Regie und Drehbuch: Kenneth Lonergan, Musik: Lesley Barber
Darsteller: Casey Affleck, Lucas Hedges, Michelle Williams:
Kyle Chandler, C.J. Wilson, Anna
Baryshnikov, Gretchen Mol, Matthew Broderick, Heather Burns, Tate Donovan, Kara Hayward, Oscar Wahlberg, Josh Hamilton, Stephen
McKinley Henderson, Kenneth Lonergan
FSK: 12, Dauer: 138 Minuten.
Als sein älterer Bruder Joe (Kyle Chandler,
"Carol") stirbt, kehrt der in Boston als Hausmeister tätige Lee
Chandler (Casey Affleck aus "Die Ermordung des Jesse James durch den Feigling Robert Ford") in seinen Heimatort Manchester-by-the-Sea im Bundesstaat
Connecticut zurück, um sich um alles zu kümmern. Das betrifft allem voran Joes
16-jährigen Sohn Patrick (Lucas Hedges, "Kill the Messenger"), denn
dessen labile Mutter Elise (Gretchen Mol, "Todeszug nach Yuma") ist vor
Jahren verschwunden, sodaß Patrick außer entfernteren Verwandten und Joes
bestem Freund George (C.J. Wilson, "Demolition") nur noch Lee hat, zu
dem er seit seiner Kindheit ein enges Verhältnis hat. Das ist auch der
Grund dafür, daß Joe in seinem Testament seinen jüngeren Bruder ohne dessen Wissen zu
Patricks neuem Vormund bestimmt hat. Lee, ein verschlossener und einzelgängerischer
Mensch, wird davon komplett überrumpelt, zumal er dafür wohl nach Manchester
zurückziehen müßte – in einen Ort, in dem es für ihn geradezu wimmelt vor Dämonen
aus seiner Vergangenheit. Einer dieser "Dämonen" ist seine Ex-Frau
Randi (Michelle Williams, "My Week with Marilyn") …
Kritik:
Nein, eines kann man Kenneth Lonergan in seiner Funktion als
Regisseur ganz bestimmt nicht vorwerfen: daß er ein Fließband-Filmemacher ist
(als Autor war er um die Jahrtausendwende herum hingegen sehr fleißig, innerhalb von drei Jahren war er an den Drehbüchern zu "Reine Nervensache",
"Die Abenteuer von Rocky und Bullwinkle" und Scorseses
"Gangs of New York" beteiligt). "Manchester by the Sea" ist
gerade einmal die dritte Regiearbeit des 54-Jährigen, jedoch wurde jeder dieser
drei in einem Zeitraum von 16 Jahren erschienenen Filme mit Preisen überhäuft.
Ganz besonders gilt das für sein Debüt "You Can Count on Me" aus dem
Jahr 2000, die Geschichte einer von Laura Linney gespielten
alleinerziehenden Mutter und ihres jüngeren Bruders, die für zwei OSCARs
nominiert wurde. Erst elf Jahre später brachte Kenneth Lonergan "Margaret" in
die Kinos, ein Drama mit Anna Paquin über die Nachwehen eines Busunglücks, das
trotz Kritikerlob kaum öffentliche Aufmerksamkeit erhielt. Das ändert
sich mit "Manchester by the Sea". Lonergans bisheriger
Karriere-Höhepunkt ist ein im Arbeitermilieu angesiedeltes und mit großer Empathie
geschriebenes und in Szene gesetztes Familien- und Trauerdrama, das keinen
Zuschauer unberührt lassen dürfte und mit sechs OSCAR-Nominierungen belohnt
wurde.
