Regie und Drehbuch: Keith Thomas, Musik: Michael Yezerski
Darsteller: Dave Davis, Lynn Cohen, Menashe Lustig, Malky
Goldman, Ronald Cohen, Fred Melamed, Rob Tunstall
FSK: 16, Dauer: 90 Minuten.
Der ca. 30-jährige Yakov Ronen (Dave Davis, "The Big
Short") hat kürzlich seine ultraorthodoxe jüdische Gemeinde verlassen
und versucht seitdem, sich in der "normalen" Welt von New York
einzupassen. Da ihm das durch seine buchstäbliche Weltfremdheit alles andere
als leicht fällt, sucht er den Beistand einer Selbsthilfegruppe, bei der er
auch die an ihm interessierte Sarah (Malky Goldman, Netflix-Serie
"Unorthodox") kennenlernt. Durch seine Defizite im Umgang mit gewöhnlichen New Yorkern konnte Yakov allerdings noch keine Arbeit finden,
weshalb er das Angebot von Rabbi Shulem (Menashe Lustig) aus seiner alten
Gemeinde widerwillig annimmt, für gutes Geld die traditionelle Totenwache für
den verstorbenen Rubin Litvak zu übernehmen – auch wenn ihm klar ist, daß der Rabbi
ihn vor allem wieder in die Gemeinde zurückholen will. Bei der Totenwache, die
bis zum Morgengrauen andauert und bei der außer dem Verblichenen nur noch
dessen an Demenz erkrankte Witwe (Lynn Cohen, "Die Tribute von Panem –
Catching Fire") im Haus ist, vernimmt Jakov schon bald unheimliche Geräusche
und sieht Dinge, die eigentlich nicht existieren können. Mrs. Litvak erklärt
dem verunsicherten Jakov, daß ihr Mann seit seiner Flucht aus dem KZ Buchenwald
von einem unsichtbaren Dämon namens Mazzik begleitet wurde, der sich von der
Angst eines Menschen nährt und nach dem Tod von Mr. Litvak einen neuen Wirt
sucht – und der nach einem traumatischen Erlebnis mental angeschlagene
Jakov scheint dafür das ideale Opfer zu sein. Oder ist er doch einfach nur kurz davor,
verrückt zu werden?
Kritik:
Religion als erzählerischer Hintergrund für einen
Horrorfilm? Das ist nicht ganz neu. Vor allem der Katholizismus ist in dieser
Hinsicht äußerst beliebt und hat mit den Exorzismusfilmen (mit William
Friedkins "Der Exorzist" von 1973 als logischem Höhepunkt) sogar ein
eigenes Horror-Subgenre hervorgebracht, das seit Jahrzehnten gerne und
regelmäßig bedient wird. Horrorfilme mit jüdischer Thematik sind dagegen
deutlich seltener zu finden. Zwar gilt mit Paul Wegeners Stummfilm-Klassiker
"Der Golem, wie er in die Welt kam" aus dem Jahr 1920 ein solcher sogar
als erster großer Horrorfilm der Geschichte (wobei Wegener schon
zuvor zwei "Golem"-Filme gedreht hatte, die aber bei weitem nicht die
filmhistorische Bedeutung des dritten haben), doch seitdem kam nicht mehr so
richtig viel. Erst in den letzten Jahren änderte sich das ein wenig, mit Ole
Bornedals "Possession – Das Dunkle in dir" (2012) – in dem der jüdische Totengeist Dibbuk der Gegenspieler ist – gab es gar einen kleinen Hit. Dazu kam der
israelische "Golem – Wiedergeburt" (2018) von Doron und Yoav Paz, und
Joel und Ethan Coens schwarzhumorige Tragikomödie "A Serious
Man" (2009), welche als vom biblischen Buch Hiob inspiriert gilt, hat
definitiv Züge eines psychologischen Horrorfilms, in dem der jüdische Glaube eine große
Rolle spielt. Ich weiß nicht, ob das schon ausreicht, um einen kleinen Trend zu
konstatieren, aber mit Keith Thomas' "The Vigil – Die Totenwache"
steht nun jedenfalls der nächste Vertreter des "jüdischen Horrorfilms"
an. Und obwohl Thomas' für weniger als $2 Mio. produziertes Langfilm-Regie- und
Drehbuch-Debüt für Mainstream-Horrorfans arg tempoarm inszeniert sein
könnte, überzeugt es mit einer nicht mangelfreien, aber insgesamt gelungenen
Mischung aus einem an den Indie-Gruselhit "It Follows" erinnernden Monster, jüdischer Mystik und Trauerdrama.
