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In eigener Sache: Mein neues Filmbuch

Einigen Lesern ist bestimmt aufgefallen, daß ich in der rechten Spalte meines Blogs seit längerer Zeit das Cover meines neuen Buchs präsen...

Donnerstag, 21. Mai 2020

Nachruf: Michel Piccoli (1925-2020)

Nach Zählung der IMDb hat der große französische Charakterdarsteller Michel Piccoli, der in der vergangenen Woche im Alter von 94 Jahren verstorben ist, als Schauspieler innerhalb von fast 70 Jahren an sagenhaften 178 Spielfilmen mitgewirkt - von denen ich knapp 20 gesehen habe. Ein typischer Nachruf scheint mir da innerhalb eines überschaubaren Längenrahmens kaum machbar, weshalb ich mich nach Durchsicht seiner Filmographie dazu entschieden habe, mich auf drei Kapitel zu beschränken: Seine zentrale Zusammenarbeit mit dem Filmemacher Luis Buñuel sowie mit der Schauspielerin Romy Schneider - und sonstige Highlights.

1. Michel Piccoli und Luis Buñuel:
Wie so viele Schauspieler begann auch der stattliche 1,84 m große Michel Piccoli kurz nach dem Zweiten Weltkrieg seine Karriere im Theater - parallel drehte er viele Filme, doch bis zu seinem Durchbruch zum Kinostar sollte es noch eine ganze Weile dauern. Ein entscheidender Wegbegleiter von Piccoli war der legendäre spanisch-mexikanische Surrealist Luis Buñuel, mit dem er insgesamt sechs Filme realisieren sollte. Auch Piccolis erste wirklich große Nebenrolle im Kino hatte er Buñuel zu verdanken, welcher ihn 1956 in seinem in Südamerika spielenden Abenteurfilm "Pesthauch des Dschungels" als den engagierten Pater Lizardi besetzte. Der Film zählt bei weitem nicht zu Buñuels stärksten Arbeiten, aber er führte zu erinnerungswürdigeren weiteren Kollaborationen. So agierte Michel Piccoli 1964 in der boshaften, genau beobachteten Gesellschaftssatire "Tagebuch einer Kammerzofe" an der Seite von Titeldarstellerin Jeanne Moreau als deren neuer Arbeitgeber Monsieur Monteil, der sich als weltgewandter Frauenheld sieht, in Wirklichkeit aber ein ziemliches Würstchen ist - eine Paraderolle für den ungemein wandlungsfähigen Piccoli, der in fast all seinen Figuren eine natürliche Eleganz vermittelt, unter deren Oberfläche sich jedoch oft genug (gerade in Buñuels Filmen) Abgründe verbergen. Das trifft auch auf seinen Henri Husson zu, der in Buñuels erotischem Meisterwerk "Belle de Jour - Schöne des Tages" (1967) hinter das pikante Doppelleben der von Catherine Deneuve grandios verkörperten bürgerlichen Ehefrau Séverine kommt und dieses Wissen skrupellos ausnutzt. Die drei letzten gemeinsamen Filme von Buñuel und Piccoli ergeben eine durch das Thema der "Suche nach der Wahrheit" zusammenhängende surrealistisch-satirische Trilogie, in der Piccoli allerdings nur kleinere Rollen spielt: In "Die Milchstraße" (1969) geht es um zwei Pilger, die den Regeln von Zeit und Ort zum Trotz auf diverse religiöse und historische Persönlichkeiten treffen - darunter der von Piccoli verkörperte Marquis de Sade. Drei Jahre darauf kam der wunderbar betitelte und OSCAR-gekrönte "Der diskrete Charme der Bourgeoisie" (über die immer wieder gestörten Versuche von sechs gutbürgerlichen Personen, gemeinsam zu Abend zu essen) mit Michel Piccoli als Innenminister in die Kinos und zum Abschluß folgte 1974 mein persönlicher Lieblings-Buñuel "Das Gespenst der Freiheit": eine absurde, an Monty Python erinnernde, oft zum Schreien komische Episodenkomödie, in der Piccoli einen Kurzauftritt als Polizeipräfekt hat. Auch wenn Michel Piccoli in Buñuels Filmen also nie die größten Rollen innehatte, war es eine äußerst fruchtbare Zusammenarbeit, die einige echte Klassiker hervorbrachte.

