Regie und Drehbuch: Maren Ade
Darsteller: Peter Simonischek, Sandra Hüller, Trystan
Pütter, Michael Wittenborn, Thomas Loibl, Ingrid Bisu, Victoria Malektorovych, Lucy Russell, Alexandru Papadopol, Radu Banzaru, Hadewych
Minis, Vlad
Ivanov
FSK: 12, Dauer: 162 Minuten.
Winfried Conradi (Peter Simonischek, "Rubinrot")
ist ein pensionierter Lehrer, dessen einziger wirklich zuverlässiger Gefährte
sein geliebter, aber bereits sehr altersschwacher Hund Willi ist. Von seiner
Frau ist er geschieden, die Tochter Ines (Sandra Hüller, "Requiem"), eine
ehrgeizige Unternehmensberaterin, arbeitet in Bukarest und hat mit Winfried
bei ihren seltenen Besuchen wenig Gesprächstoff. Als Willi stirbt, macht sich
Winfried zu einem unangekündigten Besuch bei Ines auf – wenig
überraschend ist die nicht gerade begeistert, zumal der joviale, stets zu
albernen Scherzen aufgelegte Winfried gleich (versehentlich) einige Leute
verprellt, die wichtig für Ines' Karriere sind. Nachdem Vater und Tochter
dennoch in eher frostiger Atmosphäre etwas Zeit miteinander verbracht haben,
bricht Winfried zu Ines' Erleichterung auch schon wieder auf. Doch noch am
gleichen Abend taucht er in der Bar auf, in der Ines mit zwei Freundinnen etwas
trinkt – verkleidet mit einer üppigen Perücke und falschem Gebiß stellt er sich
den Damen als Lifecoach Toni Erdmann vor! Ines ist perplex, doch
"Toni" zieht die Sache knallhart durch …
Kritik:
Ein deutscher Film im
Wettbewerb von Cannes? Ungewöhnlich genug. Ein deutscher Film im Wettbewerb von
Cannes, der nicht von Michael Haneke, Wim Wenders oder Werner Herzog stammt?
Fast schon sensationell. Eine deutsche Komödie im Wettbewerb von Cannes, die den
Allzeit-Bewertungsrekord bei der Kritikerumfrage in dem
renommierten Branchenmagazin "Screen Daily" bricht? Unfaßbar! Doch
genau das ist Maren Erdmann (die 2009 mit dem Drama "Alle anderen"
bei der Berlinale überzeugte) mit ihrer gut zweieinhalbstündigen
Vater-Tochter-Tragikomödie gelungen. Preise der Jury gab es dafür zur
allgemeinen Überraschung trotzdem nicht, immerhin (und angesichts des erwähnten
Rekords nur folgerichtig) aber den Kritikerpreis zum Trost – und natürlich globale Aufmerksamkeit dank ausführlicher Berichterstattung in den
Fachmedien. Vor allem im Ausland ist ehrliche Verwunderung zu spüren,
daß ausgerechnet aus Deutschland – international vor allem für ernsthafte
historische Filme bekannt, die gerne den Zweiten Weltkrieg zum Thema haben –
eine richtig gute (Tragi-)Komödie kommt, deren Qualität nicht einmal die
deutliche Überlänge schadet. Doch um ehrlich zu sein: Bei deutschen Kinogängern
dürfte die Verwunderung fast noch größer sein, denn im Gegensatz zum Ausland
wissen sie natürlich genau, was unter dem Stichwort "deutsche Komödie"
im 21. Jahrhundert normalerweise zu erwarten ist: Schweiger, Schweighöfer und
"Fack ju Göhte" nämlich. Ob man diese übliche deutsche Komödienkunst
nun mag oder nicht, ein Film wie "Toni Erdmann", der zwar vorrangig
das Arthouse-Publikum anspricht, aber auch in den Multiplex-Kinos
ordentlich funktioniert, ist definitiv eine sehr erfrischende Abwechslung in
der deutschen Filmlandschaft.
Zugegeben, für das "normale" Komödien-Publikum
dürfte "Toni Erdmann" gewöhnungsbedürftig sein, da Regisseurin Maren
Ade beinahe schon eine Antithese dazu geschaffen hat: Statt auf Witze und
Slapstick-Einlagen am laufenden Band setzt sie auf ein ausgesprochen
gemütliches Erzähltempo mit immer wieder sehr, sehr langen Einstellungen, in denen
eigentlich gar nichts passiert. Der Knackpunkt ist dabei das
"eigentlich", denn einerseits entwickeln etliche Szenen gerade erst durch
das genüßliche Ausspielen ihren ganz eigenen Reiz, andererseits bekommt man so
überhaupt erst die Gelegenheit, die Detailverliebtheit des Films wahrzunehmen. Am
offensichtlichsten sind dabei die Machenschaften von Toni, der gerne mal im
Hintergrund seine Mätzchen macht, während sich die Kamera im Vordergrund auf
die leidgeprüfte Ines fokussiert; aber wer ein Auge dafür hat, der kann sich
auch an der ebenso liebevollen wie authentischen, genau beobachteten
Ausstattung der einzelnen Schauplätze ergötzen – ob das Ines' moderne und
stilvolle, aber gleichzeitig steril wirkende Wohnung ist, im Kontrast dazu das
vollgestopfte, nicht nur farblich Wärme verströmende Heim einer rumänischen
Familie oder Ines' nüchtern-zweckdienliche Arbeitsumgebung. Zugegeben, das ist
nicht ganz frei von Klischees, ebenso wie die präsentierte Oberflächlichkeit
der mit Floskeln und falscher Anteilnahme durchtränkten
Unternehmensberater-Szene. Jedoch habe ich mir von verschiedener
Seite versichern lassen, daß es in der Realität oft haargenau so klischeehaft
vorgeht (und da während meines Studiums Unternehmensführung eines meiner
Hauptfächer war, das als Sprungbrett für viele spätere Unternehmensberater dient, kann ich mir das
lebhaft vorstellen). Da Ade es nicht wirklich auf eine Abrechnung mit
dieser kontroversen Branche abgesehen hat – immerhin darf Ines auch ihren
Standpunkt mit guten Argumenten vertreten –, sind diese Klischees aber sowieso halb so wild,
zumal die Dialoge hervorragend geschrieben sind.
