Regie: Harry Bradbeer, Drehbuch: Jack Thorne, Musik: Daniel
Pemberton
Darsteller:
Millie Bobby Brown, Louis Partridge, Henry Cavill, Helena Bonham Carter, Adeel Akhtar, Sam
Claflin, Burn Gorman, Frances de la Tour, Susan Wokoma, Hattie
Morahan, David Bamber, Fiona Shaw
England, 1884: Enola Holmes (Millie Bobby Brown,
Netflix-Serie "Stranger Things") wächst bei ihrer exzentrischen
Mutter, der feministischen Aktivistin Eudoria (Helena Bonham Carter, "Big Fish"), auf, die sie weitestgehend von der Welt fernhält, sie aber
äußerst umfassend ausbildet. In der Nacht vor Enolas 16. Geburtstag
verschwindet Eudoria jedoch spurlos, weshalb sich ihre wesentlich älteren Brüder
Sherlock (Henry Cavill, "Mission: Impossible – Fallout") und Mycroft
(Sam Claflin, "Snow White and the Huntsman") um sie kümmern sollen,
die Enola allerdings seit vielen Jahren nicht mehr gesehen haben. Während
Meisterdetektiv Sherlock vor allem das Rätsel ihrer verschwundenen Mutter lösen
will, schickt Mycroft seine kleine Schwester gegen deren erklärten Willen in
ein Mädchenpensionat – weshalb Enola kurzerhand Reißaus nimmt, um selbst Eudoria zu suchen, die ihr geheime Botschaften zurückließ. Auf der Flucht
Richtung London trifft Enola im Zug zufällig auf einen weiteren Ausreißer in
ihrem Alter, den adeligen Lord Tewkesbury (Louis Partridge). Als sich
herausstellt, daß dieser von einem Mann (Burn Gorman, "Pacific Rim")
verfolgt wird, der ihn töten will, hilft Enola ihm …
Kritik:
Sir Arthur Conan Doyles berühmteste literarische Erfindung, Meisterdetektiv Sherlock Holmes, zählt zu den meistadaptierten Figuren der
Literaturgeschichte, wobei das Spektrum von relativ werktreuen Verfilmungen wie
der US-Kino-Reihe mit Basil Rathbone in den 1930er und 1940er Jahren (wobei es
mit der Werktreue vorbei war, als die USA in den Zweiten Weltkrieg eintraten,
denn dann wurde Sherlock Holmes zum Helden in der Gegenwart
spielender Propagandafilme) oder dem britischen "Der Hund von
Baskerville" (1959) mit Peter Cushing, der die Rolle 1968 in einer
TV-Serie erneut übernahm, bis zu mehr oder weniger freien, unkonventionellen Adaptionen wie
dem deutschen "Der Mann, der Sherlock Holmes war" (1937) mit Hans
Albers als sich als Sherlock Holmes ausgebendem Detektiv, Billy Wilders "Das Privatleben des Sherlock Holmes" (1970),
Herbert Ross' "Kein Koks für Sherlock Holmes" (1976) mit Nicol Williamson, Barry Levinsons
"Das Geheimnis des verborgenen Tempels" (1985; mit einem jugendlichen
Sherlock Holmes) oder Bill Condons "Mr. Holmes" (2015; mit Sir Ian
McKellen als altem und dementen Sherlock Holmes) reicht. Daß Doyles Geschichten
und Figuren auch im 21. Jahrhundert nichts von ihrer Anziehungskraft verloren
haben, zeigt der große Erfolg von Guy Ritchies actionreicher Hollywood-Kinoreihe
(ab 2009) mit Robert Downey Jr. als schlagkräftigem Meisterdetektiv sowie den langlebigen TV-Serien "Sherlock" (britisch, seit 2010) und
"Elementary" (USA, 2012-2019). Die unterhaltsame Netflix-Produktion "Enola
Holmes" – deren eigentlich vorgesehener Kinostart der Corona-Pandemie zum
Opfer fiel – bringt nun, basierend auf einer Romanreihe von Nancy Springer,
noch einmal eine andere Facette ins Thema hinein, indem Sherlock Holmes nur
eine Nebenrolle spielt und seine Teenager-Schwester Enola (die bei Doyle
nicht existiert) im Fokus steht – wenngleich die Serie
"Sherlock" in ihrer vierten Staffel ebenfalls eine Schwester
einführt, jedoch in einer deutlich düstereren Ausprägung.
