Ich muß zugeben: Von den großen Namen der französischen Nouvelle Vague (Truffaut, Chabrol, Rivette, Rohmer, Malle) ist Jean-Luc Godard derjenige, mit dessen Werken ich persönlich am wenigsten anfangen kann. Dabei sollte Godard für mich - als jemand, der wenig mehr liebt als Filme, die überraschen und Genrekonventionen aufbrechen - eigentlich genau der richtige Filmemacher sein. Trotzdem: Es gibt zwar viele, vor allem nicht-inhaltliche Dinge an Godards Werken, die ich aufrichtig bewundern kann, doch emotional hat er mich mit seiner ungebremsten Experimentierfreude fast nie gepackt. Natürlich steht aber außer Frage, daß Godard mit seinen Kollegen - und aufgrund seiner Radikalität vielleicht sogar noch etwas mehr als diese - das europäische Kino revolutioniert hat und zu Recht in die Kinogeschichte eingangen ist. Nun ist Jean-Luc Godard mit 91 Jahren in der Schweiz als letzter der großen Nouvelle Vague-Macher gestorben (mit Jacques Rozier und Jean-Marie Straub sind zwei unbekanntere Vertreter der Bewegung noch am Leben).
Wie etliche seiner Mitstreiter begann auch Godard als Filmkritiker, ehe er es hinter der Kamera besser und vor allem anders machen wollte und zu einem der führenden Vertreter der sogenannten Auteur-Theorie wurde (im Unterschied zum bis dahin dominierenden "Produzentenkino"). Das gelang ihm gleich mit seinem ersten Langfilm vortrefflich, denn "Außer Atem" (1960) sollte sein wohl bekanntester Film bleiben. Dabei beeindruckt die mit Jean-Paul Belmondo und Jean Seberg in den Hauptrollen besetzte Hommage auf den US-amerikanischen Film noir mit einer völlig neuen Handkamera-Ästhetik, unkonventionellen Schnitttechniken, dem Durchbrechen der Vierten Wand (also der direkten Ansprache der Zuschauer durch die Filmhelden) und einem scheinbar wahllosen Hin- und Herspringen in der Chronologie - kurzum, mit einer ungezügelten Lust am Brechen sämtlicher ungeschriebener Filmregeln! Das Resultat ist zweifellos revolutionär und aufregend, aber auch alles andere als ein leichter Filmgenuß - abgesehen von der aufgrund der vielen Zeitsprünge verwirrenden Story liegt das vor allem an der emotionalen Distanz zu den beiden Protagonisten. Ich bin jedenfalls kein Fan des Films und wenngleich mich kein Godard-Film restlos zu begeistern wußte, gibt es eine ganze Reihe, die mir erheblich besser gefallen haben als "Außer Atem". Beispielsweise "Die Geschichte der Nana S." (1962). Das einfallsreiche, dialogstarke episodische Filmessay über eine junge Pariser Prostituierte (Anna Karina) läßt das Publikum deutlich näher an seine ambivalente "Heldin" herankommen und beeindruckt mit geschliffenen Texten.
Generell drehte Godard in den 1960er Jahren wie ein Besessener. Alleine zwischen 1960 und 1962 schuf er mit "Außer Atem", "Der kleine Soldat", "Eine Frau ist eine Frau" und "Die Geschichte der Nana S." vier Filme, die heute als Klassiker gelten, bis Ende der 1960er Jahre ließ er in seinem Drehtempo kaum nach. Besonders viel Aufmerksamkeit erregte 1963 die im Filmbusiness angesiedelte und mit unzähligen Filmzitaten gespickte Romanverfilmung "Die Verachtung" mit Brigitte Bardot, Michel Piccoli, Fritz Lang und Jack Palance. Zu meinen Favoriten gehört auch die Gangsterparodie "Die Außenseiterbande" (1964) mit Anna Karina (mit der Godard ein paar Jahre lang verheiratet war) und Sami Frey, 1965 versuchte sich Godard mit "Lemmy Caution gegen Alpha 60" sogar an einem waschechten Science Fiction-Film (und gewann dafür in Berlin den Goldenen Bären). Mit dem Liebesdrama "Elf Uhr nachts" (auch unter dem Originaltitel "Pierrot le fou" bekannt) mit Jean-Paul Belmondo und Anna Karina feierte Godard einen seiner größten Publikumserfolge und mit "Weekend" (1967) schuf er einen etwas holprigen, aber phasenweise atemberaubenden (eine ungeschnittene zehnminütige Kamerafahrt ging völlig zu Recht in die Filmgeschichte ein) Experimentalfilm, der ein wenig an den Surrealisten Luis Buñuel erinnert.
An seine großen Erfolge der 1960er Jahre konnte Jean-Luc Godard in den folgenden Jahrzehnten nie mehr anknüpfen, auch wenn er bis zuletzt ein populärer Festivalgast blieb - tatsächlich dürfte es selbst für viele Filmkenner schwierig sein, sich spontan an einen Godard-Film ab 1970 zu erinneren. Am ehesten sorgten noch seine Dokumentarfilme für Aufsehen, von denen sich viele wie "JLG/JLG - Godard über Godard" (1994) oder "Geschichte(n) des Kinos" (1998) mit dem Filmemachen selbst beschäftigten. Godards letzter Film war 2018 die experimentelle Doku "Bildbuch". Über die Jahrzehnte hinweg gewann Godard zahllose Auszeichnungen u.a. in Cannes, Berlin und Venedig, bei den OSCARs blieben seine Werke allerdings unberücksichtigt - erst 2010 erhielt Godard zumindest den Ehren-OSCAR für sein Lebenswerk.
Am 13. September 2022 starb Jean-Luc Godard, der seit Beginn der 1970er Jahre in der Schweiz lebte, in der dortigen Gemeinde Rolle durch begleiteten Suizid. R.I.P.
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