Regie: Mike Flanagan, Drehbuch: Jamie Flanagan, Mike Flanagan, Dani
Parker, Elan Gale und Jeff Howard, Musik: The Newton Brothers
Darsteller: Kate
Siegel, Zach Gilford, Hamish Linklater, Samantha Sloyan, Annabeth
Gish, Rahul Kohli, Henry Thomas, Kristin Lehman, Igby Rigney, Annarah
Cymone, Michael Trucco, Crystal Balint, Matt Biedel, Alex Essoe,
Rahul Abburi, Louis Oliver, Robert Longstreet, John C. MacDonald,
Vincent Gale, Carla Gugino, Quinton Boisclair, Mike Flanagan
Als Riley Flynn
(Zach Gilford, "The Purge: Anarchy") nach der Verbüßung einer mehrjährigen Haftstrafe wegen
einer Trunkenheitsfahrt mit tödlichen Folgen freigelassen wird, muß
er als Teil seiner Bewährungsauflagen in seinen Heimatort zurück,
um dort bei seinen Eltern zu wohnen. Dabei hat die Gemeinde auf einer
kleinen Insel vor der amerikanischen Küste namens Crockett Island
ihre besten Tage lange hinter sich: Nachdem ein Ölleck-Skandal im
Meer die Fischerei für längere Zeit nahezu unmöglich machte
und die Entschädigungszahlungen des schuldigen Konzerns auf Drängen
der fanatischen Gläubigen Bev Keane (Samantha
Sloyan, Netflix-Serie "Spuk in Hill House") großteils für die örtliche Kirche und den Bau eines
Gemeindezentrums verwendet wurden, haben immer mehr
Bewohner den Ort verlassen – inzwischen sind nicht viel mehr als
100 übrig. Zu Rileys Überraschung und Freude zählt dazu auch seine
Jugendliebe Erin Greene (Kate Siegel, "Das Spiel"), die mit 16 ihre
mindestens emotional mißbräuchliche Mutter und die Insel verlassen
hat, nach dem Tod ihrer Mutter nun jedoch wieder zurück ist –
schwanger, aber solo. Der schwer an seiner Schuld tragende Riley und
Erin nähern sich rasch wieder an und auch der charismatische neue
Priester Paul Hill (Hamish Linklater, "Magic in the Moonlight") ist Riley eine große Hilfe,
obwohl er im Gefängnis seinen Glauben verloren hat. Schon bald nach
Father Pauls (und Rileys) Ankunft auf Crockett Island geschehen
allerdings merkwürdige Dinge und sogar ein vermeintliches Wunder vollzieht sich,
als die seit Jahren gelähmte Jugendliche Leeza (Annarah Cymone)
plötzlich wieder laufen kann. Während Father Pauls Predigten radikaler und eindringlicher werden und Bev ihre Chance sieht, die
Gläubigen noch stärker an sich und die Kirche zu binden (vielleicht auch einige Ungläubige zu bekehren), gibt es durchaus
Skeptiker. Dazu gehören neben Riley die örtliche Ärztin Dr. Sarah
Gunning (Annabeth Gish, TV-Serie "Akte X") und der muslimische Sheriff Hassan (Rahul
Kohli, TV-Serie "iZombie") ...
Kritik:
Nachdem die Anfänge
von Mike Flanagan noch etwas holprig waren – seine ersten größeren
Filme "Absentia", "Oculus", "Ouija: Ursprung
des Bösen" und "Before I Wake" hatten zwar ihre
Stärken, aber auch mehr oder weniger deutliche Schwächen –, hat
sich der US-Filmemacher in den letzten Jahren als ein Meister des
(überwiegend) subtilen Horrors etabliert. Entscheidend dafür war
seine Zusammenarbeit mit dem Streaming-Anbieter Netflix, bei dem er
zunächst mit "Das Spiel" (2017) eine gelungene Stephen
King-Adaption präsentierte und dann mit "Spuk in Hill House"
(2018) und "Spuk in Bly Manor" (2020) zwei gefeierte
(Mini-)Serien. Dazu gesellte sich im Kinobereich noch die
unerwartet starke späte "Shining"-Fortsetzung "Doctor
Sleeps Erwachen", die aber leider kommerziell floppte. 2021
setzte Flanagan seine Erfolgsserie mit einer weiteren
Netflix-Produktion fort, wobei der frühere Ministrant betont,
daß die siebenteilige Miniserie "Midnight Mass" für ihn
ein ganz besonderes und sehr persönliches Projekt ist. Das merkt
man, denn die faszinierende Mischung aus religiösem Drama und
Horrorserie verströmt eine nahezu einzigartige Atmosphäre und
fordert ihr Publikum mit einem peniblen, in großer Ausführlichkeit
umgesetzten Blick auf eine kleine, stark religiös geprägte Gemeinschaft,
einem lange Zeit entsprechend geringen Erzähltempo und ausufernden, aber glänzend geschriebenen Dialogen und Monologen heraus.
