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In eigener Sache: Mein neues Filmbuch

Einigen Lesern ist bestimmt aufgefallen, daß ich in der rechten Spalte meines Blogs seit längerer Zeit das Cover meines neuen Buchs präsen...

Donnerstag, 10. März 2022

tick, tick... BOOM! (2021)

Regie und Drehbuch: Lin-Manuel Miranda, Musik: Jonathan Larson
Darsteller: Andrew Garfield, Alexandra Shipp, Robin de Jesús, Vanessa Hudgens, Joshua Henry, Bradley Whitford, Judith Light, MJ Rodriguez, Ben Levi Ross, Jonathan Marc Sherman, Laura Benanti, Utkarsh Ambudkar, Richard Kind, Tariq Trotter, Ryan Vasquez, Roger Bart, Stephen Schwartz, Marc Shaiman, Renée Elise Goldsberry, Phillipa Soo, Bernadette Peters, Bebe Neuwirth, Daphne Rubin-Vega, Phylicia Rashad, Joel Grey, Stephen Sondheim (Stimme)
tick, tick... Boom! (2021) on IMDb Rotten Tomatoes: 87% (7,6); weltweites Einspielergebnis: $0,1 Mio.
FSK: 6, Dauer: 121 Minuten.
New York, 1990: Seit acht Jahren arbeitet Jonathan Larson (Andrew Garfield, "Under the Silver Lake") an seinem Rock-Musical "Superbia", das er unbedingt auf den Broadway bringen will, während er als Bedienung in einem Diner gerade so das nötige Geld verdient, um sich über Wasser zu halten. Nun spitzt sich alles zu, als erstens Jonathans 30. Geburtstag und damit das quasi-offizielle Ende seiner Jugend unmittelbar bevorsteht und zweitens zwei Tage vorher eine erste rudimentäre Vorführung von "Superbia" stattfindet, bei der Produzenten anwesend sein werden, die eine Umsetzung des futuristischen Musicals finanzieren könnten. Jonathans großes Problem ist, daß ihm noch ein zentraler Song für seine weibliche Hauptrolle Elizabeth – gespielt und gesungen von Jonathans guter Freundin Karessa (Vanessa Hudgens, "Machete Kills") – fehlt, worauf ihn bereits vor Jahren bei einem Theater-Workshop sein großes Idol, die Broadway-Legende Stephen Sondheim (Bradley Whitford, "Get Out"), hingewiesen hatte. Auch leidet unter Jonathans obsessiver Beschäftigung mit dem Musical zunehmend sein Privatleben; speziell seine Freundin Susan (Alexandra Shipp, "X-Men: Apocalypse") ist frustriert, daß er einfach nicht mit ihr über ihr Jobangebot außerhalb New Yorks sprechen will. Jonathans bester Freund seit Kindheitstagen Michael (Robin de Jesús, "The Boys in the Band") – der seinen Traum von einer Schauspieler-Karriere inzwischen zugunsten eines gutbezahlten Jobs in einer Werbeagentur aufgegeben hat – hat ebenfalls Probleme, über die er gerne mit seinem Kumpel reden würde ...

Kritik:
Diese Erkenntnis dürfte wenige Menschen überraschen: Hollywood ist ziemlich verliebt in sich selbst! Anders läßt sich jedenfalls kaum erklären, warum schon seit Jahrzehnten so viele Filme gedreht werden, die zeigen, wie es hinter den Kulissen der Filmbranche respektive der ganzen Showbranche zugeht. "Boulevard der Dämmerung" (1950), "Alles über Eva" (1950), "Frühling für Hitler" (1968), "Hinter dem Rampenlicht" (1979), "Barton Fink" (1991), "The Player" (1992), "Ed Wood" (1994), "Get Shorty" (1995), "Gods and Monsters" (1998), "Mulholland Drive" (2001), "The Artist" (2011), "Birdman" (2014), "La La Land" (2016) und "A Star Is Born" (2018) sind nur einige der bekanntesten entsprechenden Werke, dazu gesellen sich noch zahlreiche weitere (darunter etliche Künstler-Biopics) und auch etliche TV-Produktionen wie zuletzt die Miniserie "Fosse/Verdon" (2019). Dabei ist das Showbusiness definitiv keine Blockbuster-Thematik, dafür sind die Aussichten auf gute Kritiken und viele Preise aber glänzend. Nicht nur die Filmbranche selbst inspiriert Hollywood jedoch zu einem Blick hinter die Kulissen, ganz besonders gerne dient dazu ebenfalls der Broadway oder generell das Theater, wie auch meine obige Auflistung erkennen läßt. "tick, tick… BOOM!", Kino-Regiedebüt des mit dem Musical-Überhit "Hamilton" weltberühmt gewordenen Lin-Manuel Miranda, fügt sich perfekt in die Reihe der Showbusiness-Filme ein, denn es widmet sich dem Werk des mit 35 Jahren verstorbenen Musical-Schöpfers Jonathan Larson. Dessen größter Hit war das später (erfolglos) von Hollywood adaptierte Rock-Musical "Rent", das in "tick, tick… BOOM!" jedoch nur am Rande eine Rolle spielt. Hier geht es vielmehr um Larsons mühsamen ersten Versuch, als junger Kreativer ein innovatives Musical auf die Bühne zu bringen – Miranda schildert das ausgesprochen empathisch und einfallsreich und schafft es auf diese Weise so gut wie wenige Filme zuvor, dem Publikum den eigentlichen Schaffensprozeß nahezubringen. Das ist und bleibt natürlich eher ein Nischenthema, das hier aber so schwungvoll und unterhaltsam umgesetzt ist und zudem mit einem den ganzen Film spielerisch leicht an sich reißenden Hauptdarsteller Andrew Garfield gesegnet, daß eigentlich jeder dieser Netflix-Produktion eine Chance geben sollte.

