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In eigener Sache: Mein neues Filmbuch

Einigen Lesern ist bestimmt aufgefallen, daß ich in der rechten Spalte meines Blogs seit längerer Zeit das Cover meines neuen Buchs präsen...

Samstag, 16. September 2017

Nachruf: Harry Dean Stanton (1926-2017)

Nein, man kann nicht wirklich behaupten, daß Harry Dean Stanton ein schöner Mann war. Was man dagegen sehr wohl konstatieren kann, sogar muß, ist, daß dieser Harry Dean Stanton ein ungemein prägnantes, unverwechselbares Aussehen hatte, das ihn geradezu für seine vielen Charakterrollen prädestinierte. Die hochgewachsene, hagere Gestalt mit dem langen, schmalen und zerfurchten Gesicht und den ausdrucksstarken Augen, deren Blick irgendwie immer etwas Trauriges an sich hatte, mag dafür gesorgt haben, daß er nur wenige Hauptrollen erhielt. Doch daß er meist "nur" in Nebenrollen glänzen durfte, ist ob seines Könnens zwar bedauerlich, es macht sein schauspielerisches Vermächtnis aber keinesfalls kleiner. Am 15. September 2017 verstarb der US-Schauspieler mit 91 Jahren in Los Angeles friedlich im Schlaf.

Es dauerte mehrere Jahrzehnte, bevor der Name Harry Dean Stanton tatsächlich nicht nur den allergrößten Filmfreaks ein Begriff war. Dabei ist mangelnder Fleiß das Letzte, was man dem im Zweiten Weltkrieg in der Navy dienenden Stanton vorwerfen kann. Ab Mitte der 1950er Jahre war er quasi im Dauereinsatz, zunächst vorwiegend als Westerndarsteller in kleinen Rollen in Filmen wie Michael Curtiz' "Der stolze Rebell" (1958), Monte Hellmans "Ritt im Wirbelwind" (1966) oder Jerry Thorpes "Totem" (1968), vor allem aber als (wiederkehrender) Gastdarsteller in TV-Serienklassikern wie "Bonanza", "Rauchende Colts", "Abenteuer im wilden Westen", "Die Leute von der Shiloh Ranch" oder "Tausend Meilen Staub" (heutzutage wohl besser bekannt unter dem Originaltitel "Rawhide", dessen Titelmusik auch jüngeren Generationen durch ihre Verwendung in "Blues Brothers" bekannt ist). Ab Ende der 1960er Jahre konnte Stanton auch vermehrt in anderen Genres punkten, er bereicherte spätere Klassiker wie Stuart Rosenbergs Gefängnisdrama "Der Unbeugsame" (1967, an der Seite von Paul Newman), Norman Jewisons Rassismus-Polizeithriller "In der Hitze der Nacht" (1967, neben Sidney Poitier) oder Brian G. Huttons schwarzhumorige Kriegskomödie "Stoßtrupp Gold" (1970) mit Clint Eastwood sowie Francis Ford Coppolas "Der Pate, Teil II" (1974) und Dick Richards' Film noir "Fahr zur Hölle, Liebling" (1975) mit Robert Mitchum, in denen er selbst kleinste Rollen (in "Der Pate, Teil II" hat er als FBI-Agent nicht einmal einen Namen) so ausdrucksstark spielt, daß sie in Erinnerung bleiben. Gleichzeitig blieb er aber auch dem Western treu und agierte in Sam Peckinpahs "Pat Garrett jagt Billy the Kid" (1973) und Arthur Penns "Duell am Missouri" (1975), in dem er an der Seite der Leinwandlegenden Jack Nicholson und Marlon Brando sogar eine große Nebenrolle innehatte.

Der wirkliche Durchbruch gelang Harry Dean Stanton erst in seinen Fünfzigern, maßgeblich daran beteiligt war neben John Hustons schrulligem Charakterdrama "Der Ketzer" Sir Ridley Scotts ebenfalls 1979 veröffentlichter "Alien". Der Weltraum-Horrorklassiker hob sich von vielen vorangegangenen Science Fiction-Filmen bekanntlich primär durch seinen "blue collar"-Ansatz ab, bei dem die siebenköpfige Raumschiffcrew ungewohnt unglamourös gewissermaßen als hart arbeitende Weltraum-Handwerker dargestellt werden. Besonders Harry Dean Stanton und Yaphet Kotto personifizieren diese blue collar-Mentalität in ihren Rollen als die hemdsärmeligen Raumschiffingenieure Brett und Parker, die meist in den dunklen, unwirtlichen Eingeweiden des Raumschiffs Nostromo tätig sind und die niedrigsten Ränge in der Crew bekleiden. Stanton und Kotto erden die futuristische Handlung mit ihren bodenständigen Figuren, mit denen sich viele Zuschauer vermutlich stärker identifizieren können als mit den üblichen strahlenden Science Fiction-Helden, weshalb man bei ihrem unvermeidlichen grausigen Tod auch mehr mitleidet als es sonst im Genre bei Nebenfiguren der Fall ist, die von Anfang an als Kanonenfutter erkennbar sind. In den Jahren nach diesem Meilenstein folgten für Stanton weitere gute Nebenrollen in Howard Zieffs Militärkomödie "Schütze Benjamin" (1980) mit Goldie Hawn, John Carpenters dystopischem Actionfilm "Die Klapperschlange" (1981) mit Kurt Russell und Carpenters Auto-Horrorfilm "Christine" (1983), in Alex Cox' originellem humoristischen Low Budget-Sci-Fi-Thriller "Repoman" (1984) durfte er sich sogar über eine der beiden Hauptrollen freuen.

Im gleichen Jahr setzte Harry Dean Stanton den schauspielerischen Höhepunkt seiner Karriere - dank eines Deutschen. Wim Wenders, damals so ziemlich auf dem qualitativen Zenit seiner Laufbahn (sein vorheriger Film "Der Stand der Dinge" wie auch vor allem der nachfolgende "Der Himmel über Berlin" sind unbestrittene Meisterwerke der Filmgeschichte), engagierte Stanton für die Hauptrolle in seinem nachdenklichen Road Movie "Paris, Texas" nach einer Vorlage des Theaterautors und Schauspielers Sam Shepard - der Stanton die Rolle übrigens nach einem zufälligen Treffen höchstpersönlich verschaffte! Die Hauptfigur Travis ist ein ausgemergelter und recht heruntergekommen wirkender Mann mittleren Alters. Eine Rolle wie geschaffen für den stets einen Hauch von Melancholie ausstrahlenden Harry Dean Stanton, denn Travis ist auf der Suche nach seiner großen Liebe Jane (Nastassja Kinski), mit der er einst trotz des großen Altersunterschieds glücklich war, ehe alles den Bach runterging ... Stanton selbst sagte, daß dies endlich die Art von Charakter war, die er immer spielen wollte und für die sich die vielen Jahre voller nicht sonderlich gut bezahlter Nebenrollen gelohnt haben. Daß das nicht nur so dahergeredet war, erkennt jeder, der "Paris, Texas" sieht: Stanton verkörpert Travis mit einer Leidenschaft und Intensität, daß es für jeden Anhänger großen Schauspielerkinos eine wahre Freude ist. Auszeichnungen gab es dafür unverständlicherweise trotzdem nicht, dafür war die Rolle des eher stoischen und wortkargen Travis wohl einfach nicht spektakulär genug.

Trotz des großen Kritikererfolges von "Paris, Texas" wurde Harry Dean Stanton fortan aber kein Hauptdarsteller-Material, doch konnte er seinen Ruf als exzellenter, vielseitiger Nebendarsteller zementieren und mit Kult-Filmemachern wie Martin Scorsese ("Die letzte Versuchung Christi", 1988), David Lynch ("Wild at Heart", 1990; "Twin Peaks - Der Film", 1992; "Inland Empire", 2006), Terry Gilliam ("Fear and Loathing in Las Vegas", 1998) und Frank Darabont ("The Green Mile", 1999) zusammenarbeiten, auch als fürsorglicher Vater der von Molly Ringwald ikonisch verkörperten Protagonistin in Howard Deutchs High School-Komödienklassiker "Pretty in Pink" (1986) und in Sean Penns grimmiger Dürrenmatt-Verfilmung "Das Versprechen" (2001) mit Jack Nicholson überzeugte er. 2006 kehrte Stanton ins Fernsehen zurück als der "Prophet" Roman Grant in den ersten vier Staffeln der gefeierten HBO-Sektenserie "Big Love", doch auch im Kino tauchte er immer wieder einmal unerwartet für wenige Szenen auf, so in Joss Whedons Marvel-Spektakel "The Avengers" (als Wachmann, der Bruce Banner nach dessen Rückverwandlung in seine menschliche Form nach dem unglücklich verlaufenen Kampf als Hulk gegen Loki findet), in Martin McDonaghs "7 Psychos" oder in Kim-Jee woons "The Last Stand" (2013). Irgendwie ist es auch passend, daß einer seiner letzten Auftritte vor der Kamera in der sehr späten TV-Fortsetzung von David Lynchs "Twin Peaks" stattfand, in der Stanton 2017 in fünf Episoden als Campingplatz-Besitzer Carl Rodd auftrat. In seinem letzten Kinofilm, dem Selbstfindungsdrama "Lucky", das in den USA zwei Wochen nach seinem Tod in die Kinos kommt und von dem Regisseur John Carroll Lynch als "Liebesbrief an Harry Dean Stantons Karriere" bezeichnet wird, spielt dieser ein letztes Mal eine Hauptrolle - und erhält dafür viel Lob von den Kritikern.

Die IMDb zählt genau 199 Filme und TV-Serien auf, in denen der bis zuletzt fleißige Stanton auftrat, und ich gebe es gerne zu: Ihn in einer kleinen Rolle auf der Kinoleinwand zu entdecken, wurde für mich über die Jahre hinweg so alltäglich, daß ein kleiner, irrationaler Teil von mir fest überzeugt war, Harry Dean Stanton würde ewig leben und schauspielern. Bedauerlicherweise lag er falsch.

R.I.P.
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