansicht des Richters nicht nachweisen
kann. Seinen juristischen Sieg kann Verdier allerdings nicht lange
genießen, denn Jeannes Ehemann, der LKW-Fahrer Ancelin (Lino
Ventura, "Der Clan der Sizilianer"), sinnt auf Rache.
Tatsächlich gelingt Ancelin der scheinbar perfekte Mord, indem er Verdiers Suizid durch Erhängen vortäuscht.
Dummerweise wird Ancelin beim Verlassen von Verdiers Anwesen jedoch von dem Taxifahrer Lambert (Franco Fabrizi, "Balduin,
der Trockenschwimmer") gesehen, den der Unternehmer kurz zuvor
noch gerufen hatte. Während Lambert sich lediglich über diesen unhöflichen Kerl
ärgert sowie darüber, daß er umsonst mitten in der Nacht zu dieser
Adresse geschickt wurde (denn logischerweise kommt Verdier nicht mehr
heraus), begreift Ancelin nach der ersten Überraschung schnell, daß
der Taxifahrer seinen schönen Plan verderben könnte, sobald er von
Verdiers Tod erfährt. Es bleibt Ancelin wohl nichts anderes übrig: Er
muß auch Lambert noch in dieser Nacht töten! Ancelin folgt dem
Taxifahrer, der sich zunächst mit seiner Freundin, der Telefonistin
Liliane (Sandra Milo, "Der Panther wird gehetzt") trifft,
und wartet auf eine Gelegenheit, um unbemerkt zuzuschlagen. So mitleidlos
Ancelin den Mörder seiner Frau beseitigen konnte, muß er nun jedoch erkennen, daß es gar nicht so einfach ist, einen völlig
Unschuldigen, der nur zur falschen Zeit am falschen Ort war, zu töten
...
Kritik:
Ist vom Film noir
die Rede, wird wohl fast jeder zuerst an US-amerikanische
Filmklassiker der 1940er und frühen 1950er Jahre wie John Hustons
"Die Spur des Falken", Howard Hawks' "Tote schlafen
fest", Fritz Langs "Gefährliche Begegnung", Billy
Wilders "Frau ohne Gewissen" oder Robert Siodmaks "Gewagtes Alibi" denken – und das vollkommen zu Recht.
Allerdings gab es auch außerhalb Hollywoods einige großartige Film
noirs, allen voran in Großbritannien (Orson Welles' "Der dritte
Mann") und Frankreich, wo mit etwas Verzögerung zu den USA ab
Mitte der 1950er Jahre Werke wie Jules Dassins "Rififi",
Henri-George Clouzots "Die Teuflischen", Louis Malles
"Fahrstuhl zum Schafott" und Jean-Pierre Melvilles "Drei
Uhr nachts" entstanden. Etwas weniger bekannt, aber keinesfalls weniger
sehenswert ist Édouard Molinaros "Der Mörder kam um
Mitternacht" mit dem eigentlich immer großartigen Lino Ventura
in der höchst ambivalenten Titelrolle. Molinaro wurde später vor
allem für seine Komödien wie das Louis de Funès-Vehikel "Oscar",
die Horrorkomödie "Die Herren Dracula" mit Christopher
Lee, "Die Filzlaus" mit Lino Ventura und Jacques Brel oder
den Kultfilm "Ein Käfig voller Narren" berühmt, doch zu
Beginn seiner Karriere bewies er mit dem Schwarzweiß-Film "Der
Mörder kam um Mitternacht", daß er auch dramatisch kann und außerdem sowohl den US-amerikanischen Film noir wie auch den deutschen Expressionismus
(der selbst eine Inpirationsquelle des Film noir war) aufmerksam
studiert hat. Denn aus der simplen Prämisse macht Molinaro ein
bedächtig beginnendes, sich dann im Tempo wie auch in Spannung
und Dramatik immer weiter steigerndes kleines Juwel.
"Der
Mörder kam um Mitternacht" basiert auf einem Roman von Pierre
Boileau und Thomas Narcejac, deren Werk auch die Vorlagen zu "Die
Teuflischen" und Hitchcocks "Vertigo" lieferte. Nach
den Knalleffekten zu Beginn – dem Mord an Jeanne im Prolog und
Ancelins Rachemord nur wenig später – nimmt sich Molinaro Zeit, um Ancelins (zunächst unbewußte) Gegenspieler einzuführen.
