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In eigener Sache: Mein neues Filmbuch

Einigen Lesern ist bestimmt aufgefallen, daß ich in der rechten Spalte meines Blogs seit längerer Zeit das Cover meines neuen Buchs präsen...

Dienstag, 22. Februar 2022

DIE HAND GOTTES (2021)

Originaltitel: È stata la mano di Dio, Alternativtitel: The Hand of God
Regie und Drehbuch: Paolo Sorrentino, Musik: Lele Marchitelli
Darsteller: Filippo Scotti, Toni Servillo, Teresa Saponangelo, Marlon Joubert, Luisa Ranieri, Massimiliano Gallo, Betti Pedrazzi, Renato Carpentieri, Biagio Manna, Sofya Gershevich, Lino Musella, Ciro Capano, Monica Nappo, Alessandro Bressanello
Die Hand Gottes (2021) on IMDb Rotten Tomatoes: 83% (7,2); weltweites Einspielergebnis: $0,2 Mio.
FSK: 12, Dauer: 134 Minuten.
Neapel, 1984: Während in der Stadt das Gerücht für Furore sorgt, der argentinische Fußball-Star Diego Armando Maradona würde zum SSC Neapel wechseln, wächst der introvertierte 17-jährige Fabio "Fabietto" Schisa (Filippo Scotti) mit seinen Eltern Maria (Teresa Saponangelo, "Die süße Kunst des Müßiggangs") und Saverio (Toni Servillo, "La Grande Bellezza"), seinem älteren Bruder Marchino (Marlon Joubert, TV-Serie "Romulus") und seiner Schwester Daniela (Rossella Di Lucca) auf. Fabietto weiß noch nicht wirklich, was er nach der Schule machen will, er interessiert sich aber für Philosophie und ist auch vom Filmemachen fasziniert – zumal sein Bruder Schauspieler werden will und Fabietto ihn beispielsweise zum Casting für einen Fellini-Film begleitet. Freunde hat Fabietto eher nicht, dafür hält ihn allerdings seine schillernde Verwandtschaft genügend auf Trab, darunter seine schöne, zu seiner Freude exhibitionistisch veranlagte Tante Patrizia (Luisa Ranieri, "Briefe an Julia"), die darunter leidet, keine Kinder zu bekommen. Zuhause droht derweil Ungemach, als die Langzeit-Geliebte von Fabiettos Vater anruft und eine schwere Familienkrise auslöst. Aber zumindest findet Fabietto in dem älteren Schmuggler Armando (Biagio Manna) endlich einen Freund ...

Kritik:
Seit seinem internationalen Durchbruch mit der gefeierten Politsatire "Il Divo" im Jahr 2008 hat sich der italienische Filmemacher Paolo Sorrentino bei Cineasten auf der ganzen Welt einen exzellenten Ruf erarbeitet als präziser Beobachter der italienischen Gesellschaft. Auffällig ist dabei, daß er seine stets von feiner Ironie durchzogenen gehobenen Alltagsgeschichten ("La Grande Bellezza", "Ewige Jugend") ebenso wie seine sehr frei interpretierten Biopics über reale Persönlichkeiten wie die italienischen Ministerpräsidenten Giulio Andreotti ("Il Divo") und Silvio Berlusconi ("Loro – Die Verführten") schwelgerisch, bildgewaltig und stilistisch sehr einfallsreich inszeniert und so immer wieder denkwürdige Szenen und Bildkompositionen erschafft – ganz wie sein offensichtliches Vorbild Federico Fellini ("Das süße Leben"). Der vielleicht berühmteste und einflußreichste italienische Filmemacher aller Zeiten spielt auch in der Netflix-Produktion "Die Hand Gottes" eine Rolle, was insofern folgerichtig ist, als der Film stark autobiographisch geprägt ist und der junge Fabietto als Sorrentinos Alter Ego fungiert. Dieses autobiographische Element erklärt vermutlich, warum "Die Hand Gottes" im Vergleich zu Sorrentinos sonstigen Werken etwas geerdeter und unspektakulärer daherkommt, wenngleich sein unverwechselbarer Stil natürlich – und glücklicherweise – immer noch häufig durchscheint. Trotz einer OSCAR-Nominierung zählen viele Kritiker "Die Hand Gottes" nicht zu Sorrentinos allerbesten Werken, mir hat die tragikomische Coming of Age-Geschichte jedoch ausgesprochen gut gefallen, wenn auch in der ersten Hälfte deutlich besser als in der zweiten.

