Die Independent Spirit Awards sind jedes Jahr der erste echte Vorbote der Awards Season, die ab Ende November oder Anfang Dezember mit den Kritikerpreisen richtig in Fahrt kommt. Die Aussagekraft der Spirit Awards für die ganz großen Preisverleihungen, also speziell die Golden Globes und die OSCARs, ist zwar durch den Fokus auf maximal $20 Mio. teure, unabhängig produzierte Filme begrenzt, aber gerade durch die strengen Regeln können kleine Produktionen ohne die ganz große PR-Macht im Rücken dringend benötigte Aufmerksamkeit erlangen, die sie im Idealfall bis zur OSCAR-Verleihung tragen kann (prominente Beispiele der letzten Jahr sind etwa "Raum" oder "Beasts of the Southern Wild"). Der 2016er-Jahrgang der Spirit Awards kann schon bei den Nominierungen mit einigen Überraschungen aufwarten, dazu zählt auch, daß das dreistündige Coming of Age-Roadmovie "American Honey" die meisten Nennungen erreicht, nämlich sechs. Dahinter folgen die deutlich höher eingeschätzten "Manchester by the Sea" und "Moonlight" mit je fünf Nominierungen (wobei bei "Moonlight" noch ein Sonderpreis für das Ensemble dazukommt). Schwächer als erwartet schnitten die hochgelobten "Loving" und "Hell or High Water" ab, sogar komplett leer aus gingen Jim Jarmuschs "Paterson" und Richard Linklaters "Everybody Wants Some!!". Für Freude bei anspruchsvollen deutschen Kinogängern dürfte übrigens sorgen, daß fast alle hier genannten Filme bei uns erst noch ins Kino kommen (einzige größere Ausnahme ist "American Honey"), es gibt also viele Gründe zur Vorfreude ...
Damit zu den Nominierungen in den wichtigsten Kategorien, mitsamt kurzer Analyse speziell hinsichtlich der OSCAR-Chancen:
Bester Film:
- American Honey
- Chronic
- Jackie
- Manchester by the Sea
- Moonlight
Obwohl "American Honey" der große und ziemlich unerwartete Gewinner dieser Spirit Award-Nominierungen ist, dürften die OSCAR-Chancen ziemlich gering sein. Vielleicht eine Drehbuch-Nominierung, mehr kann ich mir kaum vorstellen. Deutlich besser sieht es für "Jackie" und das intensive Sozial- und Familiendrama "Manchester by the Sea" aus und für den hier unerwartet übergangenen Liebesfilm "Loving" (über ein gemischtrassiges Ehepaar in den 1960er Jahren). Das Drama "Moonlight" (über einen jungen homosexuellen Schwarzen) dürfte sich wohl eher in "American Honey"-Gefilden bewegen, während "Chronic" (ein Drama mit Tim Roth in der Rolle eines Krankenpflegers) chancenlos ist.
Regie:
- Andrea Arnold, "American Honey"
- Barry Jenkins, "Moonlight"
- Pablo Larraín, "Jackie"
- Jeff Nichols, "Loving"
- Kelly Reichardt, "Certain Women"
Da in dieser Kategorie bei den OSCARs meist Regisseure größerer Filme nominiert werden, dürfte es diese fünf Filmemacher schwierig werden. Die besten Aussichten sehe ich für Barry Jenkins und den hier überraschend übergangenen "Manchester by the Sea"-Regisseur Kenneth Lonergan, Außenseiterchancen haben Nichols und Larraín.
Drehbuch:
- Barry Jenkins, "Moonlight"
- Kenneth Lonergan, "Manchester by the Sea"
- Mike Mills, "20th Century Women"
- Ira Sachs und Maricio Zacharias, "Little Men"
- Taylor Sheridan, "Hell or High Water"
Da es bei den OSCARs zwei Drehbuch-Kategorien gibt (adaptiertes und Original-Drehbuch) und dabei häufig storylastige Independent-Filme berücksichtigt werden, stehen die Chancen gut, daß wir zumindest zwei oder drei bei den Academy Awards wiedersehen - wobei es sich bei den hier Nominierten jedoch allesamt um Originaldrehbücher handelt. "Manchester by the Sea" und "Moonlight" haben wohl die besten Chancen, aber auch der Neo-Western "Hell or High Water" von Taylor Sheridan (der bereits dieses Jahr für sein "Sicario"-Drehbuch ein OSCAR-Nominee war) und "20th Century Women" sind durchaus gut im Rennen; an "Little Men" glaube ich weniger.
Hauptdarsteller:
- Casey Affleck, "Manchester by the Sea"
- David Harewood, "Free in Deed"
- Viggo Mortensen, "Captain Fantastic"
- Jesse Plemons, "Other People"
- Tim Roth, "Chronic"
Casey Affleck gilt als fast schon gesetzt bei den OSCAR-Nominierungen, von den übrigen hat wohl nur Mortensen kleine Außenseiterchancen. Besser sieht es für "Loving"-Hauptdarsteller Joel Edgerton aus, dessen Nichtnominierung bei den Spirit Awards für ihn aber sicherlich nicht hilfreich ist.
Hauptdarstellerin:
- Annette Bening, "20th Century Women"
- Isabelle Huppert, "Elle"
- Sasha Lane, "American Honey"
- Ruth Negga, "Loving"
- Natalie Portman, "Jackie"
Diese Kategorie ist in diesem Jahr extrem stark besetzt, bis auf Sasha Lane haben alle Spirit-Nominees sehr reelle OSCAR-Chancen. Natalie Portman sollte für ihre Verkörperung von Jackie Kennedy in den Tagen nach der Ermordung ihres Ehemannes JFK die OSCAR-Nominierung so gut wie sicher haben, Bening, Negga und Huppert haben gute Aussichten. Aber wie gesagt: Die Konkurrenz ist sehr groß (und umfaßt u.a. Amy Adams, Emma Stone, Meryl Streep, Sally Field und Jennifer Lawrence) ...
Nebendarsteller:
- Ralph Fiennes, "A Bigger Splash"
- Ben Foster, "Hell or High Water"
- Lucas Hedges, "Manchester by the Sea"
- Shia LaBeouf, "American Honey"
- Craig Robinson, "Morris aus Amerika"
Foster, Hedges und Fiennes haben eine kleine Chance auf eine OSCAR-Nominierung, LaBeouf und Robinson sehr wahrscheinlich nicht. Von den hier nicht Nominierten kommen auch Fosters "Hell or High Water"-Kollege Jeff Bridges und "Moonlight"-Darsteller Mahershala Ali in Frage.
Nebendarstellerin:
- Edwina Findley, "Free in Deed"
- Paulina Garcia, "Little Men"
- Lily Gladstone, "Certain Women"
- Riley Keough, "American Honey"
- Molly Shannon, "Other People"
Größte Überraschung ist hier das Fehlen von Michelle Williams und Naomie Harris, die für ihre Rollen in "Manchester by the Sea" respektive "Moonlight" als sehr wahrscheinliche OSCAR-Nominees gelten. Bei den Nebendarstellerinnen gibt es gerne mal eine Überraschung, dennoch sind alle fünf Außenseiterinnen bei den großen Preisverleihungen, die besten Aussichten dürfte Molly Shannon haben.
Internationaler Film:
- "Aquarius", Brasilien
- "Chevalier", Griechenland
- "My Golden Days", Frankreich
- "Toni Erdmann", Deutschland
- "Under the Shadow", Iran/Großbritannien
"Aquarius" und "My Golden Days" wurden von ihren Ländern nicht für die OSCARs (wo ja nur ein Film pro Land antreten darf) gemeldet. "Chevalier" ist ein krasser Außenseiter, "Under the Shadow" dürfte es auch schwer haben - "Toni Erdmann" ist hingegen klarer Favorit. Wobei das bei der Auslandskategorie nicht viel heißen muß, Favoritenstürze sind da nämlich fast schon Tradition bei den Academy Awards ...
Sämtliche Nominierungen gibt es auf der Homepage der Independent Spirit Awards.
In den nächsten Wochen und Monaten bis zur OSCAR-Verleihung am 26. Februar 2017 werde ich weiterhin ausführlich über die einzelnen Wegmarken berichten, wobei ich es bei kleineren bzw. wenig überraschenden Preisvergaben auch mal bei einem Tweet belassen werde.
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