2. Michel Piccoli und Romy Schneider:
Mit der deutsch-französischen Schauspielikone Romy Schneider drehte Piccoli ebenfalls sechs gemeinsame Filme, anders als bei Buñuels Werken spielten beide zusammen aber fast immer die Hauptrollen (zu den sechs kommen mit "Cesar und Rosalie" und "Sommerliebelei" noch zwei, in denen nur seine Stimme zu hören ist). Erstmals standen sie 1966 für Jean Chapots deutsch-französisches Drama "Schornstein Nr. 4" als kinderloses Berliner Ehepaar Kreuz vor der Kamera, in dem sie den Jungen zurückholen will, den sie einige Jahre zuvor als 19-jährige weggeben hatte. Während dieser Film noch nicht für viel Aufsehen sorgte, sollte das bei der nächsten Zusammenarbeit der beiden Schauspieler im Jahr 1970 ganz anders sein: In Claude Sautets meisterhaftem poetisch-psychologischen Drama "Die Dinge des Lebens" (einer meiner absoluten Lieblingsfilme) baut Piccoli als Architekt Pierre einen schlimmen Autounfall - und während Pierre im Sterben liegt, erfahren wir mehr über seine Vergangenheit (Romy Schneider spielt seine Geliebte Hélène) und darüber, wie es zum Unfall kam. Ein poetisches und betont melancholisches, aber schwelgerisches und höchst ästhetisch inszeniertes Charakterdrama, das einem lange nicht aus den Gedanken geht! Ein wenig profaner, aber trotzdem sehenswert ging es ein Jahr später im atmosphärischen Krimidrama "Das Mädchen und der Kommissar" zu (wiederum unter der Regie von Claude Sautet), in dem Piccoli als eigenwilliger bis obsessiver Pariser Kriminalkommissar auf eigene Faust eine Bande von Bankräubern stellen will und sich daher gegenüber einem Bandenmitglied - der deutschen Prostituierten Lili (Schneider) - als Bankdirektor ausgibt, um den Räubern eine Falle zu stellen. Francis Girods schwarzhumorige Tragikomödie "Trio Infernal" (1974), in der Piccoli einen gierigen Anwalt verkörpert und Romy Schneider seine Geliebte, fiel wenig bemerkenswert aus, auch Sautets "Mado" (1976), in dem Schneider ausnahmsweise eine Nebenrolle spielt, sorgte nicht für viele Schlagzeilen. Letztmals arbeiteten Piccoli und Schneider 1982 für Jacques Rouffios "Die Spaziergängerin von Sans-Souci" zusammen, der gleichzeitig der letzte Filme von Romy Schneider vor ihrem frühen Tod sein sollte. Hier agiert Piccoli als (mit Schneiders Lina verheirateter) Max Baumstein, jüdischer Präsident einer angesehenen Menschenrechtsorganisation, der den Botschafter von Paraguay erschießt - warum, erfahren die Zuschauer erst nach und nach. Zwar fielen die Kritiken zum Film gemischt aus und er hat zweifellos seine Schwächen, trotzdem ist es vor allem dank der Leistungen von Piccoli und Schneider (in einer Doppelrolle) ein gelungener Abschluß ihrer gut 15-jährigen Zusammenarbeit.

3. Sonstige Highlights:
In seiner langen Karriere arbeitete Michel Piccoli mit einer ganzen Reihe großer Regisseure und Schauspieler zusammen und wirkte auch in internationalen Produktionen mit. Ein früher Höhepunkt war 1962 Jean-Pierre Melvilles Gangsterfilm-Klassiker "Der Teufel mit der weißen Weste" mit Jean-Paul Belmondo, in dem Michel Piccoli als Gangster und Nachtclub-Besitzer Nuttheccio agiert. Ein Jahr später gelang ihm in Jean-Luc Godards "Die Verachtung" endgültig der Durchbruch, in dem er den Drehbuch-Autor Paul Javal gibt, dessen Ehe mit der schönen Camille (Brigitte Bardot) während der Vorbereitungen zu einem Film über die Odysseus-Saga zerbricht. 1967 verkörperte Piccoli in Jacques Demys farbenfrohem Musical "Die Mädchen von Rochefort" den Pariser Kaufmann Simon und wiederum ein Jahr später folgten ein Auftritt als Inspektor Ginko in Mario Bavas eskapistischem Actionfilm "Gefahr: Diabolik!" (eine der ersten Comicverfilmungen überhaupt) und "Ein Mann zuviel", Costa-Gavras' fesselndes Drama über französische Widerstandskämpfer im von den Nazis besetzten Frankreich. In Marco Ferreris experimentellem satirischen Drama "Dillinger ist tot" (1968) gab Piccoli den gelangweilten Gasmasken-Konstrukteur Glauco und sogar für Sir Alfred Hitchcock stand er 1969 in dessen Agentenabenteuer "Topas" als früherer Widerstandskämpfer Jacques Granville vor der Kamera. In den 1970er Jahren folgten mit Claude Faraldos "Themroc" als amoklaufender titelgebender Anstreicher sowie Marco Ferreris "Das große Fressen" (1973) - in dem sich vier lebensmüde Freunde mittleren Alters zu Tode essen wollen - zwei echte Skandalfilme ihrer Zeit. Ein weiterer Höhepunkt war 1974 Claude Sautets "Vincent, François, Paul und die anderen" (mit Piccoli als Arzt François), der sich ebenfalls um einige Freunde in der Midlife-Crisis handelt, wenn auch hier ohne Todeswunsch. Ab den 1980er Jahren wurden Piccolis große Rollen etwas weniger, doch mit Louis Malles "Atlantic City, USA" (1980, mit Burt Lancaster und Susan Sarandon) und "Eine Komödie im Mai" (1990), Richard Dembos OSCAR-gekröntem originellen Kalter Kriegs-Schachthriller "Gefährliche Züge" (1984) und Jacques Rivettes "Die schöne Querulantin" (1991) gab es weitere Höhepunkte. Nach der Jahrtausendwende wurden diese immer seltener, ehe er mit 85 Jahren mit Nanni Morettis Komödie "Habemus Papam" als überraschend gewählter neuer Papst, der kurzerhand vor der riesigen Verantwortung reißaus nimmt, ein oberflächliches, aber amüsantes Comeback feierte, das ihm seine dritte Nominierung für den Europäischen Filmpreis einbrachte (im gleichen Jahr erhielt er dort auch den Ehrenpreis für sein Lebenswerk) und seine letzte Hauptrolle sein sollte.

Am 12. Mai 2020 starb Michel Piccoli in Saint-Philbert-sur-Risle im Alter von 94 Jahren an den Folgen eines Schlaganfalls. R.I.P.

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