Eigentlich beginnt die Awards Season ja erst Ende November
mit den ersten Kritikerpreisen – aber als inoffiziellen Start kann man getrost
die großen Herbstfestivals betrachten, auf denen viele der aussichtsreichsten
OSCAR-Kandidaten erstmals Kritikern und Publikum präsentiert werden. Vorgestern
machte das Festival in Venedig den Anfang, es folgen u.a. Telluride, Toronto,
San Sebastián, New York, London und Rom. Aus diesem Anlaß haben die "Gurus
O´ Gold" – aktuell 15 renommierte Kritiker und Blogger – eine erste Favoritenliste erstellt, für die jeder Teilnehmer 15 Filme nennen durfte (ohne
Reihung). Das Resultat dient mir als Grundlage für eine kurze Übersicht der
nach heutigem Stand wohl aussichtsreichsten OSCAR-Kandidaten (teilweise habe ich die
Texte aus meiner Herbst-Vorschau übernommen). Natürlich kann sich daran viel
ändern, da die meisten der genannten Filme noch niemand gesehen hat, aber es
ist doch schön zu sehen, worauf man sich als Freund anspruchsvoller Kinokunst
in den nächsten Monaten hoffentlich freuen darf (in Klammern gebe ich jeweils den deutschen Kinostarttermin an, soweit bereits bekannt):
"American Bullshit" (13. Februar 2014):
Nachdem Regisseur David O. Russell mit
seinen letzten beiden Filmen "Silver Linings" und "The Fighter" bei insgesamt 15 Nominierungen drei OSCARs holen konnte, zählt
auch sein neues Werk naturgemäß zu den Mitfavoriten. Dies gilt erst recht, da die Story des Films
über einen Trickbetrüger, der in den 1980er Jahren mit dem FBI
zusammenarbeitet, um ein riesiges Korruptionsnetzwerk aufzudecken, genau nach
dem klingt, was die Academy-Mitglieder gerne sehen und prämieren. Und die
Besetzung mit Christian Bale, Bradley Cooper, Amy Adams, Jennifer Lawrence,
Jeremy Renner und Robert De Niro läßt ebenfalls Großes erhoffen.
"Captain Phillips" (14. November 2013):
Tom Hanks ("Cloud
Atlas") nimmt Kurs auf seine sechste OSCAR-Nominierung in der Rolle
des titelgebenden Frachterkapitäns, der 2009 mit seinem Schiff von somalischen
Piraten als Geisel genommen wurde. Auch Regisseur Paul Greengrass ("Die
Bourne Verschwörung") hat dank "Flug 93" bereits
OSCAR-Erfahrung.
"12 Years a Slave" (16. Januar 2014):
"Shame"-Regisseur
Steve McQueen hat mit großer Starbesetzung die Autobiographie des
Afroamerikaners Solomon Northup verfilmt, der im 19. Jahrhundert als freier
Mann geboren, aber als Erwachsener in Washington entführt und in die Sklaverei
nach Louisana verkauft wurde. Erst nach zwölf Jahren gelang es ihm, seine
Verwandten über sein Schicksal zu informieren, die daraufhin auf rechtlichem
Wege um seine Befreiung kämpften. Chiwetel Ejiofor ("Children of
Men") verkörpert Solomon, in weiteren Rollen sind Michael Fassbender, Brad
Pitt, Paul Giamatti, Benedict Cumberbatch und Paul Dano zu sehen. Bisher wurden
McQueens nicht gerade massentaugliche Filme von der Academy ignoriert, aber mit
diesem Stoff dürfte sie nicht mehr an dem Briten vorbeikommen.
"Gravity (3D)" (3. Oktober 2013):
Der mexikanische Regisseur Alfonso Cuarón steht spätestens
seit seinem packenden, dreifach OSCAR-nominierten Endzeit-Thriller
"Children of Men" für hohe Qualität. Mit "Gravity" hat er
sich an ein ungewöhnliches Zweipersonenstück über zwei Astronauten, die nach einem Unfall mit
Weltraumschrott um ihr Leben kämpfen, gewagt – und damit als Eröffnungsfilm in
Venedig die Kritiker restlos begeistert, die schon Vergleiche mit Stanley
Kubrick ziehen. Vorher galt der Film hinsichtlich der Awards Season als
hoffnungsvoll, nun ist er zu einem der Topfavoriten aufgestiegen, vor allem in
den technischen Kategorien (Schnitt, Kamera, Spezialeffekte). Und die beiden
einzigen Darsteller George Clooney und Sandra Bullock haben ebenfalls sehr gute
Chancen auf OSCAR-Nominierungen, Bullock wohl noch etwas bessere als Clooney.
