Eine weitere Größe des französischen Autorenkinos hat die Bühne endgültig verlassen: Rund einen Monat vor seinem 80. Geburtstag verstarb mit Bertrand Tavernier ein Mann, der seine Karriere vor allem auf Kriminalfilme begründete, später aber auch viele andere Genres mit Erfolg bearbeitete. Ein Teil der großen Erneuerungswelle des französischen Kinos ab den 1950er und 1960er Jahren war Tavernier übrigens nie, und das nicht nur, weil er dafür ein paar Jahre zu spät auf die Welt kam - er war vielseitiger interessiert und hatte auch ein Faible für Historien- und Genrefilme, während bei der Nouvelle Vague ja die Gegenwart im Zentrum stand.
Eine Sache hatte Bertrand Tavernier allerdings mit Größen der Nouvelle Vague wie Jean-Luc Godard, François Truffaut oder Jacques Rivette gemein: Er begann als Filmkritiker und stieg erst dann in die eigentliche Filmbranche ein, wobei ein Job als Regieassistent bei Jean-Pierre Melville seine Eintrittskarte war. In den späten 1960er Jahren wurde Tavernier zum Drehbuch-Autoren einiger wenig bemerkenswerter Filme, ehe er 1974 mit seinem Regiedebüt (bei dem er wie bei den meisten seiner Regiearbeiten auch das Skript verfaßte) eine größere Bekanntheit erlangte: "Der Uhrmacher von St. Paul" (Alternativtitel: "Der Vollstrecker") ist ein klassischer Krimi nach einem Roman von Georges Simenon, der sich vom Gros des Genres durch eine ausgeprägte psychologische Komponente abhebt und mit Jean Rochefort und Philippe Noiret zwei Hauptdarsteller aufbietet, die diese Komponente meisterhaft umsetzen. Noiret wurde zu einem treuen Weggefährten Taverniers, der u.a. zwei Jahre später in einem weiteren starken (historischen) Krimi, "Der Richter und der Mörder", an der Seite von Michel Galabru und der jungen Isabelle Huppert beeindruckte. 1980 wagte sich Tavernier erstmals an das Genrekino, wobei sein ambitionierter, thematisch an den deutschen TV-Film "Das Millionenspiel", Sydney Lumets Mediensatire "Network" oder Stephen Kings "Running Man" erinnernder SciFi-Krimi "Death Watch" mit Romy Schneider und Harvey Keitel eher gemischt aufgenommen wurde. Besser kamen kurz darauf das einfühlsame Frauenportrait "Ferien für eine Woche" (1980) mit Nathalie Baye und die inzwischen zum Kultfilm avancierte Kolonialismus-Satire "Der Saustall" (1981) an. In beiden Filmen wirkte erneut Philippe Noiret mit und in "Der Saustall" brilliert er als fauler Polizist (dessen Geliebte Isabelle Huppert verkörpert) in einem Dorf in Französisch-Westafrika kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, der so lange von allen verspottet wird, bis er zum Gegenschlag ausholt und den titelgebenden Saustall äußerst rigoros auszumisten beginnt ... Dafür gab es eine OSCAR-Nominierung in der Auslandskategorie und zehn César-Nominierungen.
Es folgten in den 1980er Jahren weitere Highlights wie die in Cannes mit dem Regiepreis (und später mit drei Césars) prämierte Literaturverfilmung "Ein Sonntag auf dem Lande" (1984; Taverniers Spielfilm mit der besten IMDb-Durchschnittsbewertung) über ein Familientreffen voller (Selbst-)Einsichten auf dem Landsitz eines gealterten verwitweten Malers, das Jazzmusiker-Portrait "Um Mitternacht" (1986), das Jazz-Legende Herbie Hancock den OSCAR für die beste Filmmusik einbrachte, und das kurz nach dem Ende des Ersten Weltkrieges spielende und mit einem britischen BAFTA ausgezeichnete Drama "Das Leben und nichts anderes" (1989) mit Philippe Noiret als Major, der in einer wahren Sisyphos-Arbeit die Suche nach den zahllosen vermissten Soldaten leitet. In der folgenden Dekade ließ Bertrand Tavernier nicht nach, lieferte neben der vierstündigen Doku "Der Krieg ohne Namen" (1992) über den Algerienkrieg, dem Krimi "Der Lockvogel" (1995) und der Sozialstudie "Es beginnt heute" (1999) sogar zwei meiner persönlichen drei Lieblingsfilme von ihm ab (der dritte ist "Der Saustall"): "D'Artagnans Tochter" (1994) und "Hauptmann Conan und die Wölfe des Krieges" (1996). Meine Bewunderung für "D'Artagnans Tochter" mag dabei erstaunen, ist das betont altmodische Mantel-und-Degen-Abenteuer doch von den Kritikern verhalten aufgenommen und für seinen Mangel an Originalität gescholten worden. Doch die humorvolle Fortsetzung von Alexandre Dumas' vielfach verfilmter Geschichte über die drei Musketiere des Königs macht großen Spaß mit seiner opulenten Ausstattung, reichlich Humor und vor allem einer glänzenden Besetzung, angefangen mit der wunderbaren Sophie Marceau in einer ihrer schönsten Rollen, in der sie von Könnern wie - natürlich - Philippe Noiret und Sami Frey als gealterte Musketiere unterstützt wird. So ziemlich das genaue Gegenteil ist derweil das beklemmende Anti-Kriegsdrama "Hauptmann Conan und die Wölfe des Krieges" über eine Spezialtruppe, die im Ersten Weltkrieg ihre Menschlichkeit weitgehend verloren hat und deshalb auch nach Ende des Krieges zunächst noch weiter im Balkan wütet. Ein Film, der lange nachhallt (und Tavernier seinen vierten und letzten César einbrachte), auch ob der exzellenten Leistungen der beiden Hauptdarsteller Philippe Torreton und Samuel Le Bihan.
Nach der Jahrtausendwende dauerte es eine Weile, bis Tavernier noch einmal von sich Reden machte, doch 2009 gab er immerhin sein englischsprachiges Regiedebüt mit dem Krimidrama "Mord in Louisiana" mit den Hollywood-Stars Tommy Lee Jones und John Goodman in den Hauptrollen - jedoch wurde der routiniert inszenierte Film ziemlich mittelmäßig aufgenommen. Nur etwas besser erging es dem Historienfilm "Die Prinzessin von Montpensier" (2010) mit Mélanie Thierry und Lambert Wilson sowie seinem letzten Spielfilm "Wildes Treiben am Quai d'Orsay" (2013), einer humorvollen Comic-Adaption über einen Uniabsolventen, der einen Job im Stab des französischen Außenministers erhält und bald in ein Intrigengeflecht unter dessen Beratern involviert ist. Anschließend drehte Tavernier nur noch ein paar (TV-)Dokus, letztmals stand er 2017 hinter der Kamera.
Am 25. März 2021 verstarb Bertrand Tavernier mit 79 Jahren in Sainte-Maxime. R.I.P.
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