Regie und Drehbuch: Joel und Ethan Coen, Musik: Carter
Burwell
Darsteller: Tim Blake Nelson, Clancy Brown, Willie Watson,
David Krumholtz, Tim DeZarn, Danny McCarthy; James Franco, Stephen Root, Ralph
Ineson, Michael Cullen; Liam Neeson, Harry Melling; Tom Waits, Sam Dillon; Zoe
Kazan, Bill Heck, Grainger Hines, Jefferson Mays; Brendan Gleeson, Jonjo
O'Neill, Saul Rubinek, Tyne Daly, Chelcie Ross
Eine der ersten prestigeträchtigen Netflix-Eigenproduktionen
im Filmbereich war diese namhaft besetzte Western-Anthologie von Joel und Ethan Coen
("True Grit"), die sechs inhaltlich nicht zusammenhängende und auch
stilistisch recht unterschiedliche Kurzgeschichten aus der Zeit des Wilden
Westens vereint. Da die Sammlung trotz einiger inhaltlicher Aufs und Abs der
etwa zwischen 15 und 25 Minuten langen Episoden sehenswert geriet und nicht zuletzt
wegen der genretypischen Breitwandbilder geradezu danach schreit, auf einer
großen Leinwand betrachtet zu werden, ist es sehr bedauerlich, daß kaum jemand
die Gelegenheit erhielt, ihn im Kino zu sehen (die neueren Netflix-Filme werden ja zumindest in ausgewählten Filmtheatern gezeigt), aber daran läßt sich
eben nichts ändern. Als Belohnung für Netflix' Mühen gab es dafür unter anderem
drei OSCAR-Nominierungen (Drehbuch, Kostüme, Filmsong).
Kritik:
"The Ballad of Buster Scruggs":
Nicht ohne Grund haben die Coens den Titel ihrer ersten
Kurzgeschichte auch gleich zum Titel des gesamten Films gemacht – denn sie ist
das unumstrittene Highlight der Anthologie und die Erzählung, die am besten den
berühmten skurrilen Humor der Coen-Brüder transportiert. Tim Blake Nelson ("O
Brother, Where Art Thou?") liefert eine herrliche Performance ab als stets
gut gelaunter singender Revolverheld, der sich der schnellsten Pistole im Wilden
Westen rühmt und nicht ansatzweise davor zurückschreckt, das wiederholt zu
beweisen. Die mit 17 Minuten leider relativ kurze Episode macht vom Anfang bis
zum Schluß einfach einen Heidenspaß, was ebenso an Nelsons leidenschaftlich
enthemmter Darbietung liegt wie am wunderbar schrägen Handlungsverlauf und drei richtig starken Songs – von denen "When a Cowboy Trades His Spurs for
Wings" eine OSCAR-Nominierung erhielt. Dazu gibt es Gastauftritte
von "Highlander"-Bösewicht Clancy Brown und "Numb3rs"-Star
David Krumholtz. Ein grandioser Auftakt!
10 Punkte.
"Near
Algodones":
James Franco ("Spring Breakers") spielt einen
Cowboy, der mitten im Nirgendwo eine Bank überfallen will – der Kassierer
(Stephen Root, "Ladykillers") erweist sich jedoch als erheblich wehrhafter
als gedacht. Damit beginnt für unseren Cowboy eine mehrtägige Achterbahnfahrt
der Gefühle, die so wunderbar absurd ist (und mit einem herrlichen kleinen Gag
endet), daß ich sie keinesfalls spoilern möchte. An die Auftaktepisode reicht
"Near Algodones" – in dem zudem Ralph Ineson ("The Witch")
auftritt – zwar nicht heran, bietet aber gute, amüsante Unterhaltung.
8 Punkte.
"Meal
Ticket":
Einen regelrecht brutalen Stimmungsumschwung gibt es mit der dritten
Episode, denn während zwar auch die ersten beiden Folgen bei all ihrem
Unterhaltungswert im Kern einen ziemlich zynischen und desillusionierten Blick auf
den Mythos "Wilder Westen" werfen, gibt es in "Meal Ticket"
überhaupt keinen Humor. Das wäre grundsätzlich kein Problem, wenn die
Geschichte anderweitig fesseln könnte. Doch obwohl Liam Neeson
("Tatsächlich … Liebe") als namenloser Schausteller, dessen einzige
Attraktion der arm- und beinlose Harrison (Harry Melling, "Die versunkene Stadt Z") ist, welcher mit großer Ausdruckskraft berühmte Gedichte
vorträgt, eine starke Vorstellung gibt, ist "Meal Ticket" zu monoton,
zu repetitiv und zu deprimierend, um gut zu unterhalten. Zugegeben, alleine
wegen der beiläufig-brutalen Konsequenz, mit der die Coens diese tragische
Geschichte erzählen, wird man sie nicht so schnell vergessen – aber für die
letztlich banale Botschaft, die sie vermittelt, ist sie viel zu lang und
ereignisarm geraten.
