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In eigener Sache: Mein neues Filmbuch

Einigen Lesern ist bestimmt aufgefallen, daß ich in der rechten Spalte meines Blogs seit längerer Zeit das Cover meines neuen Buchs präsen...

Dienstag, 12. April 2022

Klassiker-Rezension: DER MÖRDER KAM UM MITTERNACHT (1959)

Originaltitel: Un témoin dans la ville, Englischsprachiger Titel: Witness in the City
Regie: Édouard Molinaro, Drehbuch: Gérard Oury, Alain Poiré und Édouard Molinaro, Musik: Barney Wilen
Darsteller: Lino Ventura, Franco Fabrizi, Sandra Milo, Jacques Berthier, Micheline Luccioni, Robert Dalban, Daniel Ceccaldi, Françoise Brion
Der Mörder kam um Mitternacht (1959) on IMDb Rotten Tomatoes: -, FSK: 16, Dauer: 86 Minuten.
Als der reiche Unternehmer Pierre Verdier (Jacques Berthier, "Der Freibeuter") seine Geliebte Jeanne (Françoise Brion, "Adieu, Bulle") tötet, indem er sie aus einem fahrenden Zug stößt, kommt er straffrei davon, da die Staatsanwaltschaft den Mord nach Ansicht des Richters nicht nachweisen kann. Seinen juristischen Sieg kann Verdier allerdings nicht lange genießen, denn Jeannes Ehemann, der LKW-Fahrer Ancelin (Lino Ventura, "Der Clan der Sizilianer"), sinnt auf Rache. Tatsächlich gelingt Ancelin der scheinbar perfekte Mord, indem er Verdiers Suizid durch Erhängen vortäuscht. Dummerweise wird Ancelin beim Verlassen von Verdiers Anwesen jedoch von dem Taxifahrer Lambert (Franco Fabrizi, "Balduin, der Trockenschwimmer") gesehen, den der Unternehmer kurz zuvor noch gerufen hatte. Während Lambert sich lediglich über diesen unhöflichen Kerl ärgert sowie darüber, daß er umsonst mitten in der Nacht zu dieser Adresse geschickt wurde (denn logischerweise kommt Verdier nicht mehr heraus), begreift Ancelin nach der ersten Überraschung schnell, daß der Taxifahrer seinen schönen Plan verderben könnte, sobald er von Verdiers Tod erfährt. Es bleibt Ancelin wohl nichts anderes übrig: Er muß auch Lambert noch in dieser Nacht töten! Ancelin folgt dem Taxifahrer, der sich zunächst mit seiner Freundin, der Telefonistin Liliane (Sandra Milo, "Der Panther wird gehetzt") trifft, und wartet auf eine Gelegenheit, um unbemerkt zuzuschlagen. So mitleidlos Ancelin den Mörder seiner Frau beseitigen konnte, muß er nun jedoch erkennen, daß es gar nicht so einfach ist, einen völlig Unschuldigen, der nur zur falschen Zeit am falschen Ort war, zu töten ...

Kritik:
Ist vom Film noir die Rede, wird wohl fast jeder zuerst an US-amerikanische Filmklassiker der 1940er und frühen 1950er Jahre wie John Hustons "Die Spur des Falken", Howard Hawks' "Tote schlafen fest", Fritz Langs "Gefährliche Begegnung", Billy Wilders "Frau ohne Gewissen" oder Robert Siodmaks "Gewagtes Alibi" denken – und das vollkommen zu Recht. Allerdings gab es auch außerhalb Hollywoods einige großartige Film noirs, allen voran in Großbritannien (Orson Welles' "Der dritte Mann") und Frankreich, wo mit etwas Verzögerung zu den USA ab Mitte der 1950er Jahre Werke wie Jules Dassins "Rififi", Henri-George Clouzots "Die Teuflischen", Louis Malles "Fahrstuhl zum Schafott" und Jean-Pierre Melvilles "Drei Uhr nachts" entstanden. Etwas weniger bekannt, aber keinesfalls weniger sehenswert ist Édouard Molinaros "Der Mörder kam um Mitternacht" mit dem eigentlich immer großartigen Lino Ventura in der höchst ambivalenten Titelrolle. Molinaro wurde später vor allem für seine Komödien wie das Louis de Funès-Vehikel "Oscar", die Horrorkomödie "Die Herren Dracula" mit Christopher Lee, "Die Filzlaus" mit Lino Ventura und Jacques Brel oder den Kultfilm "Ein Käfig voller Narren" berühmt, doch zu Beginn seiner Karriere bewies er mit dem Schwarzweiß-Film "Der Mörder kam um Mitternacht", daß er auch dramatisch kann und außerdem sowohl den US-amerikanischen Film noir wie auch den deutschen Expressionismus (der selbst eine Inpirationsquelle des Film noir war) aufmerksam studiert hat. Denn aus der simplen Prämisse macht Molinaro ein bedächtig beginnendes, sich dann im Tempo wie auch in Spannung und Dramatik immer weiter steigerndes kleines Juwel.

