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In eigener Sache: Mein neues Filmbuch

Einigen Lesern ist bestimmt aufgefallen, daß ich in der rechten Spalte meines Blogs seit längerer Zeit das Cover meines neuen Buchs präsen...

Donnerstag, 29. September 2022

MIDNIGHT MASS (2021, TV-Miniserie)

Regie: Mike Flanagan, Drehbuch: Jamie Flanagan, Mike Flanagan, Dani Parker, Elan Gale und Jeff Howard, Musik: The Newton Brothers
Darsteller: Kate Siegel, Zach Gilford, Hamish Linklater, Samantha Sloyan, Annabeth Gish, Rahul Kohli, Henry Thomas, Kristin Lehman, Igby Rigney, Annarah Cymone, Michael Trucco, Crystal Balint, Matt Biedel, Alex Essoe, Rahul Abburi, Louis Oliver, Robert Longstreet, John C. MacDonald, Vincent Gale, Carla Gugino, Quinton Boisclair, Mike Flanagan
Midnight Mass (2021) on IMDb Rotten Tomatoes: 86% (8,1), Altersempfehlung: ab 16, Dauer: 452 Minuten.
Als Riley Flynn (Zach Gilford, "The Purge: Anarchy") nach der Verbüßung einer mehrjährigen Haftstrafe wegen einer Trunkenheitsfahrt mit tödlichen Folgen freigelassen wird, muß er als Teil seiner Bewährungsauflagen in seinen Heimatort zurück, um dort bei seinen Eltern zu wohnen. Dabei hat die Gemeinde auf einer kleinen Insel vor der amerikanischen Küste namens Crockett Island ihre besten Tage lange hinter sich: Nachdem ein Ölleck-Skandal im Meer die Fischerei für längere Zeit nahezu unmöglich machte und die Entschädigungszahlungen des schuldigen Konzerns auf Drängen der fanatischen Gläubigen Bev Keane (Samantha Sloyan, Netflix-Serie "Spuk in Hill House") großteils für die örtliche Kirche und den Bau eines Gemeindezentrums verwendet wurden, haben immer mehr Bewohner den Ort verlassen – inzwischen sind nicht viel mehr als 100 übrig. Zu Rileys Überraschung und Freude zählt dazu auch seine Jugendliebe Erin Greene (Kate Siegel, "Das Spiel"), die mit 16 ihre mindestens emotional mißbräuchliche Mutter und die Insel verlassen hat, nach dem Tod ihrer Mutter nun jedoch wieder zurück ist – schwanger, aber solo. Der schwer an seiner Schuld tragende Riley und Erin nähern sich rasch wieder an und auch der charismatische neue Priester Paul Hill (Hamish Linklater, "Magic in the Moonlight") ist Riley eine große Hilfe, obwohl er im Gefängnis seinen Glauben verloren hat. Schon bald nach Father Pauls (und Rileys) Ankunft auf Crockett Island geschehen allerdings merkwürdige Dinge und sogar ein vermeintliches Wunder vollzieht sich, als die seit Jahren gelähmte Jugendliche Leeza (Annarah Cymone) plötzlich wieder laufen kann. Während Father Pauls Predigten radikaler und eindringlicher werden und Bev ihre Chance sieht, die Gläubigen noch stärker an sich und die Kirche zu binden (vielleicht auch einige Ungläubige zu bekehren), gibt es durchaus Skeptiker. Dazu gehören neben Riley die örtliche Ärztin Dr. Sarah Gunning (Annabeth Gish, TV-Serie "Akte X") und der muslimische Sheriff Hassan (Rahul Kohli, TV-Serie "iZombie") ...

Kritik:
Nachdem die Anfänge von Mike Flanagan noch etwas holprig waren – seine ersten größeren Filme "Absentia", "Oculus", "Ouija: Ursprung des Bösen" und "Before I Wake" hatten zwar ihre Stärken, aber auch mehr oder weniger deutliche Schwächen –, hat sich der US-Filmemacher in den letzten Jahren als ein Meister des (überwiegend) subtilen Horrors etabliert. Entscheidend dafür war seine Zusammenarbeit mit dem Streaming-Anbieter Netflix, bei dem er zunächst mit "Das Spiel" (2017) eine gelungene Stephen King-Adaption präsentierte und dann mit "Spuk in Hill House" (2018) und "Spuk in Bly Manor" (2020) zwei gefeierte (Mini-)Serien. Dazu gesellte sich im Kinobereich noch die unerwartet starke späte "Shining"-Fortsetzung "Doctor Sleeps Erwachen", die aber leider kommerziell floppte. 2021 setzte Flanagan seine Erfolgsserie mit einer weiteren Netflix-Produktion fort, wobei der frühere Ministrant betont, daß die siebenteilige Miniserie "Midnight Mass" für ihn ein ganz besonderes und sehr persönliches Projekt ist. Das merkt man, denn die faszinierende Mischung aus religiösem Drama und Horrorserie verströmt eine nahezu einzigartige Atmosphäre und fordert ihr Publikum mit einem peniblen, in großer Ausführlichkeit umgesetzten Blick auf eine kleine, stark religiös geprägte Gemeinschaft, einem lange Zeit entsprechend geringen Erzähltempo und ausufernden, aber glänzend geschriebenen Dialogen und Monologen heraus. Das trifft sicherlich nicht jedermanns Geschmack – gerade der starke Fokus auf die Religion dürfte einige potentielle Zuschauer abschrecken –, aber wer sich darauf einläßt, wird mit einer gut siebenstündigen Story voller authentischer, komplexer Charaktere belohnt, die viel Stoff zum Nachdenken bietet sowie einige wahrlich unvergessliche Momente.