Jonathan Larsen steht klar im Mittelpunkt von Mirandas Film, was Andrew Garfield reichlich Gelegenheit gibt, sein schauspielerisches Können auszuspielen – als Belohnung gab es eine OSCAR-Nominierung. Sein Jonathan Larson ist eine vielschichtige Persönlichkeit, ein durchaus sympathischer, erkennbar talentierter junger Mann; gleichzeitig ist er aber auch selbstbezogen, was es für sein Umfeld inklusive seiner Freundin Susan und seinem Kumpel Michael auf Dauer nicht einfach macht, mit ihm umzugehen. Dabei wirkt das Beziehungsgeflecht authentisch und man kann schön nachvollziehen, wie schwierig es sein kann, mit einem großen Künstler, der ständig nur an seine Arbeit denkt und ihr alles unterordnet, befreundet oder liiert zu sein. Ein gewisser Egoismus ist in dieser Branche wohl unerläßlich, wenn man es nach oben schaffen will. Als Zuschauer kann man Jonathans Verhalten angesichts der akuten Streßsituation wegen der Finanzierung seines ersten Musicals (an dem er seit Jahren arbeitet) schon nachvollziehen; mit ihm zusammenleben möchte man trotzdem eher nicht … Das ändert aber nichts daran, wie begeisternd es für uns sein kann, Jonathans Arbeitsweise und eigenwilligen Gedankenstrom nachzuvollziehen, wenn sein kreatives Gehirn aus praktisch jeder denkbaren Alltagssituation in Sekundenschnelle das Showpotential eruiert und Jonathan passende Textzeilen und Musik nur so zufliegen. Das muß anstrengend sein, sowohl für den Künstler als auch für sein Umfeld, aber es ist auch ungemein faszinierend.

Bestes Beispiel dafür ist wohl die großartige "Sunday"-Sequenz im Diner, in dem Jonathan arbeitet: ein träumerischer und mitreißender Dreiminüter, der mit seiner präzise ausgeklügelten Choreographie das gesamte Personal und die Gäste des Diners miteinbezieht – die in einer tollen, sichtlich von Herzen kommenden Hommage an den Broadway mit echten Musical-Stars wie Bernadette Peters ("Into the Woods"), Renée Elise Goldsberry ("Die Farbe Lila"), Bebe Neuwirth ("Chicago"), Phylicia Rashad ("Dreamgirls"), Daphne Rubin-Vega ("Rent"), Phillipa Soo ("Hamilton") oder dem großartigen, zur Zeit der Dreharbeiten bereits 88-jährigen Joel Grey (unsterblich als OSCAR-gekrönter Master of Ceremonies in "Cabaret", wobei er die Rolle am Broadway und in Bob Fosses Verfilmung spielte) gespickt sind. Allgemein gibt es in "tick, tick... BOOM!" unzählige Cameos, so finden sich auch unter den Teilnehmern von Jonathans Workshop so bekannte Namen wie die Komponisten Stephen Schwartz ("Wicked") und Marc Shaiman ("Hairspray") – und Jonathans Idol Stephen Sondheim ("Sweeney Todd") spielt nicht nur, verkörpert von Bradley Whitford, eine Nebenrolle, sondern ist als er selbst als Stimme auf Jonathans Anrufbeantworter vertreten. Wohlgemerkt sind all diese Cameos gekonnt und subtil eingebaut – wer die entsprechenden Künstler nicht kennt, der wird kaum darauf kommen, daß es sich nicht einfach nur um Statisten handelt. Aber wer den Broadway kennt und liebt, der dürfte sich über jeden einzelnen Gastauftritt freuen (wobei die Cameos nicht nur als Hommage an den Broadway dienen, sondern zugleich illustrieren, wie viele heutige Künstler ihre Karriere zumindest teilweise Jonathan Larsons Werk zu verdanken haben). Erfreulicherweise sind die vielen Songs fast ausnahmslos echte Kracher, was es umso unverständlicher wirken läßt, auf wie viele Widerstände Larson bei der versuchten Umsetzung von "Superbia" traf. Während die Musik und Jonathans Schaffensprozeß klar im Mittelpunkt des Films stehen, kommen aber auch die Gefühle nicht zu kurz – Jonathans holprige Beziehung zur herzensguten Susan holt das Publikum emotional ebenso ab wie seine Freundschaft zu Michael. Kurzum: "tick, tick… Boom!" mag in erster Linie ein Nischenpublikum ansprechen, er ist aber ein ausgezeichnetes musikalisches Biopic, das jeden einzelnen zusätzlichen Zuschauer verdient.

Fazit: Lin-Manuel Mirandas "tick, tick… BOOM!" ist ein mitreißendes musikalisches Biopic mit einem alles überstrahlenden Hauptdarsteller Andrew Garfield, das dem Publikum den kreativen Schaffensprozeß so nahe bringt wie selten ein Film zuvor.

Wertung: 9 Punkte.
 
 

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