Originaltitel:
The Perks of Being a Wallflower
Regie und Drehbuch: Stephen Chbosky, Musik: Michael Brook
Darsteller: Logan Lerman, Emma Watson, Ezra Miller, Nina
Dobrev, Dylan McDermott, Kate Walsh, Paul Rudd, Mae Whitman, Joan Cusack, Erin
Wilhelmi, Reece Thompson, Tom Savini, Melanie Lynskey, Johnny Simmons, Nicholas
Braun, Adam Hagenbuch

Als der schüchterne Charlie (Logan Lerman), jüngstes von drei Geschwistern, um 1990 herum
auf die Highschool kommt, ist es nicht gerade so, als hätten seine neuen
Mitschüler auf ihn gewartet. Charlie wird vereinzelt schikaniert, bestenfalls
ignoriert, bis er das etwas ältere und ziemlich merkwürdige Stiefgeschwisterpaar
Patrick (Ezra Miller) und Sam (Emma Watson) kennenlernt und durch die beiden
Zugang zu einer Art Außenseiterclique in der Schule erhält. Natürlich kommt es,
wie es kommen muß, und Charlie verliebt sich unsterblich in die schöne Sam. Die
allerdings ist mit dem pseudointellektuellen Kunststudenten Craig (Reece
Thompson, "Lange Beine, kurze Lügen") liiert, obwohl sie ihn nicht wirklich liebt. Doch sind Liebeswirren
bei weitem nicht das einzige, womit sich Charlie herumschlagen muß, denn er
trägt schwer an der Erinnerung an schicksalhafte Ereignisse aus seiner
Vergangenheit, von denen seine neuen Freunde und das Publikum erst nach und
nach erfahren ...
Kritik:
Kurz vor Ende von "Vielleicht lieber morgen" sagt
Charlie sinngemäß: Es gibt Menschen, die vergessen an ihrem 17.
Geburtstag, wie es ist, 16 Jahre alt zu sein. Und er gibt damit eine perfekte
negative Zielgruppenbeschreibung ab. Stephen Chboskys Verfilmung seines leicht
autobiografisch gefärbten Briefromans (der auf Deutsch zunächst unter dem eleganteren Titel
"Das also ist mein Leben" erschien) richtet sich nämlich ganz eindeutig an
Menschen jeden Alters, die sich daran erinnern können und vor allem auch
wollen, wie es ist, so jung zu sein – mit allem, was dazugehört; all den scheinbar
bleischweren existenziellen Problemen, all den unfaßbaren Glücksmomenten, schlicht
der gesamten emotionalen Achterbahnfahrt, die jeder Teenager durchlebt.
Daß ein Romanautor ohne größere Erfahrung in der Filmbranche
– abgesehen davon, daß er Mitschöpfer der recht kurzlebigen TV-Serie
"Jericho – Der Anschlag" war, hat er lediglich das Drehbuch zu Chris
Columbus' gefloppter Musical-Verfilmung "Rent" beigesteuert und
vereinzelt als Produzent fungiert – seinen eigenen Erfolgsroman verfilmen darf,
ist nicht gerade alltäglich. Doch die Produzenten, die sich die Filmrechte sicherten (darunter auch der Schauspieler John Malkovich), wollten genau
das und konnten Chbosky tatsächlich dazu überreden, sowohl die Umarbeitung in ein Drehbuch
als auch die Regie zu übernehmen. Eine mutige Entscheidung aller
Beteiligten, die sich zweifellos rentiert hat. Zwar ist Chboskys
Inszenierung streng genommen nicht viel mehr als solide – das reicht aber
vollkommen aus, da die Tragikomödie ihre großen inhaltlichen Stärken voll
ausspielen kann. Kein Wunder, wer wüßte schließlich besser als der Autor
selbst, worauf es in seiner Story besonders ankommt? Und wer könnte passendere
Schauspieler für jene Figuren finden, die in seinem Kopf entstanden sind, als
Stephen Chbosky? Wohl niemand, und so zählt die Besetzung zu den ganz großen
Stärken dieser klassischen Außenseiterballade.
Glücklicherweise hat Chbosky seine Hauptdarsteller nicht nur
nach Aussehen ausgewählt, denn die erstaunliche emotionale Tiefe und
Komplexität speziell der drei zentralen Charaktere fordert den Akteuren großes
schauspielerisches Können ab. Eine Aufgabe, der Logan Lerman, Emma Watson und Ezra
Miller spielerisch gewachsen sind. Lerman, bekannt geworden vor allem durch seine
Hauptrollen in den nicht übermäßig anspruchsvollen Abenteuerfilmen "Percy
Jackson – Diebe im Olymp" und "Die drei Musketiere",
interpretiert Charlie nicht einfach nur als irgendein jugendliches Mauerblümchen. Vielmehr bringt er das Publikum dazu, mit Charlie zu fühlen, zu lachen und auch zu
weinen, als Stück für Stück die ihn quälenden traumatischen Erfahrungen, die
sein ganzes Wesen beherrschen und vor deren Auswirkungen er selbst sich am meisten fürchtet, enthüllt werden. Ähnliches gilt für Emma Watson, die sich bereits mit ihrer
Nebenrolle in "My Week with Marilyn" von ihren Anfängen als
Kinderstar emanzipiert hat und hier Sam als eine atemberaubende junge Dame
verkörpert, die trotz ihrer Schönheit und Intelligenz wie so viele Teenager von notorischer Unsicherheit geplagt wird. Wohl sogar noch ein kleines Stückchen besser
als Lerman und Watson ist derweil Ezra Miller, der 2011 als Schul-Amokläufer in
Lynne Ramsays "We need to talk about Kevin" beeindruckte, in seinem Schauspielstil
ein wenig an Joseph-Gordon Levitt ("Looper") erinnert und als Patrick mit einer
ungemein charismatischen Performance aufwartet. Die ebenfalls gut besetzten
erwachsenen Darsteller (darunter "Vampire Diaries"-Star Nina Dobrev als Charlies ältere Schwester Candace und Paul Rudd als sein Lieblingslehrer Mr. Anderson) ergänzen dieses zentrale Trio wohltuend unaufgeregt, sie
unterstützen es gekonnt, bleiben aber stets im Hintergrund.
Wer wie ich das Buch nicht kennt und nur den (guten) Trailer
gesehen hat, der wird im Verlauf der Handlung mit einigen
recht heftigen Überraschungen konfrontiert. Denn anders als erwartet befaßt sich Chbosky
keineswegs nur mit den obligatorischen Teenager-Problemen, sondern fährt richtig
heftige Geschütze auf. Themen wie sexueller Mißbrauch, Gewalt gegen Frauen,
Depressionen und Diskriminierung von Minderheiten erwartet man in einer an der
Highschool spielenden Tragikomödie vielleicht vereinzelt, aber ganz bestimmt
nicht in dieser geballten Form. Tatsächlich wirkt es in einem 100-Minuten-Film sogar ein wenig unglaubwürdig, daß fast jeder aus Charlies auf den ersten Blick relativ normal
wirkendem Freundeskreis ein schweres Los mit sich trägt. Statistisch dürfte das
recht unwahrscheinlich sein, dennoch packt Chbosky all das in seine bewegende
Geschichte. Ein großes Verdienst ist dabei die Art und Weise, wie er es tut, denn
obwohl diese Themen zwangsläufig relativ kurz abgehandelt werden, geschieht es
doch mit großer Ernsthaftigkeit und Empathie. Letztere läßt sich auch an den gar nicht so seltenen
Momenten ablesen, in denen Chbosky seine jungen Helden in für die Teenager-Zeit
wohl unvermeidliche potentiell höchst peinliche Situationen manövriert, abgesehen von einer kleinen, dramaturgisch notwendigen Ausnahme aber der Versuchung widersteht,
nach billigen Fremdschäm-Lachern zu fischen. Man merkt: Seine Figuren sind
nicht einfach nur Mittel zum Zweck, sondern liegen ihm unübersehbar am Herzen.
Die Schüler und ihre Probleme wirken auch dank der prägnanten und klugen Dialoge aus Chboskys Feder einfach "echt". Deshalb kann man
sich selbst dann mit ihnen identifizieren, wenn man kaum Gemeinsamkeiten mit
ihnen hat. Ganz besonders trifft das natürlich auf jene Zuschauer zu, die (wie
ich) in etwa zur gleichen Zeit die Schule besucht haben und das damalige
Lebensgefühl (mit allgegenwärtigen Mixtape-Kassetten, aber ohne Handys oder Internet!) nachempfinden können, doch im Grunde
genommen sollte die Geschichte universell und zeitlos sein.
Ich weiß, daß es viele Zuschauer gibt, die sich bei modernen
Jugendfilmen wie Jason Reitmans "Juno" daran stören, daß deren
Protagonisten so unwahrscheinlich "hip" sind; hippe Klamotten tragen,
hip sprechen, hippe Musik hören. Also genau so sind wie in der Realität die
wenigsten Teenager. Diejenigen kann ich beruhigen: Auch in diesem Bereich gibt
sich "Vielleicht lieber morgen" bodenständig. Charlie, Patrick,
Sam und ihre Außenseiterfreunde sind zwar ein bißchen hip, aber nicht so
richtig. Sie performen einerseits regelmäßig bei Vorführungen der kultigen
"Rocky Horror Picture Show" – wobei ich mir ehrlich gesagt nicht ganz sicher bin, ob das jemals der Definition von "hip" entsprach –, haben andererseits aber keine Ahnung, was
sie da hören, als im Radio David Bowies "Heroes" läuft. Entsprechend
ist auch die musikalische Untermalung von "Vielleicht lieber morgen"
eine erfreulich stimmige Kombination aus eher mainstreamigen Liedern (wie "Temptation"
von New Order, "Don't dream it's over" von Crowded House oder "Come on Eileen" von Dexys Midnight Runners) und
unbekannteren Independent-Songs.
Übrigens hat Stephen Chbosky es sogar geschafft, das zentrale Merkmal eines Briefromans auf die Leinwand hinüberzuretten, indem er wiederholt
Charlie in Briefen an einen ungenannten Freund (der letztlich auch für das
Publikum steht) über seine Erlebnisse und seine Gefühlswelt reflektieren läßt.
Ebenso wie man als Zuschauer nach Verlassen des Kinos noch eine Zeitlang
das Gesehene nachdenklich Revue passieren läßt und mit den eigenen Jugend-Erfahrungen
vergleicht.
Fazit: "Vielleicht lieber morgen" ist eine wunderbar poetische,
melancholisch-nostalgische Tragikomödie mit einer einfühlsamen und trotz eines
beträchtlichen Humoranteils unerwartet ernsten Handlung, glaubwürdigen,
zutiefst sympathischen Protagonisten und einer nahezu perfekten Besetzung. In nicht allzu ferner Zukunft wird "Vielleicht lieber morgen" mit großer Wahrscheinlichkeit neben Klassikern wie "Der Club der toten Dichter", "Ferris macht blau",
"American Graffiti", "Der Frühstücksclub" oder "Der Eissturm" zu den besten Coming of Age-Filmen überhaupt gezählt werden.
Wertung: 9 Punkte.
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