Die Prämisse mit Sherlocks ähnlich brillanter kleinen
Schwester, die zunächst unwillig in ihren ersten eigenen Fall hineinstolpert, ist
zweifellos charmant, wiewohl erzählerisch nicht gerade bahnbrechend. Die
Verquickung von Enolas (und parallel Sherlocks) Suche nach ihrer Mutter mit dem
ausgerissenen und in Lebensgefahr befindlichen Lord Tewkesbury sorgt dafür, daß
beide Fälle nie wirklich in die Tiefe gehen und die detektivische Komponente
überhaupt erst in der zweiten Hälfte richtig zum Tragen kommt. Auf diese
Weise wirkt "Enola Holmes" inhaltlich eher wie ein typischer, mehr von leicht skurrilen Figuren als komplexen Kriminalfällen lebender
BBC-Schmunzelkrimi á la "Inspector Barnaby" oder "Death in
Paradise" als wie eine richtige Sherlock Holmes-Geschichte, aber da der
britische TV-Regisseur Harry Bradbeer ("Killing Eve",
"The Hour") seinen Film überwiegend temporeich inszeniert und vor
allem sehr passend besetzt hat, läßt sich das verkraften. Weil ich
"Stranger Things", jene Netflix-Hitserie, die Millie Bobby Brown
weltweit bekannt machte, noch nicht gesehen habe, war "Enola Holmes"
meine erste Begegnung mit der jungen britischen Aktrice, und ich bin durchaus
angetan. Zwar verlangt ihr die Rolle schauspielerisch keine Wunderdinge ab, Brown verkörpert sie jedoch mit genau der richtigen Mischung aus leicht
überheblichem Selbstbewußtsein, einer gewissen Verletzlichkeit und großem
Charisma. In anderen Worten: Enola Holmes ist eine
ausgezeichnete und gewitzte Identifikationsfigur für das Publikum, zu dem sie
übrigens des öfteren, wie beispielsweise auch "Deadpool" die sogenannte
vierte Wand durchbrechend, direkt spricht. Dabei ist Enola, ganz wie ihre
Brüder, keineswegs frei von Fehlern, wie man vor allem an ihrem anfänglich
genervten Verhalten gegenüber dem sympathischen jungen Lord Tewkesbury ablesen
kann – doch wenn es darauf ankommt, trifft sie die richtige Entscheidung, weil
sie ein gutes Herz hat. Und mit so jemandem fiebert man als Zuschauer doch gerne
mit!
Die übrigen Holmes-Familienmitglieder sind ebenfalls
glänzend besetzt: Helena Bonham Carter amüsiert als herrlich exzentrische und
geheimniskrämerische Mutter und Henry "The Witcher" Cavill gibt einen
überzeugenden Sherlock, der ziemlich egoistisch ist, sich aber doch eindeutig
zu seiner ihm fast unbekannten kleinen Schwester hingezogen fühlt und nebenbei
auch seinen detektivischen Spürsinn beweisen kann. Weniger gut kommt Sam
Claflin als ältester Bruder Mycroft weg, der zwar kein
Bösewicht ist, aber ziemlich arschig rüberkommt und wohl auch daher ständig schlecht gelaunt ist, weil er nicht an das Genie seiner Geschwister heranreicht und das genau weiß. Seine Rolle ist
aber sowieso ziemlich klein, was auch auf den hier vom
pakistanisch-kenianischstämmigen Briten Adeel Akhtar ("Four Lions")
verkörperten Inspector Lestrade zutrifft. Die primäre Schurkenrolle der
Geschichte (da man lange nicht weiß, wer der Drahtzieher ist) nimmt der
eiskalte Killer Linthorn ein, welcher Lord Tewkesbury und damit auch Enola
unerbittlich verfolgt – eine Paraderolle für den in Kino ("Crimson Peak", "Johnny English 2") und TV ("Torchwood",
"Game of Thrones", "The Expanse") vielbeschäftigten und
gerne als Bösewicht eingesetzten Burn Gorman. Die Actionszenen, darunter eine
Verfolgungsjagd im fahrenden Zug, sind gut in Szene gesetzt und die Dialoge
unterhalten die meiste Zeit über, so wie der ganze Film. Nur: Echte Höhepunkte
fehlen und die beiden Fälle werden, wie erwähnt, recht oberflächlich
abgehandelt; auch aus der Holmes-Familiengeschichte hätte man mehr
herausholen können – wobei das natürlich noch in der geplanten Fortsetzung
geschehen kann. Sein Potential schöpft "Enola Holmes" also vor allem
dank eines mittelmäßigen Drehbuches nicht aus, für zwei Stunden gelungene
Krimiunterhaltung reicht es aber allemal.
Fazit: "Enola Holmes" ist ein sympathisches
und glänzend besetztes Krimiabenteuer, das eine leider ziemlich mediokre
Geschichte unterhaltsam aufbereitet.
Wertung: Gut 7 Punkte.
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