Das trifft sicherlich nicht jedermanns Geschmack – gerade der
starke Fokus auf die Religion dürfte einige potentielle Zuschauer abschrecken –, aber wer sich darauf einläßt, wird
mit einer gut siebenstündigen Story voller authentischer,
komplexer Charaktere belohnt, die viel Stoff zum Nachdenken
bietet sowie einige wahrlich unvergessliche Momente.
Die sieben jeweils
60- bis 70-minütigen Episoden von "Midnight Mass" sind
nach biblischen Büchern benannt, passenderweise beginnend mit
"Genesis" und endend mit der "Offenbarung". Das macht
noch einmal klar, wie wichtig die Religion in Flanagans Geschichte
ist – was es umso interessanter und ironischer erscheinen läßt,
daß ausgerechnet jene Hauptfigur, mit der wir Crockett Island
kennenlernen und die uns auch als, wenngleich problembeladene,
primäre Identifikationsfigur angeboten wird, im Gefängnis vom
Glauben abgefallen ist. Riley, dessen Zerrissenheit Darsteller Zach
Gilford überzeugend rüberbringt und der auch teilweise als Alter
Ego von Serienschöpfer Flanagan fungiert, ist im Grunde genommen ein
gebrochener Mann, der noch immer jede Nacht das junge Opfer seiner
Trunkenheitsfahrt in seinen Alpträumen sieht und verzweifelt nach einem
Sinn in seinem Leben sucht. Zwar ist er wieder in Freiheit, durch
die Bewährungsauflagen allerdings bereits ziemlich stark eingeschränkt
und durch die Realität in seinem heruntergekommenen, vom Rest der
Welt isolierten Heimatort noch stärker. Immerhin wird Riley von
seiner Mutter Annie (Kristin Lehman, Netflix-Serie "Altered Carbon") freudig empfangen und auch das
Verhältnis zu seinem Teenager-Bruder Warren (Igby Rigney, "Fast & Furious 9")
normalisiert sich schnell. Sein Vater Ed (Henry Thomas, "Gangs of New York") bleibt
hingegen distanziert und weiß offenbar nicht so recht, wie er
mit seinem Sohn und dem, was er auf seinem Gewissen hat, umgehen
soll. Von der restlichen Gemeinschaft wird Riley bestenfalls
skeptisch betrachtet, weshalb es eigentlich nur zwei
Hoffnungsschimmer für ihn gibt: Erin und Father Paul. Während sich
die alte Chemie zwischen Riley und Erin – die selbst eine sehr unruhige
Zeit hinter sich hat und eher unwillig zurück nach Crockett Island
gekommen ist, wo sie nun als Lehrerin tätig ist – fast sofort
wieder einstellt, braucht Father Paul ein wenig, um Riley zu erreichen. Doch mit unbeirrbarer
Freundlichkeit, einem Talent zum Zuhören und einer noch größeren
Gabe fürs Predigen (nicht nur in der Kirche) weicht Father Paul
Rileys Mißtrauen auf und hilft ihm bei der Bewältigung der traumatischen Vergangenheit.
Hamish Linklaters
Darstellung des Father Paul hätte eigentlich diverse Preise
verdient, denn ohne sie würde "Midnight Mass" wahrscheinlich gar nicht funktionieren. Wie leidenschaftlich, intensiv und zugleich nachdenklich er
den mysteriösen Geistlichen darstellt, ist wirklich eine Wucht und
angesichts seiner charismatischen, argumentativ glänzend
aufgebauten Predigten kann man leicht nachzuvollziehen, warum
er so viele seiner Zuhörer in den Bann zieht – selbst dann noch,
als die Inhalte seiner Predigten immer radikaler werden, je näher
Ostern rückt (die Handlung beginnt mit dem Anfang der Fastenzeit und
endet an Ostern). Zumal er ja noch seine Assistentin Bev Keane an der
Seite hat, die mit blindem Fanatismus,
Selbstgerechtigkeit und perfekter Bibelkenntnis fast
jeden Zweifel im Keim erstickt und für jede Situation das passende
Bibelzitat findet (und dieses stets in ihrem Sinne dreht und wendet).
Kurzum: Nicht nur für einen Atheisten wie mich eine echte Haßfigur
und die eigentliche Antagonistin von "Midnight Mass".
Samantha Sloyan verkörpert diese unrettbare religiöse Eiferin
umwerfend, wenngleich man durchaus kritisch einwenden darf, daß die
geballte Bösartigkeit dieser Figur vielleicht ein klein wenig zu
klischeehaft und unrealistisch wirkt. Wobei, wenn man an ähnliche
Gestalten in der Realität denkt, ist es wohl doch nicht unbedingt
übertrieben, außerdem repräsentiert Bev schlichtweg den religiösen
Fundamentalismus an sich. Nebenbei bemerkt ist es (jedenfalls für einen Kirchenververweigerer wie mich) bemerkenswert, wie viele wunderschöne Kirchenlieder es gibt – aber ich gehe davon aus, daß die eher nicht repräsentativ sind, sondern Flanagan sich für seine Geschichte die absoluten Highlights dieses "Genres" herausgesucht hat ...