Wichtiger sind sowieso die beiden Protagonisten, denn letztlich
handelt es sich natürlich um eine klassische Vater-Tochter-Geschichte. Ines'
Arbeit dient nur als umhüllendes Storygerüst, da die zentrale Handlung über das
entfremdete Duo und die von "Toni" ausgehenden Versuche, sich wieder
näherzukommen, doch recht dünn ist – was einem gerade angesichts der gut
zweieinhalbstündigen Laufzeit hin und wieder durchaus auffällt. Trotz der für
sich genommen meist eher albernen Eskapaden Tonis, die aber zu etlichen wirklich
witzigen und meisterhaft getimten Situationen (der US-Kritiker Eric Kohn schwärmte gar von
der "lustigsten Nacktszene der Filmgeschichte" – und das ist nicht
unbedingt übertrieben …) führen, ist "Toni Erdmann" jedoch eben keine echte
Komödie, sondern eine Tragikomödie. Und so paßt es wunderbar, daß in vielen
Momenten eine bemerkenswert unangenehme Atmosphäre hart an der Grenze zum
Fremdschämen herrscht, weil kaum eine der handelnden Figuren aufrichtig ist,
sondern nur Phrasen gedroschen werden und um die harte Wahrheit herumgeredet
wird. Erst Winfried bzw. Toni bricht diesen Kreislauf der Heuchelei durch seine
hartnäckige Unangepaßtheit zumindest ein wenig auf – irgendwann auch
unterstützt durch Ines, die die Scharade ihres Vaters, wenn sie sie schon nicht verhindern kann, wenigstens clever für ihre eigenen beruflichen
Zwecke nutzt. Was dann wiederum zu einer äußerst unangenehmen Szene führt, wenn
Toni mit einer flapsigen Bemerkung zu seinem eigenen Entsetzen den Rauswurf
eines rumänischen Arbeiters an einem Ölbohrloch verursacht …
Obwohl die erfundene Hauptfigur Toni für die meisten Lacher
sorgt (oder zumindest den Anstoß dafür gibt), steht jedoch zunehmend Ines im
Fokus der Regisseurin und Autorin Ade. Während sich Winfried/Toni nicht
großartig verändert (wie wir zu Beginn erleben, nervt er seine Umwelt auch in der
Heimat zuverlässig mit seinen Späßchen), durchläuft Ines eine deutliche und
sehr glaubwürdige Entwicklung. Dadurch, daß sie sich zunehmend, wenn auch
widerwillig, auf Toni einläßt, öffnet sie sich etwas, was auch zu einer Art
Selbsterkenntnis führt, ihr berufliches wie auch ihr Privatleben
betreffend. Und wo die österreichische Theaterlegende Peter Simonischek in
der Titelrolle zwar eine sehr gute Figur abgibt, ist es Sandra Hüller, die als
Ines eine wahrlich atemberaubende Performance liefert. Voller
Einfühlungsvermögen verkörpert sie diese eher herb wirkende, voll auf ihre
Karriere konzentrierte Person, die beim kurzen Heimatbesuch schnell unruhig
wird und in ihrem Arbeitsumfeld in einen permanenten unterschwelligen
Machtkampf verwickelt ist, bei dem jede unscharfe Formulierung, jede
etwas unsouveräne Reaktion einen erheblichen Rückschlag bedeuten kann – noch
verschärft durch die Tatsache, daß sie als Frau sich in einer noch immer von Männern dominierten Branchen behaupten muß, in der Frauen primär als
"Trophy Wives", Assistentinnen oder Stripperinnen vorkommen … Und
gerade weil man Ines die ganze Zeit über dermaßen beherrscht erlebt, beeindruckt es
umso mehr, wenn die Enddreißigerin mit einem Mal die Emotionen aus ihr
herausbrechen läßt. Kein Zweifel: Das ist eine preiswürdige Leistung, die die ehemalige Berlinale-Gewinnerin (für "Requiem") Sandra Hüller hier
zeigt. Und preiswürdig ist der gesamte, vollkommen zurecht als deutscher OSCAR-Beitrag 2016 ausgewählte Film, auch wenn er nicht immer ganz
einfach anzuschauen ist und mit einer gewissen Straffung um 20 oder
30 Minuten vielleicht sogar noch besser funktionieren würde.
Fazit: "Toni Erdmann" ist eine genau
beobachtete Tragikomödie über ein entfremdetes Vater-Tochter-Gespann mit
grundsätzlich unterschiedlichen Lebensphilosophien, die vor allem mit einer Reihe
extrem witziger Szenenabfolgen und einer meisterlich aufspielenden Sandra Hüller
begeistert.
Wertung: 8,5 Punkte.
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