4 Punkte.
"All Gold
Canyon":
Die Musikerlegende Tom Waits ("7 Psychos") verkörpert
in dieser auf einer Kurzgeschichte von Jack London basierenden, weitgehend
dialogfreien Episode einen alten Goldgräber, der mitten in der unberührten
Wildnis auf eine Goldader stößt. Dies ist sicher die klassischste
Western-Story von "The Ballad of Buster Scruggs": geradlinig erzählt,
ohne viel Humor oder spektakuläre Storywendungen. Dafür gibt es eine entspannte
Atmosphäre, die dem Publikum viel Zeit läßt, um die grandiosen
Landschaftsaufnahmen sowie die klangvolle Musik von Carter Burwell ("Burn After Reading") zu genießen.
7 Punkte.
"The Gal Who Got Rattled":
Auch "The Gal Who Got Rattled" erzählt eine vergleichsweise normale Western-Geschichte, was vermutlich damit zusammenhängt, daß es
neben "All Gold Canyon" die einzige Episode ist, die auf einer
literarischen Vorlage basiert – in diesem Fall einer Kurzgeschichte
von Stewart Edward White. Zoe Kazan ("Ruby Sparks") spielt die junge
Alice, die mit ihrem großspurigen Bruder Gilbert (Jefferson Mays,
"Inherent Vice") in einem Treck auf dem Weg nach Oregon ist, wo sie
einen ihr unbekannten Geschäftspartner Gilberts heiraten soll. Auf der Reise kommt es zu etlichen unvorhergesehenen Ereignissen, welche auch dazu
führen, daß sich Alice und der schweigsame, aber attraktive Treckführer Billy
Knapp (Bill Heck, Netflix-Serie "Locke & Key") näherkommen. Viel
Humor gibt es auch hier nicht, allerdings scheint der typische Hang zur
Skurrilität der Coen-Brüder immer wieder durch. "The Gal Who Got
Rattled" mag nicht allzu originell sein, doch die Erzählung ist
einfühlsam gespielt und inszeniert und vermittelt in ihrer schicksalsergebenen Unaufgeregtheit
ein authentisches Western-Gefühl.
8 Punkte.
"The Mortal
Remains":
Nach zuerst zwei sehr amüsanten und dann drei weitgehend
ernsten Episoden wird es zum Schluß wieder etwas humorvoller. "The
Mortal Remains" erzählt von einer Kutschfahrt, deren sehr
unterschiedliche Passagiere sich während der langen Reise etwas besser
kennenlernen. Mrs. Betjeman (Tyne Daly, "Spider-Man: Homecoming") ist
eine fromme Dame, die nur wenig angetan ist von ihrem Sitznachbarn, einem
schmutzigen und sich wenig vornehm verhaltenden Trapper (Chelcie Ross,
"Drag Me to Hell"). Mit von der Partie sind außerdem der
philosophisch veranlagte Franzose René (Saul Rubinek, "Barney's Version") und gleich zwei Kopfgeldjäger: der galante Engländer Thigpen (Jonjo
O'Neill, "Unbeugsam") und der zumindest äußerlich eher
grobschlächtige Ire Clarence (Brendan Gleeson, "The Guard"). Im Lauf
der Fahrt erfahren wir durch die Gespräche einiges über das vom Schicksal
zusammengewürfelte Quintett, wobei vor allem die Geschichte der Kopfgeldjäger nicht nur ihren Mitreisenden viel Stoff zum Nachdenken liefert …
Für den Abschluß von "The Ballad of Buster Scruggs" mag "The
Mortail Remains" überraschend unspektakulär und dialoglastig geraten sein,
aber die Dynamik zwischen den Reisenden ist spannend und die mal amüsanten, mal
hintersinnigen Dialoge sind interessant – und Brendan Gleeson darf mit einem
melancholischen irischen Volkslied seine Sangeskünste zum Besten geben. Ein
gelungenes, nachdenkliches Ende.
7,5 Punkte.
Fazit: "The Ballad of Buster Scruggs" ist
eine schrullige, aber im Kern erstaunlich grimmige Western-Anthologie mit gutem
durchschnittlichen Niveau, aus dem ein Höhe- und ein Tiefpunkt deutlich
hervorstechen.
Wertung: Der Durchschnitt meiner Einzelwertungen der
Episoden beträgt knapp 7,5 Punkte, das scheint mir auch angemessen.
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