Flanagan, der alle
sieben Episoden inszeniert hat und an allen Drehbüchern beteiligt
war, läßt sich jede Menge Zeit, um Crockett Island und seine wichtigsten
Figuren vorzustellen, die allesamt paßgenau besetzt sind. Das
verlangt dem Publikum in Verbindung mit den ausführlich
präsentierten Gottesdiensten und religiös-philosophischen Disputen einige Geduld ab, aber dafür lernen wir Charaktere wie den
Bürgermeister Wade Scarborough (Michael Trucco, TV-Serie "Battlestar Galactica") mit seiner Ehefrau
Dolly (Crystal Balint, TV-Serie "The Bletchley Circle: San Francisco") und ihrer sehr gläubigen querschnittsgelähmten Tochter
Leeza, den muslimischen Sheriff Hassan mit seinem zweifelnden Teenager-Sohn Ali
(Rahul Abburi, TV-Serie "Good Game"), Dr. Gunning mit ihrer dementen Mutter Mildred (Alex
Essoe, "Tales of Halloween") oder den Säufer Joe Collie (Robert Longstreet, "Aquaman") ziemlich gut
kennen. Das sorgt wiederum dafür, daß uns ihre Entwicklung und ihr
Schicksal in dieser religiösen Horrorgeschichte wirklich
interessiert. Mit den Horrorelementen selbst hält sich Flanagan lange zurück (sofern man Bev nicht dazuzählt ...),
eigentlich kommen diese erst ab dem Ende der vierten Folge und so
richtig ab Episode 6 zum Tragen. Bis dahin sorgt nur das
gelegentliche Auftauchen einer Kreatur für kurze
Schreckmomente, die im Abspann bis zum Schluß als "Der Engel"
(gespielt von Quinton Boisclair aus der TV-Serie "Legion") bezeichnet wird. Denn genau dafür
halten die Kreatur Father Paul und Bev, während der neutrale
Zuschauer vermutlich sehr schnell mutmaßen wird, daß es sich in
Wirklichkeit eher um einen Dämon oder einen Vampir handeln könnte –
leider kann ich darauf, auf die klare Metaphern-Funktion des "Engels"
und auf die Storyentwicklung der späteren Episoden aber ohne
große Spoilergefahr kaum eingehen.
Verraten kann ich
jedoch, daß die Dialoge und Monologe von "Midnight Mass"
zu den großen Stärken der Miniserie zählen. Es ist bemerkenswert,
wie ausführlich Mike Flanagan die von ihm erschaffenen Charaktere ihre
Gedanken und Argumente in (von seinen eigenen Erfahrungen und
Überzeugungen inspirierte) Worte fassen läßt und noch
bemerkenswerter, wie hervorragend ihm das gelingt. Man sollte meinen, daß
etwa minutenlange Predigten von Father Paul gerade Nichtgläubige schnell
langweilen sollten, aber hier ist das so überzeugend in Szene
gesetzt, geschrieben und gespielt, daß man sich der Faszination schwerlich
entziehen kann. Und wenn Riley und Erin – ungemein sympathisch
verkörpert von Flanagans Ehefrau Kate Siegel – sich eines Abends
in aller Ausführlichkeit ihre ganz persönliche Vorstellung vom Tod
und dem, was (vielleicht) danach kommt, erzählen, ist das fast schon
wieder unrealistisch gut durchdacht und wirklich erhellend, zumal beider
Persönlichkeiten dadurch noch weiter geschärft werden. Ganz
nebenbei wird damit auch der Grundstein für ein denkwürdiges,
grausam-poetisches Ende der fünften Episode gelegt, von dem ich im
Grunde genommen garantieren kann, daß niemand es je vergessen wird,
der es gesehen (und genialerweise bis in den Abspann hinein gehört!)
hat. In der zweiten Hälfte zieht "Midnight Mass" dann
generell das Tempo deutlich an und vor allem die letzten beiden
Episoden geraten turbulent. Ein wenig leidet darunter
zugegebenermaßen die bis dahin so große Glaubwürdigkeit, denn es
geht dann doch ziemlich schnell und trotz der Rahmenbedingungen würde
man etwas mehr Widerstand gegen die finale Eskalation erwarten –
zumal einige gute Argumente, mit denen diese vielleicht doch noch verhindert
werden könnte (Stichwort Tageslicht), gar nicht vorgebracht
werden. Spannend, aufregend und unterhaltsam gerät das große Finale
– das wie die gesamte Miniserie wunderschön und bildgewaltig
gefilmt ist – aber natürlich trotzdem, in dem sich Flanagan nach
der langen Zurückhaltung bis dahin so richtig austobt bis zum wenig
überraschenden, aber beeindruckend konsequent umgesetzten Finale. Ja, ich glaube, von Mike Flanagan kann man noch Großes erwarten!
Fazit:
"Midnight Mass" ist eine einzigartige Mischung aus
eindringlichem religiösen Drama und Horrorserie, die trotz eines
anfänglich langsamen Erzähltempos mit komplexen Charakteren,
tiefgreifenden Dialogen und einer wendungsreichen Story mit
einigen denkwürdigen Momenten fasziniert.
Wertung:
9 Punkte.
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