Regie und Drehbuch: Luc Besson, Musik: Éric Serra
Darsteller: Scarlett Johansson, Morgan Freeman, Choi
Min-sik, Amr Waked, Julian Rhind-Tutt, Pilou Asbæk, Analeigh Tipton, Nicolas
Phongpheth, Jan Oliver Schröder, Luca Angeletti, Paul Chan,
Frédéric Chau, Wolfgang Pissors
FSK: 12, Dauer: 89 Minuten.
Die Mittzwanzigerin Lucy (Scarlett Johansson, "Match Point") ist eine amerikanische Studentin in Taiwan. Nach einer langen Partynacht wird sie von dem charmanten Richard
(Pilou Asbæk, TV-Serie "Borgen – Gefährliche Seilschaften"), den sie
erst vor einer Woche kennengelernt hat, "überredet", einen Koffer bei Mr. Jang (Choi Min-sik, "Oldboy",
"I Saw the Devil") abzugeben, da er selbst es sich mit diesem gründlich
verscherzt habe. Zu ihrem Leidwesen muß Lucy schnell feststellen, daß Mr. Jang
in Wahrheit ein skrupelloser koreanischer Gangsterboß ist und der Koffer, den
sie ihm übergibt, eine experimentelle, für den Verkauf im Westen
vorgesehene Droge enthält. Nach der Übergabe darf Lucy nicht einfach wieder
gehen, stattdessen wird ihr kurzerhand operativ ein Beutel mit der Droge in den
Bauch eingepflanzt, den sie und einige Europäer als Drogenkuriere in ihre
Heimatländer bringen sollen. Der Beutel in Lucys Bauch platzt jedoch wenig
später, die Droge dringt in ihren Blutkreislauf ein – und Lucy entwickelt immer
stärkere, nahezu übermenschliche Kräfte. Sie sucht Rat bei Professor Norman
(Morgan Freeman, "Oblivion"), der seit Jahrzehnten erforscht, wie
sich die Fähigkeiten des Menschen verändern würden, wenn er mehr als nur 10%
seines Gehirns nutzen könnte …
Kritik:
Wenn man sich auf den gängigen Filmbewertungsseiten im
Internet umschaut, kann man zu dem Schluß kommen, daß
"Lucy" wohl ein ziemlich mittelmäßiger Film sein muß. Während ich diese
Zeilen schreibe, beträgt die durchschnittliche gewichtete Nutzerbewertung bei
der Internet Movie Database (IMDb) 6,6 von 10 Punkten, die professionellen
Kritiker haben bei Rotten Tomatoes 64% positive Rezensionen eingereicht. Das
sind Werte, die im Normalfall die Klassifizierung des zugrundeliegenden Films als (gehobenes)
Mittelmaß nahelegen – zumal "mittelmäßig" genau das Adjektiv
ist, mit dem man die meisten Filme bedenken würde, die Luc Besson in den letzten
Jahren produziert, geschrieben und/oder gedreht hat (z.B. "Colombiana",
"Lockout", "The Lady", "Malavita – The Family"). Bei
"Lucy" liegt der Fall jedoch anders. Denn "Lucy"
polarisiert. Viele sind begeistert von der visuellen Wucht und den
existentialistischen Storyansätzen, natürlich auch von der Hauptdarstellerin
Scarlett Johannson. Viele andere finden den Film dagegen schlecht, weil er
unlogisch ist, kaum Figurenzeichnung präsentiert und von einer albernen Prämisse
ausgeht. Und wahrscheinlich noch mehr sind vorwiegend irritiert und fragen sich
während des Abspanns, wo denn nun bitteschön der Action-Thriller gewesen sein
soll, den die Werbekampagne ihnen so aufwendig verkaufte? Ich zähle zur ersten
Gruppe, und ich denke, es lassen sich recht einfach drei Voraussetzungen
identifizieren, die jemand erfüllen muß, um Bessons ("Adéle und das Geheimnis des Pharaos") neuesten Streich ebenfalls genießen zu können. Erstens: Man muß
akzeptieren, daß die Prämisse zwar in der Tat wissenschaftlicher Unfug ist, das
für das Gelingen dieses Films aber völlig belanglos ist. Zweitens: Man muß
"Lucy" als Science Fiction-Märchen betrachten, das nur zufällig in
unserer Gegenwart spielt. Drittens: Man muß damit leben können, daß die
eigentliche Handlung sehr rudimentär ist und vor allem in der zweiten Hälfte
zusätzlich unter einigen Logikmängeln leidet. Das sind zugegebenermaßen recht viele
Voraussetzungen, und damit erklären sich auch die kontroversen Diskussionen
rund um "Lucy". Ich persönlich glaube, daß Bessons Film in einigen
Jahren als Klassiker seines Genres gelten wird, ähnlich wie es heute auf Filme wie
"Tron", "War Games" oder "Matrix" zutrifft, die nun auch nicht unbedingt vor
wissenschaftlicher Korrektheit strotzen.
