Originaltitel:
Murder on the Orient Express
Regie: Sir Kenneth Branagh, Drehbuch: Michael Green, Musik: Patrick
Doyle
Darsteller: Sir Kenneth Branagh, Johnny Depp, Michelle
Pfeiffer, Tom Bateman, Daisy Ridley, Leslie Odom Jr., Dame Judi Dench, Willem
Dafoe, Penélope Cruz, Sir Derek Jacobi, Josh Gad, Olivia Colman, Manuel
Garcia-Rulfo, Lucy Boynton, Sergei Polunin, Marwan Kenzari
FSK: 12, Dauer: 114 Minuten.
Nachdem er 1934 den Diebstahl einer Reliquie in Jerusalem
aufgeklärt hat, will der belgische Meisterdetektiv Hercule Poirot (Sir Kenneth
Branagh, "Jack Ryan") mit dem legendären Orient-Express –
dessen Direktor sein Freund Bouc (Tom Bateman, TV-Serie "Da Vinci's Demons") ist – in Richtung London
fahren, wo ihn bereits der nächste Fall erwartet. Als ihn im Zug der
zwielichtige amerikanische Kunsthändler Edward Ratchett (Johnny Depp, "Lone Ranger") zu seinem Schutz anheuern will, weil er bedroht wird, lehnt Poirot
dankend ab. Doch als Ratchett am nächsten Morgen ermordet in der Kabine
aufgefunden wird, ist selbstredend die Expertise des Detektivs gefragt – zumal
der Zug von einer Schneelawine getroffen wurde und nun vorerst festsitzt,
bis Hilfe eintrifft. Also befragt Poirot die ein Dutzend Mitreisenden im Waggon,
denn einer von ihnen muß nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit der Mörder sein. Ist es der
rassistische österreichische Professor Hardman (Willem Dafoe, "Grand Budapest Hotel")? Der schwarze Arzt Dr. Arbuthnot (Leslie Odom Jr., TV-Serie "Person of Interest")? Die
spanische Missionarin Pilar (Penélope Cruz, "Vicky Cristina Barcelona")? Oder die reiche amerikanische Witwe Caroline Hubbard (Michelle Pfeiffer,
"mother!")?
Kritik:
Seit 40 Jahren ist die britische Krimi-Autorin Agatha
Christie inzwischen tot, doch offensichtlich ziehen ihre Geschichten noch
immer weltweit das Publikum an. Klar, das britische Fernsehen sorgt mit
regelmäßigen Adaptionen als TV-Film, Miniserie oder langlaufende Reihe dafür,
daß Christie nicht in Vergessenheit gerät – aber wer hätte schon gedacht, daß
ein so oft adaptierter Stoff wie "Mord im Orient Express" im Jahr
2017 zu einem globalen Kinohit werden würde? Zu verdanken ist das
Shakespeare-Experte Sir Kenneth Branagh, der nicht nur die Regie, sondern
gleich noch die Hauptrolle des exzentrischen belgischen Detektivs Poirot
übernahm, der fast so berühmt für seinen kunstvollen Schnurrbart wie für
sein meisterhaftes kriminalistisches Gespür ist. Denn Branagh ist das Kunststück
gelungen, die inzwischen doch ein bißchen altbacken wirkende Krimigeschichte behutsam zu
modernisieren und zu variieren, ohne die Kernelemente anzutasten. Um das klar
zu sagen: Dieser "Mord im Orient Express" ist ein typischer Fall von
"style over substance" – das wird naturgemäß nicht jedem gefallen,
ist in meinen Augen aber hier genau die richtige Entscheidung gewesen.
Dafür gibt es vor allem zwei Gründe: Erstens ist die
Auflösung des Mordes an Mr. Ratchett – die, als Agatha Christie sie ersann,
geradezu revolutionär war – heutzutage für jeden, der sich gelegentlich eine
amerikanische oder britische Krimiserie á la "C.S.I.",
"Criminal Minds" oder "Sherlock" anschaut, zumindest in ihren Grundzügen früh zu erahnen. Zweitens ist die Story eben durch die
bisherigen, teils sehr erfolgreichen Verfilmungen vielen potentiellen
Zuschauern bereits bekannt. Speziell Sidney Lumets OSCAR-gekrönte Version von
1974 (mit Albert Finney, Ingrid Bergman, Lauren Bacall, Sean Connery, Vanessa
Redgrave und Richard Widmark) gilt als Klassiker, aber auch die britische
TV-Adaption aus dem Jahr 2009 innerhalb der "Poirot"-Reihe mit
Titeldarsteller David Suchet hat viele Anhänger. Daher halte ich es für einen
schlauen Ansatz, Poirots für heutige Krimifans nicht allzu spannende oder
anspruchsvolle Ermittlungen speziell im Vergleich zu Lumets (in meinen Augen gerade deshalb recht langweiligem) Film ein wenig in
den Hintergrund zu rücken und neben der eindrucksvollen handwerklichen
Gestaltung vor allem die ziemlich schillernden Charaktere in den Mittelpunkt
des Films zu stellen. Da sich die Starbesetzung vor der aus Sidney Lumets Film nicht
verstecken muß, ist es sowieso eine gute Idee, den Schauspielern etwas mehr
Raum zum Glänzen zu geben – denn der ist ob der schieren Anzahl von
Verdächtigen sowieso arg knapp bemessen.
Wer bezüglich des Täters trotz allem total im Dunkeln tappen
sollte, der erhält immerhin auch durch die Gewichtung der einzelnen
Verdächtigen keinen zusätzlichen (ungewollten) Hinweis, denn Branagh und Drehbuch-Autor Michael Green ("Logan") achten penibel darauf,
niemanden deutlich zu bevorzugen. Dieser "Mord im Orient Express" ist
ein wahrer, übrigens betont divers besetzter (und wegen des zeitlichen Settings folgerichtig
das Thema Rassismus berührender) Ensemblefilm, aus dem wenig überraschend einzig
Hercule Poirot selbst herausragt. Der wird von Branagh etwas abweichend von
der Vorlage und den früheren Poirot-Darstellungen, aber mutmaßlich
realistischer portraitiert. Denn wo Poirot bei Christie als egozentrisch
beschrieben wird und von seinem berühmtesten Darsteller Sir Peter Ustinov in
insgesamt sechs Filmen eher als schlitzohriger Exzentriker rüberkam, legt ihn Branagh
als genialen, von Zwangsneurosen geplagten Autisten an. Ob das unbedingt nötig war, darüber kann man sicherlich streiten, denn wo
sein merkwürdiges Verhalten im vergnüglichen Prolog in Jerusalem – der
Persönlichkeit und Fähigkeiten Poirots gekonnt in Windeseile etabliert – noch eine
große Rolle spielt, gerät es fortan so stark in den Hintergrund, daß es kaum
noch auffällt. Richtig konsistent ist das nicht, aber vielleicht wird man ja
in der bereits bewilligten Fortsetzung "Tod auf dem Nil" stärker
darauf eingehen. Gut gefällt mir hingegen jener Hauch von Melancholie, der
Branaghs Poirot bei aller Exzentrik und Genialität stets umweht. Unter den
Verdächtigen stechen am ehesten Michelle Pfeiffer als schroffe Witwe
Caroline und "Star Wars"-Heroine Daisy Ridley als Kindermädchen Mary, das sich offensichtlich zu Dr. Arbuthnot hingezogen fühlt,
hervor. Branagh gönnt jedem seinen besonderen Moment – dennoch wünschte
man, Schauspieler vom Kaliber einer Dame Judi Dench ("Skyfall", als
russische Prinzessin Dragomiroff), Sir Derek Jacobi ("Anonymus", als Ratchetts Diener Masterman) oder Willem Dafoe hätten etwas mehr zu tun.
Nettes Detail am Rande für Zuschauer der Originalfassung: Es gibt einen kurzen
Dialog zwischen Poirot und Prinzessin Dragomiroffs Dienstmädchen Hildegard
Schmidt (die Britin Olivia Colman aus den TV-Serien "Broadchurch" und
"The Night Manager"), in dem beide gutes Deutsch sprechen – der
belgische Meisterdetektiv allerdings deutlich akzentfreier als die deutsche
Bedienstete …
Im Vergleich zu Agatha Christies Büchern sowie früheren Adaptionen
zieht Branagh auch das Tempo ein wenig an – es gibt mehr Action und mehr, nunja, pikante Details, wobei sich das allerdings immer noch in sehr engen Grenzen hält.
Agatha Christie-Puristen werden die sachte Modernisierung vermutlich trotzdem
mindestens skeptisch sehen, aber ganz ehrlich: Es gab in den letzten Jahrzehnten
so viele mehr oder weniger vorlagentreue Umsetzungen, da sind ein paar
Änderungen durchaus angeraten, wenn man noch genügend Zuschauer hinter dem Ofen
hervorlocken will. Das erreicht Branagh auch, indem er eher die Emotionen als
den Verstand des Publikums anspricht – was dank der dramatischen Hintergründe,
die Poirot nach und nach über den Mordfall aufdeckt, einwandfrei funktioniert. Und
keine Sorge: Dermaßen radikal wie Guy Ritchie bei seinen "Sherlock Holmes"-Filmen geht Kenneth Branagh bei weitem nicht vor! Er setzt
vorwiegend auf Stil und auf die Charaktere, wobei wie erwähnt die handwerkliche
Seite eine bedeutende Rolle spielt. Zugegeben, einige Außenaufnahmen des Zuges in
winterlicher Landschaft sind relativ leicht als computergeneriert zu erkennen –
trotzdem sehen sie toll aus! Zudem protzt dieser "Mord im Orient Express"
mit exquisiten Kostümen und einer beseelten Kameraführung des Zyprioten Haris
Zambarloukos ("Cinderella"), der nicht nur wunderschöne
Panoramen einfängt, sondern im Zug mit langen Einstellungen für intime Momente
sorgt, wenn er einzelnen Passagieren auf ihrem Weg durch die engen Zugflure
folgt oder beinahe tänzerisch von Person zu Person springt, immer
wieder elegant die Perspektive wechselnd. Wie gesagt, Branaghs Devise ist hier
relativ eindeutig: Stil über Substanz – aber wenn schon, dann richtig!
Fazit: Kenneth Branaghs "Mord im Orient
Express" ist eine etwas oberflächlichere, aber sehr stilvolle, emotionale
und stark besetzte Neuverfilmung des Agatha Christie-Klassikers, dessen sachte
Modernisierung Puristen verärgern dürfte, aber insgesamt gut funktioniert.
Wertung: 7,5 Punkte.
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