Im Zentrum der Geschichte steht natürlich der von Casey
Affleck bravourös verkörperte Lee. Wir lernen ihn als einen
ambivalenten, anfangs ziemlich rätselhaften Menschen kennen, der die meiste
Zeit über gelassen bis stoisch agiert und reagiert, nur um gelegentlich
doch wütend aus der Haut zu fahren. Dieses Verhalten bildet einen besonders
auffälligen Kontrast zu den immer wieder eingeschobenen, aus Lees Erinnerungen
gespeisten Rückblenden zu viel glücklicheren Zeiten, die Lee etwa zehn Jahre zuvor
mit seinem großen Bruder Joe und dessen kleinem Sohn Patrick zeigen.
Selbstverständlich gibt es einen nachvollziehbaren Grund für Lees
so auffällige charakterliche Wandlung seit jener Zeit, den wir relativ schnell erfahren:
Lee hat ein großes, selbstverschuldetes Trauma erlebt, das ihn letztlich weg
aus seiner Heimat und nach Boston vertrieb, sein ganzes Leben in einen
überdimensionierten Umhang aus Schuld, Bedauern und Trauer gehüllt. Mit diesem
Wissen können wir Lees Verhalten besser verstehen: Offensichtlich
hat die Erinnerung an seine unaustilgbare Schuld neben einer permanenten
Traurigkeit auch große Wut und Verzweiflung in ihm aufgestaut, die er unter
einer gut gestalteten, doch sehr brüchigen Maske unberührbarer Gelassenheit
verbirgt. In Alltagssituationen klappt das in der Regel gut, doch sobald ihm
jemand zu lange auf die Nerven geht – oder er wieder einmal das Vergessen auf dem
Grund mehrerer Bierflaschen sucht –, bricht es aus ihm heraus. Wobei die
Vermutung naheliegt, daß er es in einem verzweifelten Akt der Selbstkasteiung darauf anlegt, verprügelt oder anderweitig bestraft zu werden.
Lees Leben als Hausmeister in Boston ist also ziemlich
trostlos, Aussicht auf Besserung gibt es nicht – schon, weil Lee es darauf gar
nicht anzulegen scheint. Doch dann stirbt sein Bruder und überträgt ihm die
Verantwortung für den inzwischen zu einem Teenager herangewachsenen Patrick. Nein,
ein perfekter Vormund sieht sicher nicht so aus wie der wütende Trauerkloß Lee.
Und doch ist die neue, ungewollte Aufgabe (noch erschwert durch eine nicht übermäßig rosige finanzielle Situation) vielleicht der beste oder sogar der einzige
Weg für den Traumatisierten, um wieder aus jenem tiefen Tal herauszufinden, in
dem er sich eingebuddelt hat. Vielleicht war das sogar der Grund für Joes
überraschende Wahl, vielleicht ahnte oder hoffte er zumindest, daß der Teenager
Patrick – der nach außen hin ebenfalls eine Maske trägt, nämlich die der Gefaßtheit, sogar Sorglosigkeit, die passenderweise nur Lee hin und wieder zu
durchdringen vermag – und der gebrochene Erwachsene Lee sich gegenseitig
helfen könnten. Tatsächlich ist das Verhältnis zwischen den beiden zwar
keineswegs frei von Problemen, der ungezwungene, im Kern immer innige und
sogar latent humorvolle Umgang der beiden miteinander wird jedoch schnell zum Herz
einer Geschichte, die viel mehr Wert auf die Figuren und ihr Seelenleben legt
als auf eine klassische Handlung.
