Regie: Ben Chanan, Drehbuch: Jack & Harry Williams,
Musik:
Darsteller: Tchéky Karyo, Keeley Hawes, David Morrissey,
Laura Fraser, Abigail Hardingham, Jake Davies, Roger Allam, Florian
Bartholomäi, Derek Riddell, Anastasia Hille, Lia Williams, Filip Peeters,
Ólafur Darri Ólafsson, Daniel Ezra, Brian Bovell, Bernhard Schütz, Chelsea Edge, Stefan
Schönenberg, Tobias Schönenberg, Indica Watson, Camille Schott,
Fabrice Rodriguez, Sebastian Urbanski, Nabil Elouahabi, Lena Lauzemis, Cela
Yildiz
Kritik:
Als die Brüder Jack und Harry Williams die ungewöhnlich
komplexe Thriller-Serie "The Missing" schufen, wurde die
grimmig-realistische Geschichte über die mannigfaltigen Auswirkungen des
spurlosen Verschwindens eines Kindes 2014 in Großbritannien zu einem großen
Kritiker- und Publikumserfolg (anders als im deutschen TV, wo sie auf
bedauerlich wenig Interesse stieß). Zwei Jahre später kehrte die Serie mit
einer zweiten Staffel zurück, die versuchte, den Stil und die Stärken der
ersten beizubehalten, dabei aber trotzdem ganz anders daherzukommen. Das ist
weitestgehend geglückt, auch wenn diese zweite Staffel nach einem ganz starken
Auftakt in meinen Augen doch abbaut und somit insgesamt einen Tick
schwächer ausfällt. Großartige, anspruchsvolle Fernsehunterhaltung bleibt
"The Missing" aber, was in Großbritannien übrigens erneut
honoriert wurde. Eine dritte Staffel ist deshalb eigentlich Formsache,
allerdings wollen die Williams' sie löblicherweise erst realisieren, wenn sie eine richtig
gute Storyidee haben – und da sie sich zwischenzeitlich mit dem rückwärts erzählten "Rellik"
einer ganz neuen Serie widmeten, steht der Zeitpunkt
der Rückkehr von "The Missing" Ende 2017 immer noch in den Sternen.
Das ist aber natürlich so oder so Zukunftsmusik, also widmen
wir uns erstmal genauer Staffel 2. Vieles ist neu,
denn aus dem Personal der ersten Staffel kehren lediglich der routinierte, leicht
obsessive französische Ermittler Julien Baptiste sowie in Nebenrollen dessen
Ehefrau und Tochter zurück. Das ergibt Sinn und ist konsequent, denn
weitere bekannte Figuren in die Handlung einzubinden, hätte das Drehbuch zwangsläufig arg konstruiert erscheinen lassen. Aber mit Julien haben wir
sogleich eine liebgewonnene Identifikationsfigur, die zwar eigentlich
im Ruhestand ist, es aber ganz im Sinne von "Der Pate, Teil III"
("Gerade als ich dachte, ich bin raus, ziehen sie mich wieder rein")
durch die Verbindung von Alice zu seinem alten Sophie
Giroux-Fall – der wahrlich nicht zu den Highlights seiner langen Karriere zählt –
nicht lassen kann, wieder zu ermitteln. Diesmal allerdings komplett als
Privatperson und bestenfalls toleriert von der deutschen Polizei und der
britischen Militärpolizei (die schon genügend damit zu tun haben, die höchst ungewöhnliche gemeinsame Ermittlung halbwegs harmonisch zu gestalten).
Lediglich der junge, aber talentierte und sehr engagierte deutsche Polizist
Jörn Lenhart (Florian Bartholomäi, "Rubinrot") arbeitet gerne inoffiziell eng mit dem
erfahrenen Julien zusammen.
Auffällig ist, daß die Prämisse von "The Missing
2" beinahe das Gegenteil der ersten Staffel darstellt:
War es damals das Verschwinden eines Kindes, das das Leben einer
Familie (und anderer direkt oder indirekt Beteiligter) schwer beeinträchtigte, ist es nun ironischerweise das Wiederauftauchen eines
verschwundenen Kindes, das unerwartet eine ganz ähnliche Wirkung zeitigt. Denn
anders als die Hughes', die als Familie als Folge der Tragödie zerbrachen,
haben die Websters den Verlust ihrer Tochter gemeinsam so gut verarbeitet, wie
das wohl nur möglich ist; sie sind eine intakte Familie geblieben. Als Alice
zurückkehrt, ändert sich das. Wie genau, das erfahren wir erst
nach und nach, denn beibehalten haben die Williams' die verschiedenen
Zeitebenen, zwischen denen die Handlung immer wieder hin- und herwechselt.
Insgesamt gibt es etwa ein halbes Dutzend, das meiste konzentriert sich jedoch
auf die Jahre 2014 – als Alice zurückkehrt – und die Gegenwart (also 2016).
