Regie und Drehbuch: Jennifer Fox, Musik: Ariel Marx
Darsteller: Laura Dern, Isabelle Nélisse, Elizabeth Debicki,
Jason Ritter, Ellen Burstyn, John Heard, Frances Conroy, Common, Laura Allen,
Tina Parker, Isabella Amara, Gretchen Koerner, Madison David, Jessica Sarah
Flaum, Dana Healey
Jennifer Fox (Laura Dern, "Star Wars Episode VIII") ist eine erfolgreiche Dokumentarfilmerin und Professorin Ende 40,
die mit ihrem Verlobten Martin (Common, "Selma") in New York lebt.
Gerade kommt sie von Dreharbeiten für einen neuen Film aus Indien zurück, als sie
ein Anruf ihrer Mutter Nettie (Ellen Burstyn, "Interstellar") aus dem
Gleichgewicht bringt. Die hat nämlich beim Durchstöbern alter Kartons eine
Geschichte gefunden, die Jennifer als Teenager schrieb – und diese
Geschichte entsetzt Nettie ziemlich. Jennifer schildert darin nämlich eine
Affäre, die sie – als sie die Wochenenden auf dem Reiterhof von "Mrs.
G." (Elizabeth Debicki, "Widows") verbrachte – mit ihrem erwachsenen
Lauftrainer Bill (Jason Ritter, TV-Serie "Another Period") hatte, einem früheren Olympioniken.
Während Jennifer selbst das als eine Art gefährlichen Flirt als Jugendliche in
Erinnerung hat, erkennt Nettie das Beschriebene sofort als das, was es ist:
Ihre Tochter wurde von einem manipulativen Pädophilen verführt und mißbraucht!
Und obwohl Jennifer das für maßlos übertrieben hält, läßt die Geschichte sie nicht
mehr los und sie beginnt – ganz die Dokumentarfilmerin – nachzuforschen, was damals
wirklich geschah …
Kritik:
Es gibt eine ganze Reihe von Dokumentarfilmern, die sich
früher oder später auch als Spielfilm-Regisseure versucht haben – zu den
erfolgreichsten zählen etwa Krzysztof Kieślowski ("Drei
Farben"-Trilogie), Kevin Macdonald ("Der letzte König von
Schottland") und James Marsh ("Die Entdeckung der Unendlichkeit").
Die US-Amerikanerin Jennifer Fox hat jedoch einen besonders guten und
einleuchtenden Grund für den Metierwechsel: Sie erzählt in dem
Emmy-nominierten "The Tale – Die Erinnerung" ihre eigene Geschichte!
Es fällt auch schwer, sich vorzustellen, wie jemand einen so intimen,
bedrückenden Film wie diesen realisieren könnte, ohne aus eigenen Erfahrungen
zehren zu können. Zumindest würde der betreffende Film dann wahrscheinlich bei
weitem nicht so ehrlich und wahrhaftig wirken, wie es bei "The Tale"
der Fall ist. Angesichts der Thematik, so behutsam sie von Fox in Szene
gesetzt wurde, ist es naturgemäß unabhängig von der Qualität eine Herausforderung für jeden Zuschauer, sich "The Tale" anzuschauen –
aber glücklicherweise ist die Qualität hoch und Fox konnte dank der Hilfe ihres
Mentors Brian De Palma ("Phantom of the Paradise") und des
Koproduzenten Oren Moverman ("The Messenger") hochkarätige
Schauspieler verpflichten, die ihre anspruchsvollen Rollen ebenso einfühlsam
wie authentisch verkörpern. Ein Film wie "The Tale" ist nicht ganz
einfach zu rezensieren und ganz ohne Spoiler ist es noch schwieriger. Zwar ist
der Handlungsverlauf ob der Prämisse und der Tatsache, daß es sich um eine
wahre Geschichte (aus der erklärt subjektiven Sichtweise von Jennifer Fox)
handelt, in den Grundzügen weitgehend vorhersehbar, trotzdem gilt: Wer den Film
möglichst unbeeinflußt sehen möchte, der sollte an dieser Stelle die
Lektüre meiner Rezension besser abbrechen.
Die Dialoge sind angesichts Fox' persönlicher Erfahrungen erwartungsgemäß authentisch und zielführend geschrieben, ohne die Thematik unnötig aufzubauschen. Es
braucht auch gar keine sensationsheischenden Szenen, denn es ist viel eindrücklicher
mitanzuschauen, wie raffiniert (und möglicherweise vielfach erprobt?) Bill sich
in Jennifers von frühpubertärer Unsicherheit und familiären Problemen
beherrschte Gedanken schleicht und sie manipuliert. Daß sich Fox
dazu entschied, auch (dezent gefilmte) Sexszenen einzubauen, kann man derweil
sicher kontrovers diskutieren, es war ihr aber erklärtermaßen wichtig und es ergibt inhaltlich durchaus Sinn, bei einer so
intimen Geschichte nicht im letzten Moment wegzublenden, zumal Bills
abscheulich manipulative Methodik wohl nur auf diese Weise angemessen verdeutlicht werden kann. Davon
abgesehen geht Fox jedoch so behutsam vor, daß man sich als Zuschauer
(zumindest ging es mir so) erstaunlicherweise gar nicht so erschüttert fühlt wie man
es vermuten würde. Das hängt sicher mit der betont analytischen
Vorgehensweise von Jennifer zusammen, die zunächst sich selbst gegenüber
leugnet, daß diese "romantische Beziehung" nichts anderes als Mißbrauch, ja sogar
Vergewaltigung war, und sich auch später – mit einer Ausnahme – nie wirklich
einen kathartischen Wut- oder Verzweiflungsausbruch gestattet. In Rahmen der
Entwicklung werden ebenfalls einige typische Aspekte der Mißbrauchsthematik
angesprochen; so merkt Jennifers Mutter etwa an, ihre Tochter sei schon immer
auffallend bindungsscheu gewesen, außerdem schafft Jennifer es lange nicht, sich
ihrem fürsorglichen Verlobten gegenüber zu öffnen. Doch letztlich spielen diese
Aspekte ebenso nur eine Nebenrolle wie die übrigen Figuren, abgesehen
vielleicht von Jennifers Mutter Nettie, die sich natürlich fragt, wie sie
das alles nicht bemerken konnte.
Dennoch: "The Tale" (übrigens eine deutsche
Koproduktion) ist eindeutig Jennifers Geschichte, komplett aus ihrer
Perspektive – wenngleich einer zwischen der jungen und der gegenwärtigen
Jennifer zweigeteilten Perspektive – geschildert. Über den oder die Täter
erfahren wir Jennifers behutsamen Nachforschungen zum Trotz vergleichsweise wenig,
was ein bißchen frustrierend sein kann, aber gleichzeitig nachvollziehbar ist, da
das eben nicht im Fokus des Films steht. Letzten Endes ist "The Tale"
ein außergewöhnliches Filmerlebnis, nicht einfach anzuschauen, jedoch
einsichtsreich, zum Nachdenken anregend und lange nachhallend. Gerade im Zuge
der weltweiten #MeToo-Bewegung (deren Beginn zufällig fast genau mit der Premiere von
"The Tale" zusammenfiel), aber auch der anhaltenden Aufklärung der
unzähligen Mißbrauchsfälle etwa in der katholischen Kirche ist das Thema
"sexueller Mißbrauch" schließlich viel stärker ins Licht der
Öffentlichkeit gelangt und wird offener und ehrlicher diskutiert als vielleicht
jemals zuvor – wobei sich natürlich auch die Maßstäbe verschoben haben und
weiter verschieben, was genau sexueller Mißbrauch ist. Womit wir wiederum bei
Jennifer Fox wären, der 35 Jahre lang nicht bewußt war, daß sie selbst sexuell
mißbraucht wurde. Insofern läßt sich "The Tale" vielleicht gar als
Ratgeber betrachten, der einem beibringt, auf welche scheinbar harmlosen Details
man – beispielsweise bei den eigenen Kindern – achten sollte ...
Fazit: "The Tale – Die Erinnerung" ist ein ernsthaftes, mitunter unangenehm intimes, dabei aber bedachtsam entwickeltes
Mißbrauchsdrama, das weniger emotional daherkommt als man es
vermuten würde, aber dafür mit starken Schauspielern und einem mutigen, authentischen
Blick auf die Thematik überzeugt.
Wertung: 8,5 Punkte.
"The Tale – Die Erinnerung" erscheint am 3. Mai 2019 von capelight pictures auf DVD und Blu-ray und umfaßt eine Art Anhang, in dem die Regisseurin einige Fragen beantwortet, die ihr bei Vorführungen des Films häufig gestellt werden (speziell darüber, wie die "pikanten Szenen" mit der jungen Jennifer realisiert wurden). Ein Rezensionsexemplar wurde mir freundlicherweise von capelight pictures zur Verfügung gestellt.
Screenshots: © capelight pictures
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen