Regie: Bong
Joon-ho, Drehbuch: Kelly Masterson und Bong Joon-ho, Musik: Marco Beltrami
Darsteller:
Chris Evans, Song Kang-ho, Ed Harris, Tilda Swinton, Jamie Bell, Octavia
Spencer, John Hurt, Ko Ah-sung, Ewen Bremner, Alison Pill, Vlad Ivanov, Luke Pasqualino,
Stephen Park, Emma Levie, Kenny Doughty, Clark Middleton, Tómas Lemarquis
FSK: 16, Dauer: 126 Minuten.
Endlich haben die Wissenschaftler ein Mittel gegen die
Erderwärmung gefunden! Es trägt die Bezeichnung CW-7, wird von Flugzeugen in
der Atmosphäre versprüht und soll die globale Temperatur um wenige Grad senken.
Doch natürlich kommt alles anders als geplant: Innerhalb kürzester Zeit
überzieht eine neue Eiszeit die Erde und vernichtet den Großteil allen Lebens.
Die Menschheit stirbt aus. Die letzten Überlebenden befinden sich an Bord eines
riesigen, sich selbst mit Energie versorgenden Zuges, den der Visionär Wilford
(Ed Harris, "Sweetwater") rechtzeitig baute, weil er das Versagen von
CW-7 vorhersah. Das Gleissystem dieses ganz besonderen Zuges führt über die
gesamte Erde, deren Umrundung ein Jahr dauert. An Bord herrscht ein extremes
Klassensystem: Vorne leben die Reichen in Saus und Braus, dahinter sorgt
die Mittelschicht dafür, daß alles rund läuft, und ganz hinten vegetiert die
Unterschicht in sklavereiartigen Verhältnissen. Das sorgt immer wieder für
Aufstände, die aber von Wilfords schwerbewaffneten Soldaten und seiner
Ministerin Mason (Tilda Swinton, "Moonrise Kingdom") regelmäßig
niedergeschlagen werden. Doch dieses Mal – 17 Jahre nach Beginn der Eiszeit – haben
die Rebellen um ihren widerwilligen Anführer Curtis (Chris Evans, "The Return of the First Avenger"), dessen Protegé Edgar (Jamie Bell,
"Jane Eyre") und ihren weisen Mentor Gilliam (John Hurt,
"Alien") mithilfe eines geheimen Verbündeten aus dem vorderen Teil
des Zuges einen Plan gefaßt, der funktionieren könnte. Entscheidend für das Gelingen ist der Ingenieur Namgoong (Song Kang-ho, "Memories of Murder"), der aufgrund seiner Drogenabhängigkeit im Zug-Gefängnis
unmittelbar vor den Abteilen der Unterschicht sitzt und den Rebellen mit seinen technischen Kenntnissen die Tore zu den vorderen Abteilen öffnen soll …
Kritik:
Es ist schon bemerkenswert, wie viele Künstler sich mit
Endzeit-Szenarien befassen. In Filmen ging das so richtig los nach dem
Zweiten Weltkrieg, vor allem ab den 1960er und 1970er Jahren mit Werken wie
"Flucht ins 23. Jahrhundert", "Jahr 2022 … die überleben
wollen" oder "The Omega Man". Wenig verwunderlich, denn nach dem Abwurf der
amerikanischen Atombomben über Hiroshima und Nagasaki und dem anschließenden
Kalten Krieg zwischen Ost und West mit extremer nuklearer Aufrüstung auf beiden
Seiten schien das Ende der Welt greifbar nahe. Auch Comics
haben sich mit der Thematik befaßt, beispielsweise Jacques Lob, Benjamin
Legrand und Jean-Marc Rochette mit dem 1982 erschienenen
"Schneekreuzer", der nun als internationale Co-Produktion unter
südkoreanischer Federführung als Film realisiert wurde. Und in Südkorea mit fast
neuneinhalb Millionen Zuschauern mal eben zum zehnterfolgreichsten heimischen Film
aller Zeiten wurde (der erfolgreichreichste ist übrigens "The Host", ebenfalls von
Regisseur Bong Joon-ho). Im Rest der Welt sorgte "Snowpiercer" weniger durch hohe Zuschauerzahlen für Aufregung als durch das anfängliche Vorhaben der
Produzentenlegende Harvey Weinstein, den Film für die US-Auswertung um rund 20
Minuten zu kürzen, weil er – wie er kaum verklausuliert kundtat – Teilen der
amerikanischen Bevölkerung nicht zutraute, der recht anspruchsvollen und
metaphernreichen Story folgen zu können. Nach massiven Protesten gab
Weinstein dieses Vorhaben doch auf – zum Glück für alle Filmfans, denn es wäre
nicht das erste Mal gewesen, daß auch in Europa nur die gekürzte US-Version
einer asiatischen Produktion in die Kinos gekommen wäre …
Ganz offensichtlich ist die Prämisse von
"Snowpiercer" schwer verdaulich. Schon die Sache mit dem Zug, der
sich durch eine revolutionäre, als Perpetuum mobile funktionierende – und laut
Wilford-Propaganda "heilige" – Maschine in der Theorie unendlich lange
fortbewegen kann, wird für viele Zuschauer schwer zu schlucken sein; die
extreme, feudale Klassengesellschaft innerhalb dieses Mikrokosmos der
Überlebenden wirkt zunächst ebenfalls wenig glaubwürdig. Wer nicht willens oder fähig
ist, sich mit diesen Elementen der Geschichte (sowie diversen sie begleitenden Logikmängeln) zu arrangieren, der kann es auch
gleich ganz bleiben lassen. Wer sich jedoch voll auf das Storykonstrukt
einläßt, der wird mit einem faszinierenden Action-Thriller mit philosophischem Unterbau belohnt. Durch
das Konzept der einzelnen Abteile des Zuges, die von hinten nach vorne immer
luxuriöser werden, funktioniert "Snowpiercer" beinahe wie ein Roadmovie.
Wir beginnen ganz hinten, wo wir die brutal unterdrückte Arbeiterklasse kennenlernen,
die unter miserablen Bedingungen eher vor sich hinvegetiert als lebt. Kleinste
Verstöße oder Auflehnungsversuche werden hart bestraft, zudem werden den
Arbeitern immer wieder ohne nähere Erklärung Kinder weggenommen. Kurzum: An
diesem Ende des Zuges geht es zu wie im finstersten Mittelalter. Verständlich,
daß die Bereitschaft zur Rebellion rapide wächst.
In diesem ersten Akt der Handlung lernen wir auch fast alle
Personen kennen, die für die Handlung von Bedeutung sind. Leider bleibt die
Charakterisierung der Figuren mit ganz wenigen Ausnahmen oberflächlich, durch
die Umstände ist dennoch klar, wem die uneingeschränkten Sympathien des
Publikums gehören. Auch wenn nicht vor Lebensfreude und Charisma sprühen (wer will es ihnen verdenken angesichts der Verhältnisse), so
sind die Arbeiter doch ohne jede Frage die Underdogs – und mit deren Aufstand
gegen ihre brutalen Unterdrücker fiebert man selbstverständlich mit. Chris Evans gibt einen guten Anführer ab, den er naheliegenderweise deutlich geradliniger
und humorloser als seine bekannteste Rolle "Captain America" anlegt.
Curtis ist nicht unbedingt ein netter Mensch, aber sein zuvorkommendes Verhalten
gegenüber den anderen Arbeitern wie auch sein (wie sich herausstellen wird: gut begründeter) Widerwille gegen die ihm zugedachte Anführer-Position sorgen dafür, daß er einen guten
Protagonisten abgibt. Seine Helfer entwickeln zwar deutlich weniger Profil als
Curtis, aber vor allem Jamie Bell als Curtis' Assistent und größter Fan Edgar
und Octavia Spencer ("The Help") als resolute Mutter Tanya
hinterlassen durchaus Eindruck. Auf der Gegenseite zeigt Tilda Swinton wieder
einmal eine Glanzleistung als ebenso arrogante wie opportunistische Ministerin,
von Swinton wunderbar hassenswert und mit Mut zur Häßlichkeit verkörpert. Als
Antagonistin macht sich Swinton einfach stets herausragend, ob als weiße
Hexe in den "Narnia"-Filmen, als skrupellose Anwältin in
"Michael Clayton" oder hier als Ministerin.
Als die Rebellion schließlich ihren Lauf nimmt, reisen wir
mit den Aufständischen gemeinsam durch den Zug und staunen über das, was wir alles zu
Gesicht bekommen. Zunächst ist der Übergang von den "Slums" am Zugende zu
den nächsten Abteilen – der wenig appetitlichen "Küche" für die Arbeiter
und dem Gefängnis, in dem der drogenabhängige Ingenieur und seine
vergleichsweise unbeschwert wirkende, im Zug geborene Tochter Yona (Ko
Ah-seong, deren Vater bereits in "The Host" von Song Kang-ho gespielt wurde)
zu den Rebellen stoßen – noch ziemlich fließend. Doch als die immer wieder von
Wilfords Soldaten unter der Führung eines besonders brutalen Anzugträgers (mit bemerkenswerter körperlicher Präsenz verkörpert vom rumänischen Schauspieler Vlad Ivanov aus
dem Festivalhit "4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage") attackierten Überlebenden
den mittleren Teil erreichen, trauen sie ihren Augen kaum. Ich will an dieser
Stelle nicht zu viel verraten, aber wer denkt, aus einer solch örtlich
begrenzten Story wie der von "Snowpiercer" könne man kaum viel
Überraschendes herausholen, der wird sich ganz schön wundern.
Die offene Gesellschaftskritik, die diese übrigens durch
eindrucksvolle Kostüme und Kulissen passend illustrierte Klassengesellschaft
begleitet, kommt angesichts der Extremheit des Gezeigten naturgemäß nicht
gerade subtil daher. Doch glücklicherweise kann man auf Dauer auch keine
Holzhammer-Symbolik unterstellen, denn im – leider recht abrupt und auch etwas
unbefriedigend endenden – finalen Akt des Films werden die Motive wie auch die
zementiert scheinenden Denkmuster aller Beteiligten
von Wilford selbst (schön undurchsichtig dargestellt von Ed Harris) auf eine harte Probe gestellt, indem er einige
wichtige Fragen stellt. Die übrigens endgültig dazu führen, daß dem Film von einigen
Zuschauern politisch linke Propaganda und von anderen politisch rechte
Propaganda vorgeworfen wird. Das klingt kurios, ist aber gar nicht so
verwunderlich, denn so klar verteilt die Rollen von "Guten" und
"Bösen" auch verteilt zu sein scheinen und so eindeutig sich viele
Dinge verurteilen lassen: Die Handlung von "Snowpiercer" regt das
Publikum unter der Oberfläche eben auch zum Nachdenken über die verschiedensten
Dinge an, allen voran über die Verhältnismäßigkeit der Mittel, über die historisch
belegte blinde Bereitschaft vieler Menschen, sich starken Führerfiguren anzuvertrauen
oder über den Sinn von Prinzipien in extremen Krisensituationen. Da kann
zwangsläufig nicht jeder zu dem gleichen subjektiven Ergebnis kommen, viele
unterstellen dann den Filmemachern (oder den Schöpfern der Comicvorlage)
politische Intentionen, die zumindest so vermutlich gar nicht existieren. Ich
jedenfalls denke vor allem angesichts des Endpunkts der Geschichte, daß
"Snowpiercer" vor allem unbequeme Fragen stellt, ohne eigene
Antworten aufdrängen zu wollen. So lobenswert dieser gesellschaftsphilosophische
Unterbau des dritten Akts auch ist, so muß ich aber doch konstatieren, daß sein
Unterhaltungsgrad gegenüber dem action- und überraschungsreicheren Mittelteil des
Films etwas abfällt.
Abgemildert wird die plakative Zurschaustellung der
Gesellschaftsschichten an Bord des Zuges übrigens durch einen immer wieder
aufblitzenden, extrem trockenen Humor – etwa wenn die Lehrerin (Alison Pill,
"To Rome with Love") der reichen Kinder regelrecht in religiöse
Verzückung gerät, wenn sie über den Heiland Wilford spricht … äh, Verzeihung:
predigt; und wenn eine sehr spezielle Version eines olympischen Fackellaufes in
einer Kampfsituation das Kriegsglück wendet, dann ist das eine so wundervoll
absurde Komik, daß man sich an die Coen-Brüder erinnert fühlt. Apropos Kämpfe:
Die machen einen nicht geringen Anteil von "Snowpiercer" aus und sind
deshalb entsprechend wichtig für das Gelingen des Films. Alles in allem sind sie
durchaus überzeugend, in einzelnen Szenen sogar begeisternd umgesetzt, dennoch
habe ich mir mehr als einmal gewünscht, Regisseur Bong hätte die Kampfsequenzen
lieber seinem (als Co-Produzent sogar beteiligten) Landsmann Park Chan-wook
überlassen. Vor allem zu Beginn nervt nämlich der übermäßige Einsatz der
wackligen Handkamera, die der Übersichtlichkeit erheblich schadet, ohne das mit
diesem Stilmittel eigentlich beabsichtigte "Mittendrin-Gefühl" aufkommen zu lassen. Park hat 2003 in der
zu Recht legendären "Hammerkampf-Sequenz" seines epochalen Rache-Meisterwerks
"Oldboy" idealtypisch und stilistisch atemberaubend bewiesen, was man
alles aus unkonventionellen Kampfsituationen in beengten Räumlichkeiten
herausholen kann. Bong Joon-ho kann damit in "Snowpiercer" nicht
mithalten, doch zum Glück wird die Kampfchoreographie deutlich besser, sobald
sich die Reihen auf beiden Seiten etwas gelichtet haben. Vorteilhaft ist
ebenfalls, daß Marco Beltramis ("World War Z") die einzelnen
Zug-Abteile abwechslungsreich begleitende Musik gerade bei den
Actionszenen zu Hochform aufläuft.
Fazit: "Snowpiercer" ist ein actionreicher, ungewöhnlicher
Endzeitfilm mit Arthouse-Anspruch, dessen Story zwar wenig glaubwürdig
erscheint, aber durch ihre allegorische Natur und die Verweigerung simpler
Antworten auf universelle Fragen fasziniert und zum Nachdenken anregt. Wie
viele Genrefilme können das schon ernsthaft von sich behaupten?
Wertung: 8 Punkte.
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