Die inhaltliche und stilistische Zweiteilung des über zweistündigen Werkes ist offensichtlich: Während in der äußerst unterhaltsamen, für Fabietto noch ziemlich sorglosen ersten Hälfte die Komik überwiegt und wir ausführlich die vielen herrlich exzentrischen Gestalten aus Fabiettos erweiterter Familie kennenlernen, kippt die Stimmung mit einem – der Realität entsprechenden – Schlüsselereignis deutlich ins Tragische. Und das betrifft nicht alleine Fabietto, sondern fast all seine Bekannten und Verwandten, deren Unglück von der Aufgabe eines beruflichen Traums über eine psychiatrische Anstalt bis hin zum Gefängnis reicht – wobei Sorrentino betont, daß die Realität hierfür nur der Ausgangspunkt war, den er mit Phantasie filmtauglich erweiterte. Wie es bei Coming of Age-Filmen häufig der Fall ist, erzählt "Die Hand Gottes" nicht wirklich eine durchgehende Geschichte; es geht einfach um Fabiettos Erwachsenwerden, eingebettet in eine aufregende Zeit der süditalienischen Metropole Neapel, die dank Weltstar Diego Armando Maradona vorübergehend zu so etwas wie dem Nabel der Fußballwelt wurde. Dramaturgisch ist das Fehlen einer echten Geschichte nicht immer ganz unproblematisch, dennoch unterhalten Sorrentinos teils nostalgische, teils bittersüße Jugenderinnerungen gut, zumal Fabietto einen sympathischen Protagonisten abgibt. Wie erwähnt, gilt das aber vor allem für die erste Hälfte, welche locker-leicht daherkommt und jede Menge Komik beinhaltet – allem voran immer dann, wenn Fabiettos Tante Patrizia sich splitterfasernackt auszieht und Sorrentino so genußvoll wie meisterhaft die Verlegenheit, Verärgerung, Erregung, Frustration, Fatalismus und Amüsement umfassende Mimik speziell der anwesenden Männer einfängt! Aus dem Cast sticht niemand wirklich heraus, er harmoniert wunderbar und die Spielfreude aller Beteiligten ist sichtbar, zumal Sorrentino fast jeder Figur ihre starken Momente gönnt. Das gilt für Fabiettos Mutter Maria mit ihrem Faible für elaborierte und überraschend fiese Streiche ebenso wie für eine ständig obszön schimpfende ältere Verwandte, Fabiettos große Schwester Daniela – die den gesamten Film im Badezimmer verbringt – und seine übergewichtige Tante, die sich mit einem 30 Jahre älteren Kriegsveteranen mit elektronischer Sprechhilfe verlobt ...

Zwar wird aus "Die Hand Gottes" in der zweiten Hälfte bei aller Tragik keine Tragödie, sondern es gibt immer noch viel Schönes und teilweise auch Humorvolles zu bestaunen, dennoch nagt dieser heftige Stimmungswechsel ziemlich am Unterhaltsamkeitsgrad des Films. Immerhin gibt das dem Publikum dafür mehr Zeit, sich auf die handwerkliche Meisterschaft von Sorrentinos Werk zu konzentrieren. Gemeinsam mit der Kamerafrau Daria D'Antonio (die bereits an einigen früheren Sorrentino-Filmen beteiligt war, hier jedoch erstmals als Chefin an der Kamera fungiert) kreiert er wieder einmal zahlreiche märchenhaft schöne Sequenzen und Bildkompositionen: der mystische Prolog mit dem abgestürzten Kronleuchter, bei dem Patrizia auf den geheimnisvollen "kleinen Mönch" und auf Neapels Schutzpatron San Gennaro trifft, ist ein gutes Beispiel dafür, ebenso eine Szene kurz vor Schluß, in der sich Fabietto mit dem Regisseur Antonio Capuano (Ciro Capano) in einem höhlenartigen Gebäude unterhält und einen entscheidenden Anstoß für seine Zukunft erhält. Antonio Capuano ist übrigens wie Fellini eine reale Persönlichkeit (wobei keiner seiner Filme in Deutschland veröffentlicht worden zu sein scheint); eine von vielen, die Kurzauftritte in "Die Hand Gottes" absolvieren. Mit den kurzen, anekdotenhaften Quasi-Cameos reichert Sorrentino seine Geschichte an, verleiht ihr noch zusätzliches Lokalkolorit und zieht eine beinahe märchenhafte Stimmung daraus. Ob man nach "Die Hand Gottes" den Regisseur und Mensch Paolo Sorrentino besser versteht als zuvor? Da bin ich mir nicht sicher. Fakt ist jedoch, daß sein kunstvoll in Szene gesetzter autobiographischer Film mir viel Freude bereitet hat und auch die deutlich ernstere zweite Hälfte viel Kluges zu erzählen weiß.

Fazit: Paolo Sorrentinos "Die Hand Gottes" ist ein so kunstvoll wie einfallsreich inszenierter, bittersüßer Coming of Age-Film, der trotz eines abrupten Stimmungswechels in der Filmmitte und des Fehlens einer echten Story gut unterhält und Stoff zum Nachdenken gibt.

Wertung: 8 Punkte (9 für die erste Hälfte, 7 für die zweite).

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