Zu Beginn macht uns eine Texteinblendung (die deutsche
Übersetzung wurde vermutlich auf den letzten Drücker fertiggestellt, denn darin befinden
sich gleich zwei dicke Fehler)
mit der jüdischen Totenwache vertraut, bei der ein sogenannter Shomer – zumeist
ein Verwandter, wie hier manchmal auch jemand, der dafür bezahlt wird – bis zum
Morgengrauen über den Körper des Verblichenen wacht und dabei hin und wieder
Psalme zitiert, betet und/oder religiöse Texte liest. Doch bevor es dazu in
"The Vigil" kommt, lernen wir den gramgeplagten
Protagonisten Jakov kennen, wobei zunächst noch unklar bleibt, warum er so traurig
ist und seine orthodoxe Gemeinde verlassen hat – Details dazu erfahren wir erst
nach und nach in kleinen Flashbacks. Thomas erledigt einen guten Job,
die nicht-jüdischen Zuschauer mit den Traditionen von Jakovs Gemeinde
bekanntzumachen, wobei es Jakovs Identifikationspotential sicherlich
zugutekommt, daß er gewissermaßen zwischen dieser selbstbezogenen, stark von strengen
religiösen Regeln geprägten Welt und jener von scheinbar unendlichen
Möglichkeiten und Freiheiten geprägten des durchschnittlichen New Yorkers
steht, die ihm und den anderen "Aussteigern" aus seiner
Selbsthilfegruppe noch neu ist. Jakov ist jemand, der durch ein
traumatisches Erlebnis beinahe jegliche Gewißheit seines alten Lebens verloren
hat und nun auf der Suche nach dem neuen Jakov in einer für ihn neuen und höchst
exotisch anmutenden Welt ist. Der bisher fast nur aus Minirollen bekannte Dave
Davis verkörpert diesen Suchenden sehr überzeugend, der tief in ihm sitzende Schmerz
ist ihm jederzeit anzusehen, doch merkt man ihm ebenfalls die Sehnsucht danach an,
neu anfangen zu können – vielleicht ja sogar zusammen mit der verständnisvollen
Sarah? "The Vigil" nimmt den jüdischen Hintergrund jedenfalls
lobenswert ernst (es wird auch viel Jiddisch gesprochen) und verwendet ihn
nicht nur als Hintergrund für einen generischen Horrorfilm, wie es etwa
bei "Lloronas Fluch" (mit einer mexikanischen Volkssage) oder auch "The Nun" (mit katholischem Hintergrund) geschah, zwei
Werken der jüngeren Vergangenheit, die wie "The Vigil" der
Blumhouse-Schmiede entstammen.
