Mit der gestrigen Preisverleihung des altehrwürdigen National Board of Review ist die Awards Season 2017/2018 endgültig eröffnet. Die Aussagekraft dieses Kritikerpreises schwankt zwar ziemlich stark, es gab in den letzten Jahren auch schon Gewinner wie J.C. Chandors "A Most Violent Year", die im weiteren Verlauf der Awards Season kaum eine Rolle spielten; aber in der Regel können sich NBR Award-Gewinner sehr wohl auf gute Aussichten im Rennen um Golden Globes und OSCARs freuen - wie zuletzt etwa "Manchester by the Sea" (zwei OSCARs) und "Mad Max: Fury Road" (sechs OSCARs) bewiesen. Was den Gewinner des Hauptpreises für den besten Film betrifft, dürfte das dieses Jahr mit fast hundertprozentiger Gewißheit so sein, denn Steven Spielbergs historisches Journalismus-Drama "Die Verlegerin" (Originaltitel: "The Post") paßt thematisch perfekt in die Trump-Ära. Aber zunächst zu den wichtigsten Gewinnern:
Bester Film: Die Verlegerin
Regie: Greta Gerwig, "Lady Bird"
Hauptdarsteller: Tom Hanks, "Die Verlegerin"
Hauptdarstellerin: Meryl Streep, "Die Verlegerin"
Nebendarsteller: Willem Dafoe, "The Florida Project"
Nebendarstellerin: Laurie Metcalf, "Lady Bird"
Original-Drehbuch: Paul Thomas Anderson, "Phantom Thread"
Adaptiertes Drehbuch: Scott Neustadter und Michael H. Weber, "The Disaster Artist"
Animationsfilm: Coco
Breakthrough Performance, Timothée Chalamet, "Call Me by Your Name"
Regiedebüt: Jordan Peele, "Get Out"
Fremdsprachiger Film: "Foxtrot", Israel
Dokumentarfilm: Jane
Ensemble: Get Out
Spotlight Award: Patty Jenkins (Regie) und Gal Gadot (Hauptrolle), "Wonder Woman"
Ganz offensichtlich gibt es also zwei große Gewinner: "Die Verlegerin" über die Veröffentlichung der "Pentagon Papers" über die geheime Desinformationsstrategie der Johnson- und der Nixon-Regierung bezüglich des Vietnam-Krieges durch die "Washington Post" im Jahr 1971; und den gefeierten Indie-Coming of Age-Film "Lady Bird". Dessen Hauptdarstellerin Saoirse Ronan gilt übrigens auch als eine OSCAR-Mitfavoritin - wobei sie mit Rekord-Nominee Meryl Streep (und zahlreichen weiteren Hochkarätern in einer diesmal exzellent besetzten Kategorie) natürlich nicht die allerleichteste Konkurrenz hat. Bei den Animationsfilmen ist es nur die erste von mit Sicherheit extrem vielen Auszeichnungen für Pixars fast konkurrenzlos dastehenden "Coco", auch bei den Dokumentationen sollte "Jane" (über die berühmte Verhaltens- und Affenforscherin Jane Goodall) weitere Preise einheimsen. Alles in allem also etliche Favoritensiege, wenngleich Greta Gerwig als beste Regisseurin angesichts der Konkurrenz durch solche Hochkaräter wie Spielberg oder Anderson nicht unbedingt zu erwarten war. Bei den OSCARs gab es insgesamt erst vier weibliche Regie-Nominees, das sollte sich dieses Jahr dank zahlreicher Anwärterinnen (neben Gerwig auch Patty Jenkins oder die "Mudbound"-Regisseurin Dee Rees) ändern.
Neben den Siegern der einzelnen Kategorien veröffentlicht das NBR stets eine (alphabetisch sortierte) Top 10-Liste, die weiteren Einblick in die Favoritenlage für die weiteren Kritikerpreise gibt. Wie meist ist es auch in diesem Jahr eine ziemlich bunte Liste:
- Call Me by Your Name
- The Disaster Artist
- Downsizing
- Dunkirk
- The Florida Project
- Get Out
- Lady Bird
- Phantom Thread
Mit Christopher Nolans Kriegs-Thriller und Topfavorit "Dunkirk" sowie Paul Thomas Andersons Modedrama "Phantom Thread" und "Lady Bird" sind drei der sowieso sehr hoch gehandelten OSCAR-Anwärter dabei, auch die Independent-Beiträge "Call Me by Your Name", "The Florida Project" und James Francos "The Disaster Artist" sollten zumindest ein paar Nominierungen abstauben. Die in den USA extrem erfolgreiche Horrorkomödie "Get Out" scheint ebenfalls gut im Rennen zu sein. Die drei großen Fragezeichen dieser Liste sind "Baby Driver", "Logan" und "Downsizing". Die ersten beiden haben die Nennung absolut verdient, die Frage ist allerdings, ob sie wirklich OSCAR-Material darstellen - gerade Superhelden-Filme haben es abseits der technischen Kategorien bekanntlich sehr schwer bei der Academy. Ein Sonderfall ist Alexander Paynes Gesellschaftssatire "Downsizing" mit Matt Damon, die bei diversen Festivals höchst unterschiedlich aufgenommen wurde (zwischen gleichgültig und enthusiastisch) und auch die Kritiker entzweit. Ein Topfavorit ist "Downsizing" deshalb sicher nicht, es ist sogar möglich, daß er bei den OSCARs komplett leer ausgehen wird (bei den Golden Globes mit ihrer eigenen Komödien-Kategorie sicher nicht); aber er könnte ebensogut ein paar Nominierungen ergattern. Die weiteren Preisverleihungen im Dezember werden schon mehr über die Erfolgsaussichten verraten. Bemerkenswert ist derweil das Fehlen von Guillermo del Toros Erwachsenen-Märchen "The Shape of Water" mit Sally Hawkins, das von den Kritikern gefeiert wird (98% bei Rotten Tomatoes!), aber bereits bei einigen Independent-Awards überraschend schwach abschnitt. Der komplette Ausschluß bei den NBR Awards verstärkt somit den Eindruck eines sehr steinigen Weges zu möglichen OSCAR-Ehren. Ähnlich sieht es bei Martin McDonaghs "Three Billboards Outside Ebbing, Missouri" (94% bei Rotten Tomatoes) mit Frances McDormand, der Indie-Tragikomödie "The Bick Sick" (98%) und dem Eiskunstlauf-Biopic "I, Tonya" (92%) mit Margot Robbie aus, zumal alle auch nicht bei der Top 10 der Independent-Filme gelistet sind (die ich hier nicht eigens aufführe). Auch Kathryn Bigelows recht kontrovers diskutiertes Rassismus-Drama "Detroit" wird sich schwer tun.
Die Top 5 der fremdsprachigen Filme (außer "Foxtrot"):
- "Eine fantastische Frau", Chile
- "Frantz", Frankreich/Deutschland
- "Loveless", Rußland
- "Sommer 1993", Spanien
- "The Square", Schweden
Der deutsche OSCAR-Beitrag "Aus dem Nichts" von Fatih Akin fehlt, dafür ist die deutsche Koproduktion "Frantz" mit dabei, die allerdings nicht bei den OSCARs gewählt werden kann. Cannes-Gewinner "The Square", "Loveless" und "Eine fantastische Frau" haben dagegen gute Chancen, auch bei den Academy Awards nominiert zu werden, "Sommer 1993" hat zumindest Außenseiterchancen.
Alle Gewinner und Bestenlisten gibt es auf der NBR-Homepage nachzulesen.
Abschließend will ich erwähnen, daß wenige Tage vor den NBR Awards bereits die Gotham Awards vergeben wurden. Die sind zwar nur bedingt aussagekräftig, weil sie sich komplett auf unabhängig produzierte Filme beschränken; jedoch haben die letzten drei Gewinner ("Birdman", "Spotlight", "Moonlight") dann ebenso den OSCAR für den besten Film des Jahres gewonnen! Daß sich diese bemerkenswerte Serie 2018 fortsetzen wird, glaube ich aber nicht, denn dafür scheint mir Luca Guadagninos ("I Am Love", "A Bigger Splash") sinnliches, im Italien der frühen 1980er Jahre spielendes Coming of Age-Drama über die Liebe zwischen einem 17-Jährigen (der NBR-Breakthrough-Gewinner Timothée Chalamet) und einem 24-Jährigen (Armie Hammer) bei allen Kritiker-Lobeshymnen thematisch doch etwas zu speziell für die trotz Auffrischung immer noch recht konservative Academy; aber einige Nominierungen sollte es auf jeden Fall geben.
Alle Gewinner gibt es auf der Gotham Independent Film Awards-Homepage.
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