"Osage
County im August" (6. März 2014):
In diesem schwarzhumorigen, auf einem gefeierten
Theaterstück von Tracy Letts beruhenden Familiendrama von "Emergency
Room"-Schöpfer John Wells verkörpern Meryl Streep und Sam Shepard die Eltern von Julia Roberts und Juliette Lewis, weitere Schauspiel-Schwergewichte wie Benedict Cumberbatch, Chris Cooper
und Ewan McGregor sind mit von der Partie und potentielle Anwärter auf eine
OSCAR-Nominierung.
"Der Butler" (10. Oktober 2013):
In dem Film
von Lee Daniels ("Precious") verkörpert Forest Whitaker ("Der
letzte König von Schottland") den Butler Cecil Gaines (in Wirklichkeit:
Eugene Allen), der im Weißen Haus sage und schreibe acht US-Präsidenten von
Truman bis Reagan diente. Würde ich sämtliche namhaften Schauspieler, die zusätzlich
am Film mitwirken, aufzählen, wäre das eine sehr lange Liste, aber zu den
bekanntesten zählen Jane Fonda (die einstige Vorzeige-Liberale spielt
ausgerechnet Nancy Reagan), Robin Williams (Eisenhower), John Cusack (Nixon),
Alan Rickman (Reagan), Liev Schreiber (Johnson), Vanessa Redgrave und Oprah
Winfrey. Letztere wird ebenso wie Whitaker als fast sichere OSCAR-Nominee
angesehen, generell wird "The Butler" eine ähnliche Rolle in der
Awards Season wie vor zwei Jahren "The Help" (vier OSCAR-Nominierungen, ein Sieg) zugetraut.
"The
Wolf of Wall Street" (16. Januar 2014):
In Martin Scorseses ("Hugo
Cabret") Wirtschaftsthriller spielt Leonardo DiCaprio ("Zeiten
des Aufruhrs") Jordan Belfort, der zu Beginn der 1990er Jahre wie aus
dem Nichts zu einem der erfolgreichsten Broker der Welt aufstieg, nur um einige
Jahre später gaaaaanz tief zu fallen – bis ins Gefängnis, um genau zu sein.
Klingt nach einem guten Komplementär zu Oliver Stones Klassiker "Wall
Street". Neben DiCaprio – dem dieser Film endlich seine überfällige erste
OSCAR-Nominierung einbringen sollte – sind in wichtigen Rollen Matthew
McConaughey, Jean Dujardin, Jonah Hill und Kyle Chandler zu sehen. Sollte Scorsese nicht negativ überraschen,
dürfte es kaum zu verhindern sein, daß "The Wolf of Wall Street" eine
gute Rolle im OSCAR-Rennen spielen wird.
"Inside Llewyn Davis" (5. Dezember 2013):
In Cannes gewann die Folkballade der Gebrüder Coen ("No Country for Old Men") mit Oscar Isaac, Carey Mulligan, John Goodman und
Justin Timberlake bereits den Großen Preis der Jury, OSCAR-Erfahrung haben die
Coens natürlich auch zu Genüge. Die Frage ist, ob "Inside Llewyn
Davis" nicht etwas zu intim und unspektakulär für eine richtig große Rolle in
der Awards Season ist. Zumindest eine Drehbuch-Nominierung sollte aber
eigentlich sicher sein.
"Monuments Men" (23. Januar 2014):
Wenn George Clooney einen gegen Ende des Zweiten Weltkrieges
spielenden Film über die Suche nach von den Nazis geraubten und von der
Zerstörung bedrohten Kunstwerken dreht, in dem er selbst, Cate Blanchett, Bill
Murray, Matt Damon, Jean Dujardin und John Goodman mitspielen, dann schreit das
geradezu nach vielen Auszeichnungen. Allerdings mehren sich in Hollywood die
Stimmen, die vermuten, daß "Monuments Men" zwar großes kommerzielles
Potential besitze, künstlerisch aber zu wenig anspruchsvoll sein könnte, um
im OSCAR-Rennen große Aussichten zu besitzen. Die Zeit wird es zeigen ...
"Saving
Mr. Banks" (6. März 2014):
Wenn Hollywood Filme über Hollywood dreht, dann lieben das
Kritiker und Jurys oft mehr als das zahlende Publikum. Bei "Saving Mr.