Thomas läßt sich Zeit dabei, dem Publikum Jakov und
seinen inneren Konflikt nahezubringen, weshalb die eigentliche Totenwache erst
nach einer halben Stunde beginnt – was angesichts der sehr kurzen
Netto-Laufzeit von gerade einmal 80 Minuten ziemlich spät ist. Die Totenwache
startet unspektakulär, selbst die ersten Merkwürdigkeiten dürften noch nicht
einmal Horrorfilm-Neulinge sonderlich beunruhigen. Und doch gelingt es Thomas, sachte an der Horrorschraube zu drehen, bis eine richtig schöne
Gruselatmosphäre entsteht. Das funktioniert auch deshalb, weil die Kamera
häufig so dicht an Jakovs Gesicht heranrückt, daß man angesichts des auf diese
Weise stark verengten Blickwinkels geradezu auf einen klassischen Jumpscare
wartet. Zu denen kommt es auch ein paar Mal, wobei es Thomas zum Glück nicht
damit übertreibt – dennoch hätte "The Vigil" diesen vergleichsweise
billigen und manipulativen Horror-Trick nicht nötig, zumal die Jumpscares
auch noch akustisch überhöht werden. Wohlgemerkt würde ich generell die Akustik
zu den Stärken von "The Vigil" zählen, denn die dissonante
Soundkulisse wie auch der sparsam eingesetzte, aber überraschend opulente
Score von Michael Yezerski ("The Devil's Candy") tragen ihren Teil zu
der schaurigen Atmosphäre bei – jedoch tragen sie phasenweise (und eben
besonders bei den Jumpscares) dicker auf als es nötig wäre. Das liegt
vermutlich auch ein wenig daran, daß der Mazzik als Bösewicht leider nicht so
richtig greifbar wird. Seine wenigen offenen Auftritte sind zwar effektiv
inszeniert und auch die Gestaltung des Dämons kann sich sehen lassen – nachvollziehbare Regeln, was genau der Mazzik eigentlich anrichten kann und was
nicht, werden jedoch kaum präsentiert.
Nicht nur wegen der Kürze von "The Vigil" wäre es
vielleicht eine Überlegung wert gewesen, die extrem kurzen Rückblicke auf die
Zeit, als sich der Mazzik des KZ-Überlebenden Mr. Litvak bemächtigte,
auszubauen; aber dafür wäre wohl ein höheres Budget vonnöten gewesen. Auch die
Frage, ob Jakov sich alles nur einbildet oder das, was ihm widerfährt, real
ist, hätte man stärker thematisieren können, denn natürlich ist es eine schöne
Metapher, daß Jakov sich erst mit einem sich von Furcht und emotionalem Schmerz
nährenden Dämon messen muß, ehe er vielleicht ein neues Leben beginnen kann.
Aus dem erzählerischen Potential der Prämisse von "The Vigil" hätte
Keith Thomas definitiv noch mehr herausholen können, stattdessen bewegt sich
sein Film in der zweiten Hälfte doch verstärkt in Richtung generischer Horrofilm, dessen
Schreckmomente ziemlich vorhersehbar sind (wenn auch fraglos gut gemacht). Der
Showdown schließlich ist sehr ansprechend in Szene gesetzt, wobei wie im ganzen
Film die clevere, viel mit Licht und Schatten spielende Ausleuchtung eine
wichtige Rolle spielt – doch in ihrer Kürze wirkt die finale Auseinandersetzung
trotzdem antiklimaktisch. Bei allem, was man kritisieren kann,
funktioniert "The Vigil" insgesamt aber doch ziemlich gut, weil er
aus seinem geringen Budget mit wenigen Schauplätzen und eigentlich nur einer
wirklich ausgestalteten, von Dave Davis dafür stark gespielten und in
ihrer betont unheroischen Verletzlichkeit sympathischen Figur viel
herausholt. Und besser als der x-te einfallslose Teenie-Slasher ist Thomas' Erstling sowieso …
Fazit: "The Vigil – Die Totenwache" ist ein
atmosphärisches Grusel-Kammerspiel, das trotz einiger generischer
Horrorelemente und im Kern recht simpler Story mit seiner ungewöhnlichen
Mischung aus Horrorfilm, jüdischer Mystik und Trauerdrama überzeugt.
Wertung: 7 Punkte.
"The Vigil – Die Totenwache" erscheint am 11. Februar 2021 von EuroVideo Medien auf DVD und Blu-ray, Bonusmaterial gibt es abseits des Trailers keines. Ein Rezensionsexemplar wurde mir netterweise vom Entertainment Kombinat zur Verfügung gestellt.
Screenshots: © EuroVideo Medien
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