Die sieben jeweils 60- bis 70-minütigen Episoden von "Midnight Mass" sind nach biblischen Büchern benannt, passenderweise beginnend mit "Genesis" und endend mit der "Offenbarung". Das macht noch einmal klar, wie wichtig die Religion in Flanagans Geschichte ist – was es umso interessanter und ironischer erscheinen läßt, daß ausgerechnet jene Hauptfigur, mit der wir Crockett Island kennenlernen und die uns auch als, wenngleich problembeladene, primäre Identifikationsfigur angeboten wird, im Gefängnis vom Glauben abgefallen ist. Riley, dessen Zerrissenheit Darsteller Zach Gilford überzeugend rüberbringt und der auch teilweise als Alter Ego von Serienschöpfer Flanagan fungiert, ist im Grunde genommen ein gebrochener Mann, der noch immer jede Nacht das junge Opfer seiner Trunkenheitsfahrt in seinen Alpträumen sieht und verzweifelt nach einem Sinn in seinem Leben sucht. Zwar ist er wieder in Freiheit, durch die Bewährungsauflagen allerdings bereits ziemlich stark eingeschränkt und durch die Realität in seinem heruntergekommenen, vom Rest der Welt isolierten Heimatort noch stärker. Immerhin wird Riley von seiner Mutter Annie (Kristin Lehman, Netflix-Serie "Altered Carbon") freudig empfangen und auch das Verhältnis zu seinem Teenager-Bruder Warren (Igby Rigney, "Fast & Furious 9") normalisiert sich schnell. Sein Vater Ed (Henry Thomas, "Gangs of New York") bleibt hingegen distanziert und weiß offenbar nicht so recht, wie er mit seinem Sohn und dem, was er auf seinem Gewissen hat, umgehen soll. Von der restlichen Gemeinschaft wird Riley bestenfalls skeptisch betrachtet, weshalb es eigentlich nur zwei Hoffnungsschimmer für ihn gibt: Erin und Father Paul. Während sich die alte Chemie zwischen Riley und Erin – die selbst eine sehr unruhige Zeit hinter sich hat und eher unwillig zurück nach Crockett Island gekommen ist, wo sie nun als Lehrerin tätig ist – fast sofort wieder einstellt, braucht Father Paul ein wenig, um Riley zu erreichen. Doch mit unbeirrbarer Freundlichkeit, einem Talent zum Zuhören und einer noch größeren Gabe fürs Predigen (nicht nur in der Kirche) weicht Father Paul Rileys Mißtrauen auf und hilft ihm bei der Bewältigung der traumatischen Vergangenheit.

Hamish Linklaters Darstellung des Father Paul hätte eigentlich diverse Preise verdient, denn ohne sie würde "Midnight Mass" wahrscheinlich gar nicht funktionieren. Wie leidenschaftlich, intensiv und zugleich nachdenklich er den mysteriösen Geistlichen darstellt, ist wirklich eine Wucht und angesichts seiner charismatischen, argumentativ glänzend aufgebauten Predigten kann man leicht nachzuvollziehen, warum er so viele seiner Zuhörer in den Bann zieht – selbst dann noch, als die Inhalte seiner Predigten immer radikaler werden, je näher Ostern rückt (die Handlung beginnt mit dem Anfang der Fastenzeit und endet an Ostern). Zumal er ja noch seine Assistentin Bev Keane an der Seite hat, die mit blindem Fanatismus, Selbstgerechtigkeit und perfekter Bibelkenntnis fast jeden Zweifel im Keim erstickt und für jede Situation das passende Bibelzitat findet (und dieses stets in ihrem Sinne dreht und wendet). Kurzum: Nicht nur für einen Atheisten wie mich eine echte Haßfigur und die eigentliche Antagonistin von "Midnight Mass". Samantha Sloyan verkörpert diese unrettbare religiöse Eiferin umwerfend, wenngleich man durchaus kritisch einwenden darf, daß die geballte Bösartigkeit dieser Figur vielleicht ein klein wenig zu klischeehaft und unrealistisch wirkt. Wobei, wenn man an ähnliche Gestalten in der Realität denkt, ist es wohl doch nicht unbedingt übertrieben, außerdem repräsentiert Bev schlichtweg den religiösen Fundamentalismus an sich. Nebenbei bemerkt ist es (jedenfalls für einen Kirchenververweigerer wie mich) bemerkenswert, wie viele wunderschöne Kirchenlieder es gibt – aber ich gehe davon aus, daß die eher nicht repräsentativ sind, sondern Flanagan sich für seine Geschichte die absoluten Highlights dieses "Genres" herausgesucht hat ...