Zwei Jahre sind also nur vergangen, die sich aber auf alle Beteiligten negativ
niedergeschlagen haben. Erneut gelingt es den Williams' großartig, die Zuschauer
mit immer neuen Fragen und Hinweisen zu ködern, die Spannung ungemein hoch zu
halten und mit kaum vorhersehbaren, aber rückblickend in den meisten Fällen sehr sinnvollen Wendungen genau aufs Herz des Publikums zu zielen. Kurzum: In der
ersten Hälfte der wiederum acht Episoden umfassenden Staffel ist "The
Missing 2" nah an der Perfektion!
Dazu trägt auch der im Vergleich zu Staffel 1 noch einmal gesteigerte Abwechslungsreichtum der Schauplätze
bei. Speziell der Ausflug des inzwischen gesundheitlich recht angeschlagenen Julien in den
Irak in der Gegenwart, wo er eine Person sucht, die er für eine Schlüsselfigur
in den Fällen von Alice und Sophie hält, macht richtig Laune. Er sorgt (ohne
es zu übertreiben) für Action, da Julien und sein Begleiter – der erfahrene
Kriegsreporter Stefan Andersen (Ólafur Darri Ólafsson, "Ruhet in Frieden - A Walk Among the Tombstones") – an den
Rand des heftig umkämpften IS-Gebietes reisen müssen, bringt aber tatsächlich wichtige, teils schockierende Antworten ein. So ist es sicher kein
Zufall, daß die Qualität der Staffel nachläßt, kurz nachdem Julien wieder
zurück in Deutschland ist. Das ist natürlich nicht der einzige Grund,
schließlich funktioniert Julien auch in relativ vertrautem Gebiet wunderbar mit
seinem Scharfsinn, seiner unbelehrbaren Besessenheit und dem eher mäßig
ausgeprägten Gespür für Diplomatie sowohl gegenüber den Websters als auch den
deutschen und britischen Polizisten. Das Problem ist vielmehr, daß man nach
Juliens Irak-Ausflug bereits sehr viel über die wahren Hintergründe der Entführungsfälle
ahnt oder sogar weiß, die halbe Staffel aber noch vor einem liegt. Spätestens
nach der fünften Folge bleibt dann neben einigen Details nur noch die Frage
offen, wie man den oder die Täter überführt und ob man das verbleibende Opfer
lebendig findet. Das ist bei weitem keine katastrophale Entwicklung, denn auch so und
obgleich man als Zuschauer wegen des Gesamtüberblicks mehr weiß als die
erfahrenen Ermittler, halten das Drehbuch der Williams-Brüder und Ben Chanans kluge, die verschiedenen Zeitebenen gut unterscheidbar gestaltende Regie Spannung
und Interesse hoch und führen das Publikum schließlich zu einem
hochgradig emotionalen Finale. Doch im direkten Vergleich kann die zweite
Staffelhälfte (und in der Folge die gesamte Staffel) nicht mit dem ersten
Durchgang der Serie mithalten, die buchstäblich bis zur letzten Einstellung
hochdramatisch blieb.
Die Besetzung von "The Missing 2" ist dafür in der
Breite vielleicht sogar noch etwas besser als die bereits exzellente der ersten
Staffel, allerdings reicht niemand an die fiebrige Intensität von James
Nesbitts verzweifeltem Vater Tony Hughes heran. Dessen emotionale Position in
der Story übernimmt in der zweiten Staffel in gewisser Weise Julien
Baptiste, der somit auch vom sekundären zum primären Protagonisten aufsteigt.
Er steht nun klar im Zentrum der Handlung und im Zusammenhang mit seinem
gesundheitlichen Zustand agiert er gefühlsgetriebener als zuvor. Das
steht ihm aber gut, zumal die Konflikte mit den anderen Personen stark
geschrieben und gespielt sind. Speziell "Breaking Bad"-Darstellerin Laura Fraser gibt als Militärermittlerin Sergeant Eve Stone einen
gleichwertigen Widerpart ab, aber auch Alices von Ex-"The Walking Dead"-Antagonist David Morrissey überzeugend
verkörperter aufbrausender Vater Sam Webster wird vom unnachgiebigen Julien
immer wieder an den Rand des Wahnsinns getrieben. Auf der anderen Seite
entwickelt sich neben dem deutschen Polizisten Jörn Lenhart vor allem Alices Mutter Gemma
zu einer wichtigen Verbündeten Juliens, wobei Keeley Hawes die von Zweifeln und
Selbstvorwürfen geplagte, aber unter der Oberfläche bewunderswert starke Frau
mit jener Einfühlsamkeit, Intensität und Nuanciertheit verkörpert, die Liebhaber britischer TV-Serien seit mindestens 15 Jahren von ihr gewohnt sind. Eine
echte Entdeckung ist Abigail Hardingham, die die innere Zerrissenheit und
latente Traurigkeit des wiederaufgetauchten, aber traumatisierten
Entführungsopfers mit bemerkenswerter Ausdrucksstärke vermittelt. Einige
recht interessante Nebenfiguren kommen dagegen – eine Parallele zur ersten Staffel –
relativ kurz, darunter das deutsch-britische Ehepaar Herz (Filip Peeters aus
"Loft" und Lia Williams aus "The Foreigner") und Alices Bruder Matthew, der nach der Rückkehr seiner Schwester an ziemlich fragwürdige neue
Freunde gerät.
Bei meiner Rezension der ersten Staffel hatte ich ja aufgrund der
multinationalen Handlung und Besetzung der englischen Sprache mächtigen
Zuschauern zur Originalfassung geraten (bei der deutschen
Heimkinoveröffentlichung gibt es in beiden Staffeln englische Untertitel). Eigentlich gilt das auch für Staffel 2, die von den Williams-Brüdern ganz bewußt erneut sehr international konzipiert wurde; allerdings gibt es dieses
Mal eine kleine Einschränkung, denn dadurch, daß ein Großteil der Handlung in
Deutschland spielt, jedoch in Belgien gedreht wurde, sind einige deutsche Neben-
und Statistenrollen mit Belgiern besetzt. Die sprechen zwar ausnahmslos
gutes bis hervorragendes Deutsch, allerdings bleibt Muttersprachlern der Akzent
trotzdem nicht verborgen. Das stört nicht wirklich, fällt aber schon auf,
weshalb die entsprechenden Dialoge in der deutschen Fassung synchronisiert
wurden und sich somit harmonischer in das Gesamt-Sprachbild einfügen.
Andererseits hat die deutsche Synchronfassung dafür mit einem vor allem aus im
Zweiten Weltkrieg spielenden englischsprachigen Produktionen
altbekannten Problem zu kämpfen: Dadurch, daß die
englischen Dialoge deutsch synchronisiert wurden, sind etwaige Verständnisprobleme
zwischen englisch- und deutschsprachigen Figuren schwer zu vermitteln – denn
in der Synchronfassung sprechen die ja alle deutsch. Interessanterweise gibt es
auch gelegentlich Unterschiede in den Dialogen deutscher Figuren, die in
beiden Sprachfassungen vom echten Schauspieler gesprochen werden: So
kommentiert beispielsweise der von Bernhard Schütz gespielte Polizeichef Engel
im Original einen emotionalen Ausbruch Juliens mit einem verächtlichen
"verrückter alter Spinner", während er in der Synchronfassung ein
neutraleres und langweiligeres "Ich versteh' kein Wort"
von sich gibt (weil Julien ihn hier ja verstehen müßte, wenn er Deutsch spricht). Letztendlich rate ich daher auch in der zweiten Staffel dazu,
nach Möglichkeit die Originalfassung zu genießen – zumal leider etliche
Darsteller (speziell Hawes, Morrissey und Fraser; Karyo übrigens auch, aber das
war ja schon in der ersten Staffel der Fall) nicht von ihren
Stammsprechern vertont werden, auch wenn ihre Vertreter einen guten Job machen (soweit ich das anhand meiner Stichproben beurteilen kann). Außerdem
lohnt sich die Originalfassung schon wegen Tchéky Karyos wunderbarem
französischen Akzent (der in der Synchronfassung komplett fehlt) … So oder so: Hauptsache anschauen, denn "The Missing" bleibt trotz des leichten Abschwungs gegen Ende auch in seiner zweiten Staffel erstklassige TV-Unterhaltung!
Fazit: Die zweite Staffel von "The Missing"
bietet wiederum britische Thriller-Unterhaltung auf hohem Niveau, wenn sie auch
aufgrund einer nach grandiosem Auftakt ein wenig schwächeren zweiten Hälfte einen
Tick hinter der ersten Staffel zurückbleibt.
Wertung: Knapp 8,5 Punkte.
Staffel 2 von "The Missing" ist am 29. September
2017 von Pandastorm Pictures auf DVD und Blu-ray veröffentlicht worden. Das
Bonusmaterial umfaßt den Trailer und ein gut 40-minütiges "Behind the
Scenes"-Featurette, das jedoch phasenweise arg nacherzählend ausgefallen
ist – wirklich interessante Einblicke gibt es vorwiegend von den beiden
Serienschöpfern Jack und Harry Williams. Das Rezensionsexemplar wurde mir
freundlicherweise von Glücksstern-PR zur Verfügung gestellt.
Bei Gefallen an meinem Blog würde ich mich über die Unterstützung von "Der Kinogänger" mittels etwaiger Bestellungen über einen der amazon.de-Links in den Rezensionen oder über das amazon.de-Suchfeld oder das jpc-Banner in der rechten Spalte freuen, für die ich eine kleine Provision erhalte.
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