Denn während Anceline Lambert folgt, erfahren wir einiges über
dessen Leben und seine Romanze mit der selbstbewußten Liliane,
wodurch das Duo Sympathien beim Publikum erringt. Damit
positionieren sie sich klar gegenüber Ancelin, der zwar die
Hauptfigur des Films ist, als Mörder aber selbstredend kaum zum
Sympathieträger taugt. Natürlich können wir die Beweggründe für
seine eiskalte Rache nachvollziehen und sind deshalb bereit, ihn
nicht gleich als Bösewicht abzustempeln, doch mit jeder Sekunde länger, die
er darüber nachdenkt, den armen, nichtsahnenden Lambert um die Ecke
zu bringen, entfernen wir uns emotional von ihm. Glücklicherweise
wird Ancelin aber von Lino Ventura gespielt, diesem Klotz von einem
Mann, der es verstand wie kaum ein zweiter, alle seine Rollen
– ob heldenhaft, feige oder mörderisch – so charismatisch und
ambivalent zu verkörpern, daß man als Zuschauer doch immer
irgendwie mit ihnen mitfiebert. Das ist auch hier der Fall, wobei das Drehbuch
Ventura erfreulicherweise reichlich Gelegenheit gibt, den emotionalen
Zwiespalt Ancelins auszuspielen. Unsicher, ob er
wirklich den unschuldigen Lambert seiner eigenen Freiheit opfern
soll, läßt er sogar günstige Gelegenheiten verstreichen und wenn er
später in Lamberts Taxi einsteigt, fängt Henri Decaës ("Der eiskalte Engel")
Kamera gnadenlos die (Angst-)Schweißtropfen auf seinem Gesicht ein,
während Lambert sich darüber beschwert, wie kalt es in dieser
Nacht sei. Mit solchen Details gelingt es "Der Mörder kam um
Mitternacht" vortrefflich, Ancelins inneren Kampf zu bebildern,
obwohl wir eigentlich kaum etwas über diesen Mann und sein
bisheriges Leben erfahren.
Franco Fabrizi ist
kein so grandioser Schauspieler wie Lino Ventura, aber er gibt als
lockerer, freundlicher und unsterblich verliebter Taxifahrer ein
gutes Gegenstück zu Venturas Ancelin ab, auch Sandra Milo macht als
kluge Liliane eine gute Figur. Dennoch ist die erste Filmhälfte, in
der Ancelin Lambert und Liliane folgt, vielleicht einen Tick zu
bedächtig inszeniert – das macht die immer rasantere, wenn auch
zugegebenermaßen nicht immer komplett glaubwürdige zweite Hälfte
allerdings mehr als wett. Hier zieht Molinaro alle Register, indem er
Ancelin immer tiefer in die Bredouille bringt und zum Gehetzten
macht. Großartig ist vor allem die bereits erwähnte Sequenz
mit Ancelin und Lambert in dessen Taxi, in der Molinaro und sein
Kameramann die eleganten Schwarzweißbilder zu beeindruckenden und
markanten Licht- und Schattenspielen nutzen, wie die deutschen
Stummfilm-Expressionisten á la F.W. Murnau oder Fritz Lang sie nicht
viel besser beherrschten. Und apropos: Wenn gegen Ende sich alle
Taxifahrer der Stadt auf die Jagd nach Ancelin machen, erinnert das
mehr als nur ein wenig an Langs unsterbliches Meisterwerk "M
– Eine Stadt sucht einen Mörder", ohne eine billige Kopie zu
sein. "Der Mörder kam um Mitternacht" ist ein Film, der
etwas Zeit braucht, um richtig in Schwung zu kommen, dann aber
bis zum gelungenen Showdown bei einer Raubvogel-Voliere auf fast der
ganzen Linie überzeugt. Eine absolute Empfehlung!
Fazit:
"Der Mörder kam um Mitternacht" ist ein gut aufgebautes
Krimidrama mit starken Film noir-Elementen, das von der Leistung
seines Hauptdarstellers Lino Ventura ebenso profitiert wie von der
stilsicheren und einfallsreichen Inszenierung.
Wertung:
8,5 Punkte.
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