Flanagan, der alle sieben Episoden inszeniert hat und an allen Drehbüchern beteiligt war, läßt sich jede Menge Zeit, um Crockett Island und seine wichtigsten Figuren vorzustellen, die allesamt paßgenau besetzt sind. Das verlangt dem Publikum in Verbindung mit den ausführlich präsentierten Gottesdiensten und religiös-philosophischen Disputen einige Geduld ab, aber dafür lernen wir Charaktere wie den Bürgermeister Wade Scarborough (Michael Trucco, TV-Serie "Battlestar Galactica") mit seiner Ehefrau Dolly (Crystal Balint, TV-Serie "The Bletchley Circle: San Francisco") und ihrer sehr gläubigen querschnittsgelähmten Tochter Leeza, den muslimischen Sheriff Hassan mit seinem zweifelnden Teenager-Sohn Ali (Rahul Abburi, TV-Serie "Good Game"), Dr. Gunning mit ihrer dementen Mutter Mildred (Alex Essoe, "Tales of Halloween") oder den Säufer Joe Collie (Robert Longstreet, "Aquaman") ziemlich gut kennen. Das sorgt wiederum dafür, daß uns ihre Entwicklung und ihr Schicksal in dieser religiösen Horrorgeschichte wirklich interessiert. Mit den Horrorelementen selbst hält sich Flanagan lange zurück (sofern man Bev nicht dazuzählt ...), eigentlich kommen diese erst ab dem Ende der vierten Folge und so richtig ab Episode 6 zum Tragen. Bis dahin sorgt nur das gelegentliche Auftauchen einer Kreatur für kurze Schreckmomente, die im Abspann bis zum Schluß als "Der Engel" (gespielt von Quinton Boisclair aus der TV-Serie "Legion") bezeichnet wird. Denn genau dafür halten die Kreatur Father Paul und Bev, während der neutrale Zuschauer vermutlich sehr schnell mutmaßen wird, daß es sich in Wirklichkeit eher um einen Dämon oder einen Vampir handeln könnte – leider kann ich darauf, auf die klare Metaphern-Funktion des "Engels" und auf die Storyentwicklung der späteren Episoden aber ohne große Spoilergefahr kaum eingehen.

Verraten kann ich jedoch, daß die Dialoge und Monologe von "Midnight Mass" zu den großen Stärken der Miniserie zählen. Es ist bemerkenswert, wie ausführlich Mike Flanagan die von ihm erschaffenen Charaktere ihre Gedanken und Argumente in (von seinen eigenen Erfahrungen und Überzeugungen inspirierte) Worte fassen läßt und noch bemerkenswerter, wie hervorragend ihm das gelingt. Man sollte meinen, daß etwa minutenlange Predigten von Father Paul gerade Nichtgläubige schnell langweilen sollten, aber hier ist das so überzeugend in Szene gesetzt, geschrieben und gespielt, daß man sich der Faszination schwerlich entziehen kann. Und wenn Riley und Erin – ungemein sympathisch verkörpert von Flanagans Ehefrau Kate Siegel – sich eines Abends in aller Ausführlichkeit ihre ganz persönliche Vorstellung vom Tod und dem, was (vielleicht) danach kommt, erzählen, ist das fast schon wieder unrealistisch gut durchdacht und wirklich erhellend, zumal beider Persönlichkeiten dadurch noch weiter geschärft werden. Ganz nebenbei wird damit auch der Grundstein für ein denkwürdiges, grausam-poetisches Ende der fünften Episode gelegt, von dem ich im Grunde genommen garantieren kann, daß niemand es je vergessen wird, der es gesehen (und genialerweise bis in den Abspann hinein gehört!) hat. In der zweiten Hälfte zieht "Midnight Mass" dann generell das Tempo deutlich an und vor allem die letzten beiden Episoden geraten turbulent. Ein wenig leidet darunter zugegebenermaßen die bis dahin so große Glaubwürdigkeit, denn es geht dann doch ziemlich schnell und trotz der Rahmenbedingungen würde man etwas mehr Widerstand gegen die finale Eskalation erwarten – zumal einige gute Argumente, mit denen diese vielleicht doch noch verhindert werden könnte (Stichwort Tageslicht), gar nicht vorgebracht werden. Spannend, aufregend und unterhaltsam gerät das große Finale – das wie die gesamte Miniserie wunderschön und bildgewaltig gefilmt ist – aber natürlich trotzdem, in dem sich Flanagan nach der langen Zurückhaltung bis dahin so richtig austobt bis zum wenig überraschenden, aber beeindruckend konsequent umgesetzten Finale. Ja, ich glaube, von Mike Flanagan kann man noch Großes erwarten!

Fazit: "Midnight Mass" ist eine einzigartige Mischung aus eindringlichem religiösen Drama und Horrorserie, die trotz eines anfänglich langsamen Erzähltempos mit komplexen Charakteren, tiefgreifenden Dialogen und einer wendungsreichen Story mit einigen denkwürdigen Momenten fasziniert.

Wertung: 9 Punkte.

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