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In eigener Sache: Mein neues Filmbuch

Einigen Lesern ist bestimmt aufgefallen, daß ich in der rechten Spalte meines Blogs seit längerer Zeit das Cover meines neuen Buchs präsen...

Freitag, 11. April 2014

SNOWPIERCER (2013)

Regie: Bong Joon-ho, Drehbuch: Kelly Masterson und Bong Joon-ho, Musik: Marco Beltrami
Darsteller: Chris Evans, Song Kang-ho, Ed Harris, Tilda Swinton, Jamie Bell, Octavia Spencer, John Hurt, Ko Ah-sung, Ewen Bremner, Alison Pill, Vlad Ivanov, Luke Pasqualino, Stephen Park, Emma Levie, Kenny Doughty, Clark Middleton, Tómas Lemarquis
Snowpiercer
(2013) on IMDb Rotten Tomatoes: 94% (8,1); weltweites Einspielergebnis: $86,8 Mio.
FSK: 16, Dauer: 126 Minuten.

Endlich haben die Wissenschaftler ein Mittel gegen die Erderwärmung gefunden! Es trägt die Bezeichnung CW-7, wird von Flugzeugen in der Atmosphäre versprüht und soll die globale Temperatur um wenige Grad senken. Doch natürlich kommt alles anders als geplant: Innerhalb kürzester Zeit überzieht eine neue Eiszeit die Erde und vernichtet den Großteil allen Lebens. Die Menschheit stirbt aus. Die letzten Überlebenden befinden sich an Bord eines riesigen, sich selbst mit Energie versorgenden Zuges, den der Visionär Wilford (Ed Harris, "Sweetwater") rechtzeitig baute, weil er das Versagen von CW-7 vorhersah. Das Gleissystem dieses ganz besonderen Zuges führt über die gesamte Erde, deren Umrundung ein Jahr dauert. An Bord herrscht ein extremes Klassensystem: Vorne leben die Reichen in Saus und Braus, dahinter sorgt die Mittelschicht dafür, daß alles rund läuft, und ganz hinten vegetiert die Unterschicht in sklavereiartigen Verhältnissen. Das sorgt immer wieder für Aufstände, die aber von Wilfords schwerbewaffneten Soldaten und seiner Ministerin Mason (Tilda Swinton, "Moonrise Kingdom") regelmäßig niedergeschlagen werden. Doch dieses Mal – 17 Jahre nach Beginn der Eiszeit – haben die Rebellen um ihren widerwilligen Anführer Curtis (Chris Evans, "The Return of the First Avenger"), dessen Protegé Edgar (Jamie Bell, "Jane Eyre") und ihren weisen Mentor Gilliam (John Hurt, "Alien") mithilfe eines geheimen Verbündeten aus dem vorderen Teil des Zuges einen Plan gefaßt, der funktionieren könnte. Entscheidend für das Gelingen ist der Ingenieur Namgoong (Song Kang-ho, "Memories of Murder"), der aufgrund seiner Drogenabhängigkeit im Zug-Gefängnis unmittelbar vor den Abteilen der Unterschicht sitzt und den Rebellen mit seinen technischen Kenntnissen die Tore zu den vorderen Abteilen öffnen soll …

Kritik:
Es ist schon bemerkenswert, wie viele Künstler sich mit Endzeit-Szenarien befassen. In Filmen ging das so richtig los nach dem Zweiten Weltkrieg, vor allem ab den 1960er und 1970er Jahren mit Werken wie "Flucht ins 23. Jahrhundert", "Jahr 2022 … die überleben wollen" oder "The Omega Man". Wenig verwunderlich, denn nach dem Abwurf der amerikanischen Atombomben über Hiroshima und Nagasaki und dem anschließenden Kalten Krieg zwischen Ost und West mit extremer nuklearer Aufrüstung auf beiden Seiten schien das Ende der Welt greifbar nahe. Auch Comics haben sich mit der Thematik befaßt, beispielsweise Jacques Lob, Benjamin Legrand und Jean-Marc Rochette mit dem 1982 erschienenen "Schneekreuzer", der nun als internationale Co-Produktion unter südkoreanischer Federführung als Film realisiert wurde. Und in Südkorea mit fast neuneinhalb Millionen Zuschauern mal eben zum zehnterfolgreichsten heimischen Film aller Zeiten wurde (der erfolgreichreichste ist übrigens "The Host", ebenfalls von Regisseur Bong Joon-ho). Im Rest der Welt sorgte "Snowpiercer" weniger durch hohe Zuschauerzahlen für Aufregung als durch das anfängliche Vorhaben der Produzentenlegende Harvey Weinstein, den Film für die US-Auswertung um rund 20 Minuten zu kürzen, weil er – wie er kaum verklausuliert kundtat – Teilen der amerikanischen Bevölkerung nicht zutraute, der recht anspruchsvollen und metaphernreichen Story folgen zu können. Nach massiven Protesten gab Weinstein dieses Vorhaben doch auf – zum Glück für alle Filmfans, denn es wäre nicht das erste Mal gewesen, daß auch in Europa nur die gekürzte US-Version einer asiatischen Produktion in die Kinos gekommen wäre …

Ganz offensichtlich ist die Prämisse von "Snowpiercer" schwer verdaulich. Schon die Sache mit dem Zug, der sich durch eine revolutionäre, als Perpetuum mobile funktionierende – und laut Wilford-Propaganda "heilige" – Maschine in der Theorie unendlich lange fortbewegen kann, wird für viele Zuschauer schwer zu schlucken sein; die extreme, feudale Klassengesellschaft innerhalb dieses Mikrokosmos der Überlebenden wirkt zunächst ebenfalls wenig glaubwürdig. Wer nicht willens oder fähig ist, sich mit diesen Elementen der Geschichte (sowie diversen sie begleitenden Logikmängeln) zu arrangieren, der kann es auch gleich ganz bleiben lassen. Wer sich jedoch voll auf das Storykonstrukt einläßt, der wird mit einem faszinierenden Action-Thriller mit philosophischem Unterbau belohnt. Durch das Konzept der einzelnen Abteile des Zuges, die von hinten nach vorne immer luxuriöser werden, funktioniert "Snowpiercer" beinahe wie ein Roadmovie. Wir beginnen ganz hinten, wo wir die brutal unterdrückte Arbeiterklasse kennenlernen, die unter miserablen Bedingungen eher vor sich hinvegetiert als lebt. Kleinste Verstöße oder Auflehnungsversuche werden hart bestraft, zudem werden den Arbeitern immer wieder ohne nähere Erklärung Kinder weggenommen. Kurzum: An diesem Ende des Zuges geht es zu wie im finstersten Mittelalter. Verständlich, daß die Bereitschaft zur Rebellion rapide wächst.

In diesem ersten Akt der Handlung lernen wir auch fast alle Personen kennen, die für die Handlung von Bedeutung sind. Leider bleibt die Charakterisierung der Figuren mit ganz wenigen Ausnahmen oberflächlich, durch die Umstände ist dennoch klar, wem die uneingeschränkten Sympathien des Publikums gehören. Auch wenn nicht vor Lebensfreude und Charisma sprühen (wer will es ihnen verdenken angesichts der Verhältnisse), so sind die Arbeiter doch ohne jede Frage die Underdogs – und mit deren Aufstand gegen ihre brutalen Unterdrücker fiebert man selbstverständlich mit. Chris Evans gibt einen guten Anführer ab, den er naheliegenderweise deutlich geradliniger und humorloser als seine bekannteste Rolle "Captain America" anlegt. Curtis ist nicht unbedingt ein netter Mensch, aber sein zuvorkommendes Verhalten gegenüber den anderen Arbeitern wie auch sein (wie sich herausstellen wird: gut begründeter) Widerwille gegen die ihm zugedachte Anführer-Position sorgen dafür, daß er einen guten Protagonisten abgibt. Seine Helfer entwickeln zwar deutlich weniger Profil als Curtis, aber vor allem Jamie Bell als Curtis' Assistent und größter Fan Edgar und Octavia Spencer ("The Help") als resolute Mutter Tanya hinterlassen durchaus Eindruck. Auf der Gegenseite zeigt Tilda Swinton wieder einmal eine Glanzleistung als ebenso arrogante wie opportunistische Ministerin, von Swinton wunderbar hassenswert und mit Mut zur Häßlichkeit verkörpert. Als Antagonistin macht sich Swinton einfach stets herausragend, ob als weiße Hexe in den "Narnia"-Filmen, als skrupellose Anwältin in "Michael Clayton" oder hier als Ministerin.

Als die Rebellion schließlich ihren Lauf nimmt, reisen wir mit den Aufständischen gemeinsam durch den Zug und staunen über das, was wir alles zu Gesicht bekommen. Zunächst ist der Übergang von den "Slums" am Zugende zu den nächsten Abteilen – der wenig appetitlichen "Küche" für die Arbeiter und dem Gefängnis, in dem der drogenabhängige Ingenieur und seine vergleichsweise unbeschwert wirkende, im Zug geborene Tochter Yona (Ko Ah-seong, deren Vater bereits in "The Host" von Song Kang-ho gespielt wurde) zu den Rebellen stoßen – noch ziemlich fließend. Doch als die immer wieder von Wilfords Soldaten unter der Führung eines besonders brutalen Anzugträgers (mit bemerkenswerter körperlicher Präsenz verkörpert vom rumänischen Schauspieler Vlad Ivanov aus dem Festivalhit "4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage") attackierten Überlebenden den mittleren Teil erreichen, trauen sie ihren Augen kaum. Ich will an dieser Stelle nicht zu viel verraten, aber wer denkt, aus einer solch örtlich begrenzten Story wie der von "Snowpiercer" könne man kaum viel Überraschendes herausholen, der wird sich ganz schön wundern.

Die offene Gesellschaftskritik, die diese übrigens durch eindrucksvolle Kostüme und Kulissen passend illustrierte Klassengesellschaft begleitet, kommt angesichts der Extremheit des Gezeigten naturgemäß nicht gerade subtil daher. Doch glücklicherweise kann man auf Dauer auch keine Holzhammer-Symbolik unterstellen, denn im – leider recht abrupt und auch etwas unbefriedigend endenden – finalen Akt des Films werden die Motive wie auch die zementiert scheinenden Denkmuster aller Beteiligten von Wilford selbst (schön undurchsichtig dargestellt von Ed Harris) auf eine harte Probe gestellt, indem er einige wichtige Fragen stellt. Die übrigens endgültig dazu führen, daß dem Film von einigen Zuschauern politisch linke Propaganda und von anderen politisch rechte Propaganda vorgeworfen wird. Das klingt kurios, ist aber gar nicht so verwunderlich, denn so klar verteilt die Rollen von "Guten" und "Bösen" auch verteilt zu sein scheinen und so eindeutig sich viele Dinge verurteilen lassen: Die Handlung von "Snowpiercer" regt das Publikum unter der Oberfläche eben auch zum Nachdenken über die verschiedensten Dinge an, allen voran über die Verhältnismäßigkeit der Mittel, über die historisch belegte blinde Bereitschaft vieler Menschen, sich starken Führerfiguren anzuvertrauen oder über den Sinn von Prinzipien in extremen Krisensituationen. Da kann zwangsläufig nicht jeder zu dem gleichen subjektiven Ergebnis kommen, viele unterstellen dann den Filmemachern (oder den Schöpfern der Comicvorlage) politische Intentionen, die zumindest so vermutlich gar nicht existieren. Ich jedenfalls denke vor allem angesichts des Endpunkts der Geschichte, daß "Snowpiercer" vor allem unbequeme Fragen stellt, ohne eigene Antworten aufdrängen zu wollen. So lobenswert dieser gesellschaftsphilosophische Unterbau des dritten Akts auch ist, so muß ich aber doch konstatieren, daß sein Unterhaltungsgrad gegenüber dem action- und überraschungsreicheren Mittelteil des Films etwas abfällt.

Abgemildert wird die plakative Zurschaustellung der Gesellschaftsschichten an Bord des Zuges übrigens durch einen immer wieder aufblitzenden, extrem trockenen Humor – etwa wenn die Lehrerin (Alison Pill, "To Rome with Love") der reichen Kinder regelrecht in religiöse Verzückung gerät, wenn sie über den Heiland Wilford spricht … äh, Verzeihung: predigt; und wenn eine sehr spezielle Version eines olympischen Fackellaufes in einer Kampfsituation das Kriegsglück wendet, dann ist das eine so wundervoll absurde Komik, daß man sich an die Coen-Brüder erinnert fühlt. Apropos Kämpfe: Die machen einen nicht geringen Anteil von "Snowpiercer" aus und sind deshalb entsprechend wichtig für das Gelingen des Films. Alles in allem sind sie durchaus überzeugend, in einzelnen Szenen sogar begeisternd umgesetzt, dennoch habe ich mir mehr als einmal gewünscht, Regisseur Bong hätte die Kampfsequenzen lieber seinem (als Co-Produzent sogar beteiligten) Landsmann Park Chan-wook überlassen. Vor allem zu Beginn nervt nämlich der übermäßige Einsatz der wackligen Handkamera, die der Übersichtlichkeit erheblich schadet, ohne das mit diesem Stilmittel eigentlich beabsichtigte "Mittendrin-Gefühl" aufkommen zu lassen. Park hat 2003 in der zu Recht legendären "Hammerkampf-Sequenz" seines epochalen Rache-Meisterwerks "Oldboy" idealtypisch und stilistisch atemberaubend bewiesen, was man alles aus unkonventionellen Kampfsituationen in beengten Räumlichkeiten herausholen kann. Bong Joon-ho kann damit in "Snowpiercer" nicht mithalten, doch zum Glück wird die Kampfchoreographie deutlich besser, sobald sich die Reihen auf beiden Seiten etwas gelichtet haben. Vorteilhaft ist ebenfalls, daß Marco Beltramis ("World War Z") die einzelnen Zug-Abteile abwechslungsreich begleitende Musik gerade bei den Actionszenen zu Hochform aufläuft.

Fazit: "Snowpiercer" ist ein actionreicher, ungewöhnlicher Endzeitfilm mit Arthouse-Anspruch, dessen Story zwar wenig glaubwürdig erscheint, aber durch ihre allegorische Natur und die Verweigerung simpler Antworten auf universelle Fragen fasziniert und zum Nachdenken anregt. Wie viele Genrefilme können das schon ernsthaft von sich behaupten?

Wertung: 8 Punkte.


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