Angesichts dessen ist es natürlich mehr als vorteilhaft, daß
Lonergan ein sehr feines Gespür für die von ihm geschaffenen und perfekt
besetzten Charaktere hat, sie außerdem mit ebenso realitätsnahen wie pointierten
Dialogen versorgt. Tatsächlich darf ich sogar konstatieren, daß ich selten
zuvor Filmfiguren erlebt habe, die so stark aus dem wahren Leben gegriffen
wirken wie es bei Lee, Patrick, Randi und den anderen Bewohnern von Manchester
und Boston der Fall ist. Gerade Personen aus dem Arbeitermilieu wirken in
amerikanischen Filmen häufig eher gekünstelt und konstruiert – was nicht so richtig überraschend ist, da die meisten Filmemacher nunmal eher wenige
Verbindungen zum Alltagsleben der Durchschnittsbürger aus der (unteren)
Mittelschicht haben dürften; zumindest, sobald sie erfolgreiche Filmemacher
sind. Für Kenneth Lonergan, dessen Drehbuch mit einem OSCAR gewürdigt wurde, ist das offensichtlich kein Problem, seine Figuren wirken
mindestens so real wie die aus den vielgerühmten britischen Sozialdramen eines
Ken Loach oder eines Mike Leigh. Der Unterschied ist allerdings, daß "Manchester
by the Sea" seiner bedrückenden Thematik zum Trotz im Grundton optimistischer wirkt und somit für das Publikum verdaulicher konsumierbar
ist. Dabei hilft der angesprochene leise Humor, aber auch sonst hat man (fast) nie das
Gefühl, daß die Situation ausweglos ist – noch nicht einmal für Lee, der nun wirklich
wenig Grund zur Lebensfreude hat.
Für die richtige Balance sorgt auch Lonergans in vielerlei
Hinsicht durchdachte Inszenierung. So blendet er speziell in emotional
aufgeladenen Szenen den Ton komplett aus und unterlegt die Szenerie mit
getragener klassischer Musik – mal geigen-, mal orgellastig –, die teilweise
regelrecht sakral ausfällt (tatsächlich werden neben sehr gelungenen
Eigenkompositionen des Filmkomponisten Lesley Barber auch einige Händel-Stücke mit großer
Effizienz eingesetzt). Dadurch, daß wir in diesen Sequenzen die Dialoge nicht
hören, sind wir gezwungen, uns umso stärker auf Mimik und Gestik der Schauspieler
zu konzentrieren, was deshalb so exzellent funktioniert, weil die Darsteller in
diesen Schlüsselszenen – das sind primär Affleck, Williams und Hedges – herausragende
Leistungen darbieten. Vor allem die – von Lonergan sehr nüchtern
und fern von jeder theatralischen Überhöhung präsentierten –
erschütternden Szenen rund um Lees tragischen Fehler entfalten so eine ungemein
starke emotionale Wirkung und binden das Publikum damit an den
bedauernswerten, in seiner Distanziertheit anfangs eher unsympathisch wirkenden Kerl. Schauspielerisches Highlight ist aber eine sehr schmerzliche, doch überfällige Aussprache zwischen Lee und seiner Ex-Frau Randi, die von
Michelle Williams (die ansonsten keine große Rolle im Film spielt) und Casey Affleck
schlicht und ergreifend perfekt ausgespielt wird. Das ist Schauspielerkino vom
Allerfeinsten, das entsprechend mit dem OSCAR für Affleck sowie Nominierungen für
Williams und den speziell in der Interaktion mit Affleck ebenfalls sehr
überzeugend aufspielenden Newcomer Hedges belohnt wurde. Zu dem insgesamt
exzellenten Ensemble zählen übrigens auch Kara Hayward (famose
Hauptdarstellerin aus Wes Andersons "Moonrise Kingdom"), Oscar
Wahlberg (Mark Wahlbergs Neffe) und Anna Baryshnikov (Tochter des ehemaligen
sowjetischen Ballett-Stars, später in "Am Wendepunkt"
OSCAR-nominierten Hollywood-Schauspielers Mikhail Baryshnikov), die alle
Freunde von Patrick spielen. Letztlich ist kaum etwas zu kritisieren an diesem Film, der mit voller Konzentration auf Schauspieler, Figuren und Dialoge über fast zweieinhalb Stunden hinweg fesselt.
Fazit: "Manchester by the Sea" ist ein tief
berührendes, aber trotz seiner schweren Thematik niemals niederdrückendes Familien- und
Trauerdrama mit lebensnahen Figuren, eindringlichen und intelligenten Dialogen und einer von Casey
Affleck angeführten herausragenden Besetzung.
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