Banks" könnte das allerdings etwas anders aussehen, denn die Geschichte
darüber, wie Walt Disney (Tom Hanks) höchstpersönlich versucht, der
Kinderbuchautorin P.L. Travers (Emma Thompson) die Rechte für ihren Hit
"Mary Poppins" abzuschwatzen, macht bisher eher den Eindruck eines
humorvollen Feelgood-Movies. Das könnte für ein paar Nominierungen reichen (vor
allem Thompson dürfte gute Chancen besitzen), aber auch für mehr? Andererseits
hat Regisseur John Lee Hancock mit "Blind Side" bewiesen, daß
er durchaus auch etwas leichtere Stoffe mitten hinein ins OSCAR-Rennen führen kann
...
"Labor Day" (24. April 2014):
Regisseur und Autor Jason Reitman hat bereits mit "Juno"
und "Up in the Air" seine Awards-Tauglichkeit eindrucksvoll unter
Beweis gestellt, die dramatische Romanadaption über eine alleinerziehende
Mutter (Kate Winslet), die wider besseres Wissen einem verwundeten, von der
Polizei gesuchten Mann (Josh Brolin) hilft, bringt eigentlich alles mit, um
erneut eine Rolle im Wettbewerb um die begehrteste Filmtrophäe der Welt zu
spielen.
"Fruitvale Station":
Ryan Cooglers auf realen Ereignissen basierendes Drama über
den letzten Tag im Leben eines jungen Schwarzen (Michael B. Jordan), der in der Neujahrsnacht 2009
unschuldig von der Polizei erschossen wurde, wurde auf Festivals gefeiert und
kam durch die Parallelen zum "Fall Trayvon Martin" zusätzlich zu
medialer Aufmerksamkeit. Es ist durchaus möglich, daß die
Independent-Produktion eine Rolle im OSCAR-Rennen spielen wird – ähnlich wie
letztes Jahr "Beasts of the Southern Wild" –, zumal die
Rassismus-Thematik bei der Academy schon oft gut ankam ("L.A. Crash",
"Blind Side"). Bei solch "kleinen" Filmen hängt das aber
immer auch etwas vom Glück ab und schlicht davon, wieviele
Academy-Mitglieder ihn überhaupt zu sehen bekommen.
"Nebraska" (16. Januar 2014):
Das Roadmovie von Alexander Payne ("The Descendants") über einen alkoholabhängigen älteren Mann (Bruce Dern), der
auf einer Reise durch die Staaten mit seinem Sohn versucht, diesem wieder
näherzukommen, brachte Dern in Cannes bereits den Darstellerpreis ein. Ein paar
OSCAR-Nominierungen sollten machbar sein (vor allem für das Drehbuch), sehr
viel mehr erwarte ich allerdings nicht.
"Das erstaunliche Leben des Walter Mitty" (2. Januar 2014):
Einer der im Vorfeld am wenigsten erwarteten Titel in dieser
Auflistung. Denn als Komiker Ben Stiller bekanntgab, ein Remake dieses
Klassikers aus dem Jahr 1947 mit Danny Kaye zu drehen, befürchteten die meisten eine weitere harmlose Familienkomödie á la "Nachts im Museum". Seit der
erste Trailer veröffentlicht wurde, ist allerdings klar, daß Stiller wesentlich
größere Ambitionen verfolgt: Er scheint die Geschichte eines kleinen
Angestellten (Stiller), der sich in abenteuerlastige Fantasiewelten
hineinträumt, um dem grauen Alltag zu entfliehen, als formal anspruchsvolles,
magisches Märchen für Erwachsene anzulegen. Und ist damit prompt auf den
Notizzetteln vieler OSCAR-Experten gelandet. Bleibt nur zu hoffen, daß der
(wirklich beeindruckende) Trailer nicht mehr verspricht, als Stiller halten
kann.
"Blue Jasmine" (7. November 2013):
Woody Allens neue Tragikomödie hat sich in den USA bereits
als sehr positiv rezensierter Arthousehit erwiesen, Hauptdarstellerin Cate
Blanchett und Nebendarstellerin Sally Hawkins gelten als sichere Kandidatinnen
für eine OSCAR-Nominierung. Allens Drehbücher sind sowieso immer aussichtsreich
im Wettbewerb, aber viel mehr dürfte für "Blue Jasmine" nicht drin
sein.
Das sind nun also 15 der nach momentanem Stand wohl aussichtsreichsten
Kandidaten für die Awards Season 2013/2014. Ich werde die Liste in den kommenden
Wochen aktualisieren und noch deutlich erweitern und dabei vor allem auch auf
die Erkenntnisse aus den erwähnten Herbstfestivals eingehen.
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