"Der Mörder kam um Mitternacht" basiert auf einem Roman von Pierre Boileau und Thomas Narcejac, deren Werk auch die Vorlagen zu "Die Teuflischen" und Hitchcocks "Vertigo" lieferte. Nach den Knalleffekten zu Beginn – dem Mord an Jeanne im Prolog und Ancelins Rachemord nur wenig später – nimmt sich Molinaro Zeit, um Ancelins (zunächst unbewußte) Gegenspieler einzuführen. Denn während Anceline Lambert folgt, erfahren wir einiges über dessen Leben und seine Romanze mit der selbstbewußten Liliane, wodurch das Duo Sympathien beim Publikum erringt. Damit positionieren sie sich klar gegenüber Ancelin, der zwar die Hauptfigur des Films ist, als Mörder aber selbstredend kaum zum Sympathieträger taugt. Natürlich können wir die Beweggründe für seine eiskalte Rache nachvollziehen und sind deshalb bereit, ihn nicht gleich als Bösewicht abzustempeln, doch mit jeder Sekunde länger, die er darüber nachdenkt, den armen, nichtsahnenden Lambert um die Ecke zu bringen, entfernen wir uns emotional von ihm. Glücklicherweise wird Ancelin aber von Lino Ventura gespielt, diesem Klotz von einem Mann, der es verstand wie kaum ein zweiter, alle seine Rollen – ob heldenhaft, feige oder mörderisch – so charismatisch und ambivalent zu verkörpern, daß man als Zuschauer doch immer irgendwie mit ihnen mitfiebert. Das ist auch hier der Fall, wobei das Drehbuch Ventura erfreulicherweise reichlich Gelegenheit gibt, den emotionalen Zwiespalt Ancelins auszuspielen. Unsicher, ob er wirklich den unschuldigen Lambert seiner eigenen Freiheit opfern soll, läßt er sogar günstige Gelegenheiten verstreichen und wenn er später in Lamberts Taxi einsteigt, fängt Henri Decaës ("Der eiskalte Engel") Kamera gnadenlos die (Angst-)Schweißtropfen auf seinem Gesicht ein, während Lambert sich darüber beschwert, wie kalt es in dieser Nacht sei. Mit solchen Details gelingt es "Der Mörder kam um Mitternacht" vortrefflich, Ancelins inneren Kampf zu bebildern, obwohl wir eigentlich kaum etwas über diesen Mann und sein bisheriges Leben erfahren.

Franco Fabrizi ist kein so grandioser Schauspieler wie Lino Ventura, aber er gibt als lockerer, freundlicher und unsterblich verliebter Taxifahrer ein gutes Gegenstück zu Venturas Ancelin ab, auch Sandra Milo macht als kluge Liliane eine gute Figur. Dennoch ist die erste Filmhälfte, in der Ancelin Lambert und Liliane folgt, vielleicht einen Tick zu bedächtig inszeniert – das macht die immer rasantere, wenn auch zugegebenermaßen nicht immer komplett glaubwürdige zweite Hälfte allerdings mehr als wett. Hier zieht Molinaro alle Register, indem er Ancelin immer tiefer in die Bredouille bringt und zum Gehetzten macht. Großartig ist vor allem die bereits erwähnte Sequenz mit Ancelin und Lambert in dessen Taxi, in der Molinaro und sein Kameramann die eleganten Schwarzweißbilder zu beeindruckenden und markanten Licht- und Schattenspielen nutzen, wie die deutschen Stummfilm-Expressionisten á la F.W. Murnau oder Fritz Lang sie nicht viel besser beherrschten. Und apropos: Wenn gegen Ende sich alle Taxifahrer der Stadt auf die Jagd nach Ancelin machen, erinnert das mehr als nur ein wenig an Langs unsterbliches Meisterwerk "M – Eine Stadt sucht einen Mörder", ohne eine billige Kopie zu sein. "Der Mörder kam um Mitternacht" ist ein Film, der etwas Zeit braucht, um richtig in Schwung zu kommen, dann aber bis zum gelungenen Showdown bei einer Raubvogel-Voliere auf fast der ganzen Linie überzeugt. Eine absolute Empfehlung!

Fazit: "Der Mörder kam um Mitternacht" ist ein gut aufgebautes Krimidrama mit starken Film noir-Elementen, das von der Leistung seines Hauptdarstellers Lino Ventura ebenso profitiert wie von der stilsicheren und einfallsreichen Inszenierung.

Wertung: 8,5 Punkte.
 
 

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