Regie und Drehbuch: Lin-Manuel Miranda, Musik: Jonathan Larson
Darsteller: Andrew
Garfield, Alexandra Shipp, Robin de Jesús, Vanessa Hudgens, Joshua
Henry, Bradley Whitford, Judith Light, MJ Rodriguez, Ben Levi Ross,
Jonathan Marc Sherman, Laura Benanti, Utkarsh Ambudkar, Richard Kind,
Tariq Trotter, Ryan Vasquez, Roger Bart, Stephen Schwartz, Marc
Shaiman, Renée Elise Goldsberry, Phillipa Soo, Bernadette Peters,
Bebe Neuwirth, Daphne Rubin-Vega, Phylicia Rashad, Joel Grey, Stephen
Sondheim (Stimme)
FSK: 6, Dauer: 121
Minuten.
New York, 1990: Seit
acht Jahren arbeitet Jonathan Larson (Andrew Garfield, "Under
the Silver Lake") an seinem Rock-Musical "Superbia",
das er unbedingt auf den Broadway bringen will, während er als
Bedienung in einem Diner gerade so das nötige Geld verdient, um sich
über Wasser zu halten. Nun spitzt sich alles zu, als erstens
Jonathans 30. Geburtstag und damit das quasi-offizielle Ende seiner
Jugend unmittelbar bevorsteht und zweitens zwei Tage vorher eine erste
rudimentäre Vorführung von "Superbia" stattfindet, bei
der Produzenten anwesend sein werden, die eine Umsetzung des
futuristischen Musicals finanzieren könnten. Jonathans großes
Problem ist, daß ihm noch ein zentraler Song für seine
weibliche Hauptrolle Elizabeth – gespielt und gesungen von
Jonathans guter Freundin Karessa (Vanessa Hudgens, "Machete
Kills") – fehlt, worauf ihn bereits vor Jahren bei einem
Theater-Workshop sein großes Idol, die Broadway-Legende Stephen Sondheim (Bradley
Whitford, "Get Out"), hingewiesen hatte. Auch leidet unter
Jonathans obsessiver Beschäftigung mit dem Musical zunehmend sein Privatleben;
speziell seine Freundin Susan (Alexandra Shipp, "X-Men:
Apocalypse") ist frustriert, daß er einfach nicht mit ihr über
ihr Jobangebot außerhalb New Yorks sprechen will. Jonathans
bester Freund seit Kindheitstagen Michael (Robin de Jesús, "The
Boys in the Band") – der seinen Traum von einer
Schauspieler-Karriere inzwischen zugunsten eines gutbezahlten Jobs in
einer Werbeagentur aufgegeben hat – hat ebenfalls Probleme, über die er
gerne mit seinem Kumpel reden würde ...
Kritik:
Diese Erkenntnis
dürfte wenige Menschen überraschen: Hollywood ist ziemlich verliebt
in sich selbst! Anders läßt sich jedenfalls kaum erklären, warum
schon seit Jahrzehnten so viele Filme gedreht werden, die zeigen, wie
es hinter den Kulissen der Filmbranche respektive der ganzen
Showbranche zugeht. "Boulevard der Dämmerung" (1950),
"Alles über Eva" (1950), "Frühling für Hitler"
(1968), "Hinter dem Rampenlicht" (1979), "Barton Fink"
(1991), "The Player" (1992), "Ed Wood" (1994),
"Get Shorty" (1995), "Gods and Monsters" (1998),
"Mulholland Drive" (2001), "The Artist" (2011),
"Birdman" (2014), "La La Land" (2016) und "A
Star Is Born" (2018) sind nur einige der bekanntesten
entsprechenden Werke, dazu gesellen sich noch zahlreiche weitere (darunter etliche Künstler-Biopics) und auch etliche TV-Produktionen wie zuletzt
die Miniserie "Fosse/Verdon" (2019). Dabei ist das
Showbusiness definitiv keine Blockbuster-Thematik, dafür sind die
Aussichten auf gute Kritiken und viele Preise aber glänzend.
Nicht nur die Filmbranche selbst inspiriert Hollywood jedoch zu einem
Blick hinter die Kulissen, ganz besonders gerne dient dazu ebenfalls
der Broadway oder generell das Theater, wie auch meine obige
Auflistung erkennen läßt. "tick, tick… BOOM!", Kino-Regiedebüt des mit dem Musical-Überhit "Hamilton"
weltberühmt gewordenen Lin-Manuel Miranda, fügt sich perfekt in die
Reihe der Showbusiness-Filme ein, denn es widmet sich dem Werk des mit 35 Jahren verstorbenen Musical-Schöpfers Jonathan Larson. Dessen
größter Hit war das später (erfolglos) von Hollywood adaptierte
Rock-Musical "Rent", das in "tick, tick… BOOM!" jedoch nur am Rande eine Rolle spielt. Hier geht es vielmehr um
Larsons mühsamen ersten Versuch, als junger Kreativer ein
innovatives Musical auf die Bühne zu bringen – Miranda schildert
das ausgesprochen empathisch und einfallsreich und schafft es auf
diese Weise so gut wie wenige Filme zuvor, dem Publikum den
eigentlichen Schaffensprozeß nahezubringen. Das ist und bleibt
natürlich eher ein Nischenthema, das hier aber so schwungvoll und
unterhaltsam umgesetzt ist und zudem mit einem den ganzen Film
spielerisch leicht an sich reißenden Hauptdarsteller Andrew Garfield
gesegnet, daß eigentlich jeder dieser Netflix-Produktion eine Chance
geben sollte.
Jonathan Larsen
steht klar im Mittelpunkt von Mirandas Film, was Andrew Garfield
reichlich Gelegenheit gibt, sein schauspielerisches Können
auszuspielen – als Belohnung gab es eine OSCAR-Nominierung. Sein
Jonathan Larson ist eine vielschichtige Persönlichkeit, ein durchaus
sympathischer, erkennbar talentierter junger Mann; gleichzeitig
ist er aber auch selbstbezogen, was es für sein Umfeld inklusive
seiner Freundin Susan und seinem Kumpel Michael auf Dauer nicht
einfach macht, mit ihm umzugehen. Dabei wirkt das Beziehungsgeflecht
authentisch und man kann schön nachvollziehen, wie schwierig es sein
kann, mit einem großen Künstler, der ständig nur an seine Arbeit
denkt und ihr alles unterordnet, befreundet oder liiert zu sein. Ein
gewisser Egoismus ist in dieser Branche wohl unerläßlich, wenn man
es nach oben schaffen will. Als Zuschauer kann man Jonathans
Verhalten angesichts der akuten Streßsituation wegen der
Finanzierung seines ersten Musicals (an dem er seit Jahren
arbeitet) schon nachvollziehen; mit ihm zusammenleben möchte man
trotzdem eher nicht … Das ändert aber nichts daran, wie
begeisternd es für uns sein kann, Jonathans Arbeitsweise und
eigenwilligen Gedankenstrom nachzuvollziehen, wenn sein kreatives
Gehirn aus praktisch jeder denkbaren Alltagssituation in
Sekundenschnelle das Showpotential eruiert und Jonathan passende
Textzeilen und Musik nur so zufliegen. Das muß anstrengend sein,
sowohl für den Künstler als auch für sein Umfeld, aber es ist auch
ungemein faszinierend.
Bestes Beispiel
dafür ist wohl die großartige "Sunday"-Sequenz im Diner,
in dem Jonathan arbeitet: ein träumerischer und mitreißender
Dreiminüter, der mit seiner präzise ausgeklügelten Choreographie das gesamte
Personal und die Gäste des Diners miteinbezieht – die in einer
tollen, sichtlich von Herzen kommenden Hommage an den Broadway mit
echten Musical-Stars wie Bernadette Peters ("Into the Woods"),
Renée Elise Goldsberry ("Die Farbe Lila"), Bebe Neuwirth
("Chicago"), Phylicia Rashad ("Dreamgirls"),
Daphne Rubin-Vega ("Rent"), Phillipa Soo ("Hamilton") oder dem großartigen, zur Zeit der Dreharbeiten bereits 88-jährigen
Joel Grey (unsterblich als OSCAR-gekrönter Master of Ceremonies in
"Cabaret", wobei er die Rolle am Broadway und in Bob Fosses
Verfilmung spielte) gespickt sind. Allgemein gibt es in "tick, tick... BOOM!"
unzählige Cameos, so finden sich auch unter den Teilnehmern von
Jonathans Workshop so bekannte Namen wie die Komponisten Stephen
Schwartz ("Wicked") und Marc Shaiman ("Hairspray")
– und Jonathans Idol Stephen Sondheim ("Sweeney Todd")
spielt nicht nur, verkörpert von Bradley Whitford, eine Nebenrolle,
sondern ist als er selbst als Stimme auf Jonathans Anrufbeantworter
vertreten. Wohlgemerkt sind all diese Cameos gekonnt und subtil
eingebaut – wer die entsprechenden Künstler nicht kennt, der wird
kaum darauf kommen, daß es sich nicht einfach nur um Statisten
handelt. Aber wer den Broadway kennt und liebt, der dürfte sich über
jeden einzelnen Gastauftritt freuen (wobei die Cameos nicht nur als Hommage an den Broadway dienen, sondern zugleich illustrieren, wie viele heutige Künstler ihre Karriere zumindest teilweise Jonathan Larsons Werk zu verdanken haben). Erfreulicherweise sind die
vielen Songs fast ausnahmslos
echte Kracher, was es umso unverständlicher wirken läßt, auf wie
viele Widerstände Larson bei der versuchten Umsetzung von "Superbia" traf. Während
die Musik und Jonathans Schaffensprozeß klar im Mittelpunkt des
Films stehen, kommen aber auch die Gefühle nicht zu kurz –
Jonathans holprige Beziehung zur herzensguten Susan holt das Publikum
emotional ebenso ab wie seine Freundschaft zu Michael. Kurzum: "tick,
tick… Boom!" mag in erster Linie ein Nischenpublikum
ansprechen, er ist aber ein ausgezeichnetes musikalisches Biopic,
das jeden einzelnen zusätzlichen Zuschauer verdient.
Fazit:
Lin-Manuel Mirandas "tick, tick… BOOM!"
ist ein mitreißendes musikalisches Biopic mit einem alles überstrahlenden Hauptdarsteller Andrew Garfield, das dem Publikum
den kreativen Schaffensprozeß so nahe bringt wie selten ein Film
zuvor.
Wertung:
9 Punkte.
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