Die ersten gut 30 Minuten des mit nicht einmal ganz
eineinhalb Stunden sehr zügig gestalteten Films sind schlicht grandios.
Scarlett Johanssons Einführung in der Rolle der Lucy ist sehr gelungen, sie ist
bereits zu Beginn nicht einfach nur ein blondes Dummchen, sondern eine
intelligente junge Frau, die trotz ihrer Vorsicht in eine schreckliche
Situation gerät, wie sie seit Hitchcock immer wieder unschuldigen
Durchschnittsbürgern widerfährt. Choi Min-sik überzeugt als diabolischer, brutaler
Gangsterboß ebenfalls, wobei mir übrigens besonders gefällt, daß er, anders als es in den meisten Hollywood-Produktionen der Fall wäre, kein Englisch versteht, sondern
seine Kommunikation mit Lucy über einen per Telefon zugeschalteten
Dolmetscher läuft. Bereits nach wenigen Minuten nimmt die Handlung
Fahrt auf, die adrenalingetränkten Actionsequenzen sind fulminant in Szene
gesetzt und erzeugen in Kombination mit Éric Serras ("GoldenEye") grandiosem, düster wummernden Actionscore eine
verstörende Atmosphäre, wie sie (gerade in einem ab 12 Jahren freigegebenen Film) ihresgleichen
sucht. Trotz der nicht allzu blutigen Inszenierung erinnern diesse Sequenzen in den besten
Momenten an die glorreichen "Heroic Bloodshed"-Klassiker eines John
Woo, an "The Killer" oder "Hard Boiled". Zugegeben,
Scarlett Johansson ist nicht ganz so cool wie Chow Yun-fat – doch dafür ist sie
wesentlich schöner …
Während Lucys körperliche wie mentale Kräfte immer weiter
zunehmen und sie ihre neuen Fähigkeiten unter anderem an Mr. Jangs Schergen
ausprobiert, erkennt sie allerdings auch, daß sie sterben wird, wenn sie nicht
schnell mehr von der Droge einnimmt. So entwickelt sich ein Wettlauf mit der
Zeit, als sie versucht, Nachschub zu bekommen, gleichzeitig aber von Mr. Jang
gejagt wird. Und das ist im Grunde genommen schon die gesamte eigentliche
Handlung der zweiten Filmhälfte: Lucy sucht unter Zeitdruck nach den anderen Drogenkurieren wider Willen – wofür sie in Frankreich die Hilfe des Polizei-Kommissars Pierre del Rio (Amr Waked, "Syriana", "Lachsfischen im Jemen") in Anspruch nimmt –, während sie immer wieder Mr. Jang und seine
Männer abwehren muß. Kein Wunder, daß das etlichen Zuschauern zu wenig ist.
Zumal sich mit fortlaufender Handlung immer mehr Logikfehler einschleichen,
beispielsweise ist kaum anzunehmen, daß in der Realität Deutschland und Italien
eigene Staatsbürger (besagte Drogenkuriere) mal eben ganz kurzfristig und
unbürokratisch an Frankreich ausliefern würden, nur weil der nette Herr Kommissar so nett fragt. Und dafür, daß Lucy, die von Beginn an keinerlei
Skrupel bei der Beseitigung der Gangster offenbart, ausgerechnet deren Boß Mr.
Jang laufen läßt, als sie ihn bereits in der Mangel hat, kann es nur einen einzigen "logischen" Grund geben: Luc Besson brauchte Mr. Jang noch, denn ohne Bösewicht kein spektakulärer Action-Showdown.
Doch zu diesem Zeitpunkt geht es Besson erkennbar schon
lange nicht mehr primär um diese "realistische" Handlung, seine
Aufmerksamkeit hat sich klar zu den phantastischen Science Fiction-Elementen
verlagert. Was Besson in der zweiten Hälfte von "Lucy" anbietet, ist
ein hochspekulativer, jedoch faszinierender Blick auf eine mögliche zukünftige Entwicklung
des Menschen. Womit wir wieder bei dem so heftig kritisierten
"10%-Mythos" wären. Die Theorie, wonach der Mensch nur 10% seines
Gehirns nutze, gab es zumindest so ähnlich tatsächlich einmal, doch sie wurde schon vor langer Zeit
wissenschaftlich widerlegt. Für "Lucy" ist das aber unerheblich, denn
man könnte ebenso gut sagen, daß es darin einfach um die weitere Evolution
des Menschen geht, auf die Professor Norman durch die nicht ganz sachgemäße
Anwendung der experimentellen Droge bei Lucy einen einzigartigen Ausblick erhält.
Natürlich ist es dennoch höchst unrealistisch, daß wir uns tatsächlich genau in
diese Richtung hin entwickeln – allerdings auch nicht unrealistischer als etwa die Mutanten in den "X-Men"-Filmen. Warum Besson
trotzdem ausgerechnet auf einer nachweislich falschen Theorie als Aufhänger
festhält? Nun, das dürfte daran liegen, daß es sich so wunderbar
anbietet, die Prozentzahl der von ihr genutzten Hirnregionen mittels
Einblendungen hochzuzählen, während Lucy immer mächtiger wird. Das mag man als
einen nicht sehr eleganten Grund für Bessons Vorgehen ansehen, aber
dramaturgisch funktioniert es gut. Und je höher die Prozentzahlen
steigen, desto ausgiebiger und einfallsreicher wird Bessons Griff in die
computergenerierte Spezialeffekt-Kiste, wobei diese Effekte trotz eines
vergleichsweise geringen Budgets von rund $40 Mio. (was für europäische
Verhältnisse aber natürlich eine exorbitante Summe ist) nahezu mit den
Standards von Hollywood-Großproduktionen mithalten können. Kein Wunder, immerhin war das einst von George Lucas gegründete Studio ILM maßgeblich beteiligt.
Kamen zu Beginn des Films noch die erwähnten Parallelen zu
Hongkong-Actionklassikern zum Tragen, so erinnert diese märchenhafte
SciFi-Entwicklung gegen Ende deutlich an den ersten Akt von Terrence Malicks "The Tree of Life" und natürlich auch an die "Matrix"-Trilogie von den
Wachowski-Geschwistern. Leider gibt es neben den Logikmängeln aber noch ein
weiteres, nicht zu vernachlässigendes Problem: die Figurenzeichnung. Dabei
konzentriert sich Besson vollkommen auf Lucy, mit der wir tatsächlich mitfühlen
können und die von Scarlett Johansson in einer erstklassigen Performance
dargestellt wird, die sie endgültig als zugkräftigen Star in der ersten
Hollywood-Liga etablieren wird (bei ihren bisherigen kommerziellen Erfolgen,
allen voran den Marvel-Werken oder auch den Filmen von Woody Allen, hatte sie
ja nie die alleinige Hauptrolle inne, sondern stets Stars an ihrer Seite).
Der Rest ist dagegen zum Vergessen. Antagonist Mr. Jang profitiert zwar von
Chois intensiver Darstellung, ist im Kern aber ein reiner, uninteressanter
Klischee-Bösewicht. Professor Normans Rolle beschränkt sich darauf, die
pseudo-wissenschaftlichen Hintergründe zu erläutern und ihnen mit der Morgan
Freeman seit jeher eigenen Autorität Gewicht und Glaubwürdigkeit zu verleihen. Und warum
der französische Polizist del Rio überhaupt dabei ist, weiß er selbst nicht (Lucys Erklärung ist auch nur bedingt glaubhaft). Es ist bedauerlich, daß
sich Besson bei dieser Facette seines Films nicht mehr Mühe gegeben hat, auch
angesichts der Tatsache, daß er in seinen frühen Werken wie "Léon – Der Profi",
"Nikita" oder "Das fünfte Element" ja bereits bewiesen hat,
daß er es besser kann; aber allzu schwer ins Gewicht fällt dieses Versäumnis
dann doch nicht, da "Lucy" eben mit vielen anderen Stärken
auftrumpfen kann.
Fazit: "Lucy" ist ein actionlastiger
Science Fiction-Film mit existentialistischen Zügen, der vom Zuschauer zwar ein nicht
geringes Maß an "Aussetzung der Ungläubigkeit" ("suspension of
disbelief") einfordert, dafür aber mit fantasievoller Bildgewalt, toller musikalischer Untermalung und einer
charismatischen Hauptdarstellerin nachdrücklich punktet.
Wertung: 8 Punkte.
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