Es ist kaum zu glauben, aber zwischen Juli 2019 und Februar 2020 mußte ich tatsächlich keinen einzigen Nachruf auf eine bedeutende Persönlichkeit aus der Welt des Kinos schreiben. Von Februar 2020 bis Juli 2020 waren es dagegen sage und schreibe zehn! Und leider scheint das sowieso in jeder Hinsicht außergewöhnliche Jahr 2020 noch nicht fertig zu sein mit den Filmlegenden, denn mit dem zweifach OSCAR-nominierten britischen Regisseur und Drehbuch-Autor Sir Alan Parker ist am vergangenen Freitag eine weitere Kinogröße von uns gegangen.
Das erste, was einem (oder zumindest mir) beim Betrachten von Parkers Filmographie in den Sinn kommt, ist die Erkenntnis: Eigentlich müßte er viel berühmter sein! Sir Alan Parker, der als vielfach prämierter Werbespot-Regisseur anfing, drehte lediglich 14 abendfüllende Kinofilme - doch jeder einzelne davon ist sehenswert und viele waren Hits. Diese 14 Regiearbeiten - bei sechs davon verfaßte er außerdem das Drehbuch - verteilen sich auf zahlreiche Genres vom Gefängnisdrama über den Anti-Kriegsfilm und den Okkult-Thriller bis hin zum Rassismus- und dem Sozialdrama. Doch ein Genre hatte es Parker ganz offensichtlich besonders angetan: der Musikfilm. Von Parkers 14 Kinofilmen haben immerhin fünf die Musik als ein zentrales Thema vorzuweisen: das schräge Gangster-Musical "Bugsy Malone" (1976), der Tanzfilm "Fame - Der Weg zum Ruhm" (1980), "Pink Floyd - The Wall" (1982; quasi die experimentelle Verfilmung des gleichnamigen Albums von 1979), die Musik-Tragikomödie "The Commitments" (1991) und "Evita" (1996), die Adaption des Musicalhits von Andrew Lloyd Webber. Nach zwei Kurzfilmen und einem TV-Film gab Parker sein Kinodebüt mit einem außergewöhnlichen Werk: "Bugsy Malone" erzählt die Geschichte des titelgebenden berühmten US-Gangsters aus der Zeit der Prohibition nicht nur mit zahlreichen schmissigen Musical-Nummern aus der Feder von Musik-Legende Paul Williams ("Phantom of the Paradise") ... nein, alle Darsteller sind Kinder! Auf die Idee, einen im Kern sehr klassischen 1930er Jahre-Gangsterfilm zu drehen und alle Rollen mit Kindern (darunter die sehr junge Jodie Foster) zu besetzen, welche so spielen, als wären sie Erwachsene, muß man erst einmal kommen; und ob das dann tatsächlich funktioniert, ist noch einmal eine ganz andere Frage. Doch wenngleich die Kritiken (meiner Ansicht nach zu Recht) eher wohlwollend als begeistert ausfielen, funktioniert "Bugsy Malone" durchaus - wenn auch in erster Linie wegen der leidenschaftlich aufspielenden Kinder sowie Alan Parkers Drehbuch und Inszenierung, der das Bizarre der Prämisse gekonnt herausarbeitet und beispielsweise anstatt Maschinenpistolen "Frostkanonen" verwendet, deren Munition Sahnetorten sind! In jedem Fall dürfte kaum jemand ernsthaft bestreiten wollen, daß ein originelleres Filmkonzept als jenes, das Parker für "Bugsy Malone" schuf, schwerlich vorstellbar ist ...
Mit seinem zweiten Kinofilm vollzog Parker so ziemlich den größtmöglichen Stilbruch: von der fröhlichen Gangster-Musical-Komödie zu einem bitteren Gefängnisdrama. Auch "12 Uhr nachts - Midnight Express" (1978) sorgte für viel Aufsehen, wenn auch zum Teil durch recht scharfe Kontroversen. Denn die schonungslose Adaption des gleichnamigen, von "Platoon"-Regisseur Oliver Stone adaptierten Buches von Billy Hayes, der darin seine alptraumhafte Inhaftierung in einem türkischen Gefängnis schildert, wurde als reißerisch und teils auch als mit rassistischen Untertönen versehen kritisiert (und in der Türkei verboten; Stone entschuldigte sich später für seine Überdramatisierung der tatsächlichen Geschehnisse) - gleichzeitig aber als handwerklich herausragender Film gefeiert und mit zwei OSCARs (bei sechs Nominierungen) prämiert, Alan Parker erhielt seine erste Nominierung für Golden Globe und Academy Award. Deutlich weniger kontrovers war Parkers nächster Film, das Tanzdrama "Fame - Der Weg zum Ruhm", das zwar von einigen Kritikern als oberflächlich und klischeehaft betrachtet wurde, aber sehr erfolgreich war, ebenfalls zwei OSCARs gewann (für die Musik und für den von Irene Cara interpretierten Titelsong) und u.a. eine TV-Serie, eine Bühnenadaption und ein Remake nach sich zog. Es folgten "Pink Floyd - The Wall" und das heutzutage trotz zweier Golden Globe-Nominierungen weitgehend in Vergessenheit geratene Beziehungsdrama "Der Konflikt - Du oder Beide" (1982), in dem Diane Keaton und Albert Finney ein Ehepaar spielen, das sich auseinandergelebt hat und zum Leidwesen ihrer vier Kinder anderweitig sein Glück sucht.
Ab Mitte der 1980er Jahre folgte Parkers künstlerisch ergiebigste Karrierephase, beginnend mit dem bewegenden Antikriegs-Psychodrama "Birdy" aus dem Jahr 1984. Zwar floppte "Birdy" an den Kinokassen und blieb trotz guter Kritiken bei vielen Preisverleihungen unberücksichtigt (abgesehen vom Großen Preis der Jury bei den Filmfestspielen von Cannes), etablierte sich bei Cineasten aber schnell als unkonventioneller Klassiker des Genres. Alleine die Prämisse des auf einem Roman von William Wharton basierenden Werks dürfte klarmachen, daß es sich um keinen normalen Film handelt: Matthew Modine und Nicolas Cage spielen befreundete junge US-Soldaten, die versehrt aus dem Vietnam-Krieg zurückkommen - Cages Figur erlitt schwere Gesichtsverletzungen, während sein wegen seiner lebenslangen Faszination für Vögel von allen nur "Birdy" genannter Freund apathisch wurde, nicht mehr spricht und sich nun selbst für einen Vogel zu halten scheint ... Auch die beiden nächsten Filme von Alan Parker, beide dem Thriller-Genre zuzuordnen und in den US-Südstaaten spielend, waren ungewöhnlich, jedoch deutlich zugänglicher und damit auch massentauglicher. Der Okkult-Thriller "Angel Heart" (1987) über einen heruntergekommenen Privatdetektiv (Mickey Rourke), der bei seiner Suche nach einem Vermissten nach New Orleans kommt und es dort mit einer schönen Voodoo-Priesterin (Lisa Bonet) und eventuell sogar mit dem Teufel höchstselbst (gespielt von Robert De Niro) zu tun bekommt, begeistert vor allem mit seiner schwül-bedrohlichen Atmosphäre und der düsteren Story. Stärker in der Realität verankert ist der auf wahren Begebnissen beruhende "Mississippi Burning - Die Wurzel des Hasses" (1988), der Alan Parker seine zweite und letzte OSCAR-Nominierung als Regisseur sowie die zweite Golden Globe-Nominierung einbringen sollte. In diesem aufwühlenden Rassismus-Thriller spielen Gene Hackman und Willem Dafoe zwei FBI-Agenten, die 1964 nach dem Verschwinden dreier Bürgerrechtler in Mississippi ermitteln und es mit einem deprimierenden Geflecht aus (Polizei-)Korruption, rassistischen Vorurteilen und tiefsitzendem Haß zu tun bekommen. Die Kritiken bei der Veröffentlichung waren gemischt, doch heute gilt "Mississippi Burning" sehr verdient als Klassiker und Parkers wohl bester Film.
In den 1990er Jahren wurden Alan Parkers Filme mit einer Ausnahme "kleiner", hielten aber ein ordentliches bis hohes Niveau. Das gilt nach dem wenig beachteten romantischen Kriegsdrama "Komm und sieh das Paradies" (1990; in dem das Liebesglück des Leinwandpaares Dennis Quaid und Tamlyn Tomita durch den japanischen Angriff auf Pearl Harbor und die resultierende Internierung japanischstämmiger US-Amerikaner bedroht wird) primär für den tragikomischen, für jeweils einen OSCAR und Golden Globe nominierten irischen Musikfilm "The Commitments" (1991) über die titelgebende "härteste Arbeiter-Band der Welt", der neben dem Humor vor allem mit seinem hervorragenden, soullastigen Soundtrack begeistert. In der Satire "Willkommen in Wellville" (1994) lebte Parker einmal mehr sein Faible für das Skurrile aus, denn es handelt sich um einen vergnüglichen, wieder einmal auf einer wahren Geschichte basierenden Film über John Harvey Kellogg (Anthony Hopkins), welcher in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein alternatives Sanatorium mit ziemlich eigenwilligen Behandlungsmethoden eröffnete - darunter die von ihm und seinem Bruder erfundenen Cornflakes! Parkers kommerziell erfolgreichster Film - mit einem globalen Einspielergebnis von ca. $150 Mio. - war trotz mittelmäßiger Rezensionen die für fünfs OSCAR nominierte (und mit jenem für den besten Filmsong prämierte) Musical-Adaption "Evita" mit Popstar Madonna in der Titelrolle der argentinischen Präsidentengattin Eva Perón. Nach der erneut OSCAR-nominierten Verfilmung von Frank McCourts Sozialdrama "Die Asche meiner Mutter" (1999) sollte im Jahr 2003 das Anti-Todesstrafen-Drama "Das Leben des David Gale" sein letzter Film sein. Bei der Kritik fiel Parkers letzte Regiearbeit durch und auch an den Kinokassen hielt sich der Erfolg in Grenzen - und doch kam die fiktive Geschichte des Philosophie-Professors und Anti-Todesstrafen-Aktivisten David Gale (Kevin Spacey), dem nach einer Mordverurteilung selbst die Todesstrafe droht, beim Publikum gut an (bei Rotten Tomatoes hat der Film von den Kritikern nur 19% positive Kritiken erhalten, von über 60.000 "normalen" Nutzern der Seite hingegen 81%). Die Kritik an der reißerischen und dem Ernst der Thematik vermeintlich nicht gerecht werdenden Story ist zwar nicht ganz von der Hand zu weisen, doch ist "Das Leben des David Gale" zweifellos gut gemacht, sehr spannend und von Spacey, Kate Winslet und Laura Linney hervorragend gespielt. Es gibt definitiv schlechtere Schlußpunkte in einer Karriere!
Am 31. Juli 2020 starb der im Jahr 2002 in den Adelsstand erhobene Sir Alan Parker im Alter von 76 Jahren in London an den Folgen einer langen, schweren Krankheit. R.I.P.
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