Regie und Drehbuch: Daniel Kwan und Daniel Scheinert, Musik: Son Lux
Darsteller: Michelle
Yeoh, Ke Huy Quan, Stephanie Hsu, James Hong, Jamie Lee Curtis,
Tallie Medel, Harry Shum Jr., Jenny Slate, Biff Wiff, Randy Newman
(Stimme), Daniel Scheinert, Daniel Kwan
FSK: 16, Dauer: 139
Minuten.
Evelyn Wang
(Michelle Yeoh, "Gunpowder Milkshake") hat es nicht leicht:
Ihr Waschsalon ist kaum profitabel, in ihrer Ehe mit Waymond (Ke Huy
Quan, "Die Goonies") läuft es schon lange nicht mehr rund
und ihre erwachsene Tochter Joy (Stephanie Hsu, TV-Serie "The
Path") ist in erster Linie genervt von ihrer Mutter. Dann sorgt auch
noch Evelyns konservativer Vater (James Hong, "Tango und Cash"),
der zu Besuch aus China ist, für zusätzliche Turbulenzen und die
unerbittliche Finanzbeamtin Deirdre (Jamie Lee Curtis, "Halloween")
droht wegen ungenügender Steuerunterlagen mit der Schließung
des Waschsalons. Und als wäre all dies nicht schon chaotisch genug,
taucht plötzlich eine alternative Version ihres Gatten Waymond aus
einem Paralleluniversum auf und erklärt der fassungslosen Evelyn,
sie sei womögllich der Schlüssel zur Rettung des Multiversums
vor einer gewissen Jobu Tupaki. Nachdem Evelyn anerkennen muß, daß
das kein Gag ist, zeigt "Alpha Waymond" ihr, wie sie sich
die Fähigkeiten ihrer Alter Egos aus den unzähligen
Paralleluniversen aneignen kann, denn nur so habe sie eine Chance,
Jobu Tupaki zu stoppen ...
Kritik:
Die Karriere von
Michelle Yeoh dürfte ziemlich einzigartig sein. Die gebürtige
Malaysierin wurde als junge Frau (teilweise unter dem Namen Michelle
Khan) im florierenden Hongkong-Kino der 1980er Jahre als Actionstar
entdeckt und fand an der Seite von Martial Arts-Ikonen wie Jackie
Chan ("Police Story 3"), Sammo Hung ("Powerman 2")
oder Cynthia Rothrock ("Ultra Force 2") auch im Westen
viele Fans. In den 1990er Jahren wechselte Yeoh verstärkt zum
historischen Wuxia-Genre (also Schwerter statt Pistolen) mit Werken
wie "Die Macht des Schwertes" mit Tony Chiu-Wai Leung, "Tai
Chi" mit Jet Li oder "Wing Chun" neben Donnie Yen und
weckte so auch das Interesse Hollywoods. Nach ihrem Auftritt im James
Bond-Film "Der Morgen stirbt nie" (1997) und der Hauptrolle in Ang Lees
OSCAR-prämiertem Wuxia-Meisterwerk "Tiger & Dragon"
hätte man meinen können, daß ihr Weg zum echten Weltstar
vorgezeichnet ist – doch stattdessen verlief ihre Karriere
zunehmend zäh. Das lag einmal daran, daß viele
Hollywood-Verantwortliche nicht so recht wußten, wie sie
mit ihr umgehen sollten – nach ihrer Aussage hatten etliche keine
Ahnung, ob sie überhaupt Englisch spricht –, zum anderen aber auch
am unaufhaltsamen Niedergang des Hongkong-Kinos nach der
"Wiedervereinigung" mit China im Jahr 1997. So mußte sie
sich nach dem Jahrtausendwechsel mit zumeist kleineren Rollen in
Filmen wie "Die Geisha", "Sunshine" oder "Die
Mumie 3" begnügen. Wer weiß, ob sie selbst im mittlerweile
fortgeschrittenen Ü50-Alter überhaupt noch an den ganz großen
Karrieresprung glaubte – doch glücklicherweise kam der
tatsächlich: 2017 wurde Michelle Yeoh zum "Star Trek"-Captain in
der Serie "Discovery", hatte ein kleines, aber feines Cameo
in James Gunns "Guardians of the Galaxy Vol. 2" und war
Teil des Ensembles des Überraschungs-Hits "Crazy Rich".
Seitdem war sie plötzlich wieder gut beschäftigt und in den
verschiedensten Projekten zu sehen (etwa in Marvels "Shang-Chi" oder der Netflix-Miniserie "The Witcher: Herkunft des Blutes")
– und wurde mit 62 Jahren für ihre Rolle im gefeierten
Independent-Film "Everything Everywhere All at Once"
erstmals für den OSCAR nominiert. Und das natürlich völlig
verdient, denn in dem unkonventionellen und enorm einfallsreichen
Genremix zeigt Michelle Yeoh einmal mehr, was sie schauspielerisch
alles drauf hat!
Kurioserweise ist Yeoh aber nicht mal die einzige aus dem "Everything
..."-Ensemble mit einer einzigartigen Vita. So war ihr Filmgatte
Ke Huy Quan Mitte der 1980er Jahre ein Kinderstar, der an der Seite
von Harrison Ford in "Indiana Jones und der Tempel des Todes"
sowie in dem gefeierten Coming of Age-Klassiker "Die Goonies"
Hauptrollen spielte, als Erwachsener aber kaum noch Rollen bekam und
deshalb nur noch gelegentlich hinter den Kulissen u.a. als
Stunt-Choreograph auftrat. Mit "Everything …" feiert der
gebürtige Vietnamese nun nach 20-jähriger Auszeit sein großes
Comeback vor der Kamera – und wurde prompt ebenfalls für den OSCAR
nominiert! Und dann wäre da noch der inzwischen 94 Jahre alte James
Hong, dessen Karriere in den 1950er Jahren begann, aber lange
Zeit durch den Rassismus in Hollywood ausgebremst und auf kleine, oft
klischeehafte Nebenrollen limitiert wurde. Erst in hohem Alter wurde
er unter Filmfans immer bekannter, auch weil sich unter den laut IMDb mehr
als 450 Kinofilmen und TV-Serien, in denen er mitspielte, zahlreiche heutige Klassiker wie "Kanonenboot am Yangtse-Kiang",
"Chinatown", "Die unglaubliche Reise in einem
verrückten Flugzeug", "Blade Runner", "Big
Trouble in Little China", "Wayne's World 2" oder (als
Sprecher) die "Kung Fu Panda"-Reihe befinden. Der Cast von
"Everything Everywhere All at Once" kann also unter dem
Strich definitiv als spektakulär bezeichnet werden und rechtfertigt
es, daß ich zwei lange Absätze auf ihn verwendet habe
(und dabei habe ich die ebenfalls OSCAR-nominierten Jamie Lee Curtis
und Stephanie Hsu noch gar nicht erwähnt).
Damit
wird es aber höchste Zeit, auf den Film selbst zu sprechen zu kommen: Das
Regie- und Drehbuchduo Daniel Kwan und Daniel Scheinert – das sich
selbst auch "The Daniels" nennt – hat nach seinem
Langfilm-Debüt "Swiss Army Man" erneut eine äußerst
skurrile Geschichte ersonnen, die aber diesmal noch größer, noch
temporeicher, noch einfallsreicher daherkommt und sich daher das Kritikerlob und die Auszeichnungen inklusive elf OSCAR-Nominierungen
redlich verdient hat. Angesichts der Multiversum-Handlung liegt
ein Vergleich mit dem Marvel Cinematic Universe nahe, in
dem ein Multiversum ebenfalls eine bedeutende Rolle spielt. Doch während
das MCU-Multiversum bei allen erzählerischen Möglichkeiten
den franchiseinternen Regeln unterworfen ist, können
"die Daniels" bei ihrer eigenen Schöpfung viel freier
vorgehen. Und diese kreative Freiheit nutzen sie weidlich aus, indem
sie eine Verrücktheit und skurrile Idee an die nächste reihen. Da gibt
es ein Universum, in dem alle Menschen Hotdog-Finger haben,
in einem anderen wurde das "Kleiner Finger-Kung Fu" zur
Meisterschaft gebracht. Für viel Gelächter im Publikum sorgt auch
der Kniff, daß man etwas möglichst Unwahrscheinliches tun muß, um
die Universen zu wechseln, was immer wieder zu haarsträubenden
Situationen führt. Die Akteure machen alles mit großer
Leidenschaft mit und die Hauptdarsteller schaffen es auch, die
unterschiedlichen Varianten ihrer Figuren glaubhaft und deutlich
unterscheidbar zu interpretieren. Neben Michelle Yeoh verdient sich
in dieser Hinsicht besonders (und
sogar noch mehr als Yeoh)
Ke Huy Quan ein großes Lob – es ist schon bemerkenswert, wie scheinbar
spielerisch leicht er nach seiner 20-jährigen Schauspielpause
zwischen den unterschiedlichen Waymonds wechselt!
Was
die Logik dieser herrlich anarchischen Multiversums-Geschichte
betrifft, ist es vermutlich gut, daß der Film so temporeich und
fast ohne Verschnaufpausen inszeniert ist, daß man gar nicht groß
darüber nachdenken kann, wieviel Sinn die Story ergibt. Gleichzeitig
ist so aber natürlich eine komplexe Figurenzeichnung relativ
schwierig zu erreichen. Dennoch gelingt es den Daniels, die zentralen
Protagonisten sympathisch und nachvollziehbar genug zu gestalten, daß
man sie recht schnell ins Herz schließt – zumal unter all der
schwarzhumorigen, mitunter surrealistisch anmutenden Skurrilität
letztlich eine sehr universelle, humanistische Geschichte über eine
komplizierte Familie und das Streben nach Glück, Selbstverwirklichung und dem Sinn des Lebens verborgen ist. Die übrigens auch gelungen
und überraschend emotional zu Ende gebracht wird. Angesichts eines
Budgets im eher niedrigen zweistelligen Millionenbereich erreichen die
Spezialeffekte derweil natürlich kein Blockbuster-Niveau, das
gleicht "Everything …" aber durch Kreativität,
Detailverliebtheit und schlicht gute handwerkliche Arbeit locker aus.
Nach "Swiss Army Man" und "Everything Everywhere All
at Once" muß man gespannt sein, was sich Daniel Kwan und
Daniel Scheinert für ihren nächsten Film ausdenken werden. Ich bin
sicher, es etwas Ungewöhnliches sein. Und auf weitere Filme mit Ke Huy Quan freue ich mich auch schon.
Fazit:
"Everything Everywhere All at Once" ist eine anarchische
Actionkomödie voller skurriler Einfälle und Charaktere, zum Leben
erweckt von einem wunderbaren, spielfreudigen Ensemble rund um
Michelle Yeoh.
Wertung